Читать книгу Die Frau mit dem zweiten Gesicht - Marie Louise Fischer - Страница 7
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ОглавлениеMarie hatte keine Lust, mit Paul Sanner auszugehen; sie versprach sich nichts davon. Aber sie wußte nicht, wie sie ihn abwimmeln konnte. Kopfschmerzen oder eine dringende Arbeit vorzuschützen schien ihr unredlich und billig. Also hoffte sie inständig, daß er sich nicht melden würde.
Aber als das Telefon dann nicht zur erwarteten Zeit klingelte, war sie überrascht über die leichte Enttäuschung, die sie empfand. Es fiel ihr plötzlich schwer, weiter an der Skizze ihres Bruders im Krankenbett zu arbeiten, die sie gerade begonnen hatte. Fast erleichtert legte sie den Zeichenblock aus der Hand, als das Telefon dann doch noch läutete, erhob sich, stellte ihre Stereoanlage ab, nahm den Hörer auf und meldete sich.
„Tut mir leid, Marie“, sagte er als erstes, „daß ich mich verspätet habe!“
„Macht ja nichts.“
„Jetzt werden Sie mich für einen ganz unzuverlässigen Menschen halten.“
„Überhaupt nicht.“
„Aber jetzt bin ich in zehn Minuten bei Ihnen!“
„Warten Sie!“ rief sie rasch. „Sagen Sie mir bitte, was ich anziehen soll?“
„Sie sind noch nicht angezogen?“ fragte er erstaunt.
„Natürlich bin ich das. Aber nicht zum Ausgehen.“
„Hatten Sie vergessen, daß wir verabredet sind?“
„Nein. Aber ich weiß doch nicht, was Sie Vorhaben.“
„Ich habe uns einen Tisch im ,B Eins‘ reservieren lassen.“
„Was ist das?“
„Ein Lokal. Sie werden schon sehen.“
„Muß ich mich dafür schön machen?“
„Darum möchte ich doch sehr bitten. Damit ich stolz auf Sie sein kann.“
Wider Willen mußte sie lächeln. „Ich werde tun, was in meinen Kräften steht.“
„Sie brauchen sich nicht zu beeilen“, versicherte er, „ich werde warten, solange es nötig ist.“
Als sie dann, eine knappe Viertelstunde später, auf die Straße trat, sah sie tatsächlich blendend aus. Sie trug ein gutgeschnittenes Jackenkleid aus reiner Schurwolle, dessen helles Blau die Farbe ihrer Augen betonte, darunter eine weiße, mit Spitzen besetzte Bluse. Das starke Rot ihrer Lippen hatte sie mit einem hellen Stift gemildert, Wimpern und Augenbrauen getuscht und graublaue Lidschatten aufgelegt. Das blonde Haar bauschte sich um ihr klares Gesicht. Das Schönste an ihr aber war ihre porzellanglatte, schneeweiße Haut, völlig frei von Puder und Schminke.
Paul Sanner trat bei ihrem Anblick einen Schritt zurück. „Überwältigend!“ stieß er hervor.
Sie lächelte ihm zu, aber ihre Augen blieben ernst. „Ich freue mich, daß ich Ihnen gefalle.“
„Gefallen ist gar kein Ausdruck!“ Er nahm ihre Hand. „Nur eines stört mich …“
„Ja?“
„Sie sind ja einen ganzen Kopf größer als ich!“
„Stimmt nicht. Höchstens ein paar Zentimeter.“
„Trotzdem. Ziehen Sie mir zuliebe das nächste Mal keine hochhackigen Pumps an!“
„Soll ich die Schuhe wechseln?“
„Nein, nein. So wichtig ist das nun auch wieder nicht. Wir haben schon zuviel Zeit verloren.“ Er führte sie zu seinem Auto, das er schräg auf dem Bürgersteig geparkt hatte, und öffnete ihr die Tür. „Ich bin nur froh, daß ich die alte Karre heute früh innen saubergemacht habe.“
Als sie sich setzte, wobei sich ihr Rock ein wenig nach oben verschob – sie strich ihn rasch wieder hinunter –, stellte er fest, daß die hohen Absätze ihre langen Beine besonders gut zur Geltung brachten.
„Vielleicht sollte ich es mal mit Plateausohlen und hohen Absätzen versuchen“, sagte er, als er sich neben sie hinter das Steuer setzte.
„Mir zuliebe wirklich nicht. Mir sind flache Schuhe viel bequemer. Ich dachte nur, Sie hätten gewünscht …“
„Habe ich auch. Es war mein Fehler. Ist Ihnen eigentlich gar nicht aufgefallen, daß ich zu kurz geraten bin?“
Sie sah ihn von der Seite an. „Sind Sie ja gar nicht. Sie sind sehr gut proportioniert. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich spreche.“
„Es stört Sie also nicht, sich mit einem kleineren Mann sehen zu lassen?“
„Du lieber Himmel, nein! Als ob es darauf ankäme!“
Er war jetzt voll damit beschäftigt, sein Auto zurückzusetzen und in den fließenden Verkehr einzuscheren. Erst als er das geschafft hatte, fragte er: „Worauf kommt es denn an?“
„Auf den Charakter“, antwortete sie mit Bestimmtheit.
Ihn überfiel ein leichtes Unbehagen. „Ich muß Ihnen gestehen, daß der auch nicht besonders ist.“
„Was soll ich Ihnen darauf erwidern? Mir scheint, Sie fischen nach Komplimenten.“
„Das jedenfalls ist normalerweise nicht meine Art.“
Sie entschied, das Thema zu wechseln. „Sagen Sie, wo liegt das ,B Eins‘ eigentlich?“ fragte sie.
„Wie schon der Name sagt: Bismarckstraße eins.“
„Gott, bin ich dumm!“
„Man kommt nicht so leicht darauf, wenn man nicht schon dagewesen ist. Es ist gar nicht weit von hier, eine Nebenstraße der Clemensstraße. Passen Sie auf, in fünf Minuten sind wir an Ort und Stelle.“
„Ach, ich habe noch keinen Hunger.“
„Ich kenne euch Mädels. Ihr ernährt euch am liebsten nur von Joghurt, Knäckebrot und Äpfeln, und das alles nur wegen der schlanken Linie.“
„Damit hatte ich bisher noch nie Probleme.“
„Um so besser. Mit mir werden Sie tüchtig essen.“
„Ich bin zu allem bereit.“
„Sagen Sie, wie geht es Ihrem Bruder? Wir wollten heute eigentlich nicht darüber sprechen, aber ich möchte doch wissen …“
„Gut. Ich habe ihn besucht. Er ist auf dem Weg der Besserung.“
Obwohl sie bereitwillig Auskunft gegeben hatte, war etwas in ihrem Ton gewesen, das ihm riet, dieses Thema so bald nicht wieder anzuschneiden. Bisher war alles so glatt gegangen, viel leichter, als er erwartet hatte. Er mußte verhindern, daß sie ihre Abwehr gegen ihn wieder aufbaute. Also war es entschieden besser, es bei einem lockeren Geplänkel zu lassen.
„Da sind wir schon!“ verkündete er, fuhr den Wagen auf eine Parkinsel und half Marie beim Aussteigen.
Sie sah sich um. Die Straße wirkte gutbürgerlich, und auch das Restaurant lag in einem Haus, das ehemals eine private Villa gewesen sein mußte. Es hatte sogar einen winzigen Vorgarten, der von einem dunkelbraun gestrichenen Holzzaun umgeben war. „Putzig“, sagte sie.
Er nahm ihren Arm und führte sie über die Fahrbahn. „Es wird Ihnen bestimmt gefallen“, versicherte er ihr.
Nebeneinander stiegen sie zwei Stufen hinauf, dann ließ er ihren Arm los und öffnete ihr die Tür, die in einen kleinen Vorraum führte. Noch eine Tür, und sie standen im Restaurant. Vor ihnen tat sich eine gewaltige Bar auf, die sich in L-Form durch das ganze Lokal zog. Über ihr surrten zwei riesige Ventilatoren. Im Spiegel hinter ihr schimmerten alle nur denkbaren Flaschen und Gläser. Vor der Bar drängte sich junges, vergnügtes Publikum. Alle Hocker waren besetzt; einige Männer, die keinen Sitzplatz gefunden hatten, standen, das Glas in der Hand.
Paul, der vorausgegangen war, wurde mit fröhlichen Zurufen begrüßt. „Hallo, Paul!“ – „Wie geht’s dir, alter Junge?“ – „Läßt du dich auch mal wieder blikken?“
Er gab die Begrüßungen in der gleichen Tonart zurück, hatte aber im selben Augenblick das Gefühl, daß dies vielleicht doch nicht der richtige Ort war, um ein Mädchen wie Marie Forester auszuführen. Er drehte sich zu ihr um und las am Ausdruck ihrer Augen, daß sie tatsächlich mehr als überrascht, ja fast verschreckt war. Sie hatte sich nicht von der Schwelle gerührt, und die Art, wie sie ihre Handtasche hielt, wirkte verkrampft.
„Wenn wir lieber woanders hingehen sollen?“ fragte er rasch.
Einer der Männer war schon von seinem Hocker geglitten. „Setz dich, Mädchen!“ rief er Marie zu. „Was willst du trinken?“
Marie hatte sich wieder gefaßt. „Danke, nein. Ich trinke gar nichts.“
„Macht nichts. Ist ja auch gesünder. Dann also einen Orangensaft, frisch gepreßt.“
„Nett von dir, Andy!“ sagte Paul. „Aber ich denke, wir gehen gleich zu unserem Tisch. Wir haben einiges miteinander zu besprechen, und hier bei euch versteht man ja sein eigenes Wort nicht.“
Andy musterte Marie mit unverhohlener Bewunderung. „Eine neue Freundin? Da kann ich nur gratulieren.“
„Wir sehen uns vielleicht später, Andy.“ Entschlossen faßte Paul sie beim Ellenbogen und bugsierte sie an der Bar und der Ecke mit den Bistrotischen vorbei in das eigentliche Lokal, einen großen Raum, der durch eine Spiegelwand unterteilt war. Auch er war mit Bistrotischen bestückt.
Sie hörten noch, wie jemand hinter ihnen an der Bar sagte: Junges Glück! Da kannst du nichts machen!“ und das darauf folgende Gelächter.
Paul entschuldigte sich bei Marie. „Machen Sie sich nichts draus! Die Bande hat kein Benehmen.“
„Ich bin nicht so empfindlich, wie Sie vielleicht glauben“, gab sie zurück.
Er sah ihr lächelnd ins Gesicht. „Wirklich nicht? Mir kommen Sie irgendwie vor wie das berühmte Kräutchen Rührmichnichtan.“
Ein Kellner in weißem Jackett, eine lange weiße Schürze vorgebunden, kam auf sie zu. „Guten Abend, Herr Sanner! Wir haben Ihnen Ihren Lieblingstisch reserviert.“ Er wies auf einen Ecktisch unter einem großen bunten Plakat von Toulouse-Lautrec.
„Danke, Guido.“
„Wünschen Sie zu essen?“
„Deshalb sind wir hier.“
Paul zog Marie einen Stuhl zurecht, und sie setzten sich. Geschickt warf der Kellner ein blendend weißes Damasttuch über die rote Marmorplatte des Tisches.
Jetzt werden Sie den Eindruck haben, daß ich hier Stammgast bin“, sagte Paul, „aber leider habe ich gar nicht so oft Gelegenheit herzukommen, wie ich eigentlich möchte.“
„Sie scheinen furchtbar viele Leute zu kennen“, bemerkte Marie.
„Halb so wild. Als Journalist kommt man eben herum. Übrigens ist das da draußen die übliche Clique, die man überall trifft. Vorlautes junges Volk mit zu viel Geld in den Taschen.“
„Dazu gehören Sie nicht.“
Der Kellner brachte die kleine, handgeschriebene Speisenkarte und legte sie Marie und Paul vor. „Einen Aperitif?“
„Ich möchte wirklich gern einen frischgepreßten Orangensaft“, sagte Marie.
„Und mir bringen Sie bitte einen Campari Soda“, bestellte Paul.
Er zog eine Packung Zigaretten aus der Tasche seines dezent gemusterten Jacketts und bot es Marie an.
Sie schüttelte abwehrend den Kopf.
„Später?“ fragte er. „Oder gar nicht?“
„Sehr selten. Ich habe es mir nie angewöhnt.“
„Da würde mein Vater eine Freude haben! Er ist nämlich Arzt, und er verteufelt das Rauchen.“
„Ach wirklich?“
„Was überrascht Sie so daran? Es ist doch allgemein bekannt, daß Rauchen der Gesundheit schadet. Darf ich mir trotzdem eine anstecken?“
„Ja, natürlich. Ich finde es nur komisch, daß Ihr Vater Arzt ist. Meiner nämlich auch.“
„Wunderbar, Marie! Ein gutes Omen. Paul Sanner senior ist Facharzt für Hals, Nasen, Ohren. Er ist sehr enttäuscht, daß ich nicht in seine Fußstapfen getreten bin.“
„Mein Vater, Cornelius Forester, ist praktischer Arzt, ein Landarzt. Von mir hat er nie erwartet, daß ich Medizin studieren sollte, obwohl bereits sein Vater und sein Großvater dieselbe Praxis hatten. Mein Stiefbruder wird sie später übernehmen.“
„Aber er heißt nicht Forester.“
„Mein Vater wollte ihn immer adoptieren. Aber sein leiblicher Vater hat sich dagegen gesträubt, obwohl er sich ansonsten so gut wie gar nicht um Günther gekümmert hat.“
„Aber inzwischen ist er doch erwachsen, nicht wahr?“
„Ja, natürlich. Fünfundzwanzig.“
„Genau wie ich.“ Er grinste. „Ein schönes Alter!“
Der Kellner hatte die Getränke gebracht, und sie prosteten sich zu.
„Ich meine, dann könnte man die Adoption doch jetzt noch nachholen, das heißt, wenn Ihr Vater und Ihr Bruder das noch wollen. Jetzt kann ihnen keiner mehr reinreden.“
„Aber was hätte das für einen Sinn?“
„Nur wegen der Tradition. Wahrscheinlich legt Ihr Vater Wert auf so was.“
„Sie reden, als ob Sie ihn kennen.“
„Ich kann ihn mir sehr gut vorstellen. Er ist so ein richtiger Arzt der alten Schule, nicht wahr? Einer, der auch Feiertags für seine Patienten da ist und sich auch nachts aus dem Bett holen läßt.“
Marie freute sich. „Genau! Wenn der Tierarzt nicht erreichbar ist – der ist noch jung und will was vom Leben haben – hilft er sogar beim Kalben!“
Paul fand es an der Zeit, endlich etwas zu bestellen, aber er wollte das Gespräch nicht unterbrechen.
Marie war es, die vorschlug: „Ich glaube, wir sollten dem Kellner sagen, was wir essen wollen. Er ist zwar höchst diskret und rücksichtsvoll, aber allmählich muß er doch ungeduldig werden.“
„Haben Sie sich schon etwas ausgesucht?“
„Nein.“
„Worauf haben Sie denn Lust?“
„Es sollte schon etwas sein, das ich nur selten bekomme und das ich mir selbst nicht kochen kann.“
„Wie wäre es dann mit Rehmedaillons? Dazu gibt es Melonenpüree, Kartoffelkroquetten und Preiselbeeren.“
Marie stimmte zu.
„Und vorher einen Feldsalat mit Entenbrüstchen?“ schlug Paul Sanner vor.
„Nein, danke. Das ist mir zuviel.“
„Dann nehmen Sie doch eine Rehessenz! Das ist ein ganz, ganz leichtes klares Süppchen.“
„Nachher habe ich dann keinen Hunger mehr.“
„Sie brauchen es ja nicht aufzuessen!“ drängte er. „Ein paar Löffel werden Ihnen bestimmt guttun.“
Marie gab nach, mehr aus Höflichkeit, als daß sie wirklich Lust auf diese Suppe gehabt hätte. Als sie dann aber – sehr heiß – serviert worden war, schmeckte sie ihr so gut, daß sie die Tasse bis auf den Grund leerte.
„Na also“, stellte Paul Sanner voller Befriedigung fest.
„Das mit der Adoption“, nahm Marie den unterbrochenen Gesprächsfaden wieder auf, „werde ich meinem Vater vielleicht tatsächlich mal vorschlagen.“
„Sollten Sie unbedingt.“
Marie spielte mit ihrer Gabel. „Ich kann mir bloß nur schwer vorstellen, wie es für Günther sein würde, mitten im Leben den Namen zu wechseln. Auf einmal nicht mehr Grabowsky, sondern Forester zu heißen.“
„Na, wenn schon. Wenn Sie heiraten, Marie, werden Sie wahrscheinlich auch den Namen Ihres Mannes annehmen. Früher war es ja allgemein üblich, aber heutzutage nutzen manche Männer die Ehe, ihren Namen zu wechseln.“
„Daran habe ich nicht gedacht“, gab Marie zu.
„Ich an Ihrer Stelle würde jedenfalls bei Forester bleiben. Ein hübscher Name. Klingt aber weder bayrisch noch fränkisch.“
„Er soll aus dem Englischen, vielleicht auch aus dem Schottischen kommen. Jedenfalls nennen die Leute unser Haus immer noch das,Schottenhaus‘.“
„Klingt phantastisch.“
Der Kellner brachte eine Karaffe mit Rotwein und wollte einschenken.
„Mir bitte nicht!“ erklärte Marie mit Bestimmtheit und sah Paul Sanner bittend an. „Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich keinen Alkohol vertrage.“
„Ein Schlückchen wird Ihnen bestimmt nicht schaden.“
„Leider doch.“
„Ich garantiere dafür.“
„Das können Sie nicht.“
„Aber doch. Verlassen Sie sich auf mich! Das ist ein ganz leichter Landwein. Ich möchte doch mit Ihnen anstoßen.“ Er probierte den Schluck Wein, den der Kellner in sein Glas gegossen hatte. „Sehr gut. Wirklich leicht.“
Der Kellner wandte sich an Marie. „Darf ich?“
Mit einem kleinen Seufzer gab Marie nach.
Der Kellner füllte erst ihr Glas, dann das von Paul Sanner, und zog sich zurück.
„Wir müssen doch endlich auf, du und du‘ trinken“, sagte Paul Sanner.
„Müssen wir?“
„Unbedingt. Ist Ihnen nicht aufgefallen, daß alle jungen Leute sich heutzutage duzen? Jedenfalls hier in München. Sogar die nicht mehr ganz so jungen.“
„Ja, ich weiß.“ Sie sah in seine strahlend blauen Augen und zögerte immer noch. Dabei hatte sie längst aufgehört, an ihn als ,Herr Sanner‘ zu denken; er war schon ,Paul‘ für sie geworden.
Er hob ihr sein Glas entgegen, stellte es dann aber plötzlich auf den Tisch zurück. „Es sei denn …“, begann er und verstummte.
„Was?“
„… du hast einen triftigen Grund, nicht zu trinken.“ Er lächelte ihr ermutigend zu. „Dann machen wir es einfach so. Ohne Wein.“
„Jetzt ist er doch schon eingeschenkt.“
„Macht nichts. Ich leere es für dich.“
Ihr ging ein Licht auf. „Sie denken … du denkst, ich bin eine Alkoholikerin? Nein, nein, Paul, das bin ich nicht.“
„Es hätte meiner Bewunderung keinen Abbruch getan.“
„Ich fände es ganz schrecklich.“
„Reden wir nicht mehr darüber, Marie!“
Jetzt endlich erhob sie ihr Glas, und er stieß mit ihr an.
„Auf du und du, Marie!“
„Paul!“ sagte sie zaghaft.
„Du, Paul“, verbesserte er.
„Du, Paul!“ wiederholte sie folgsam.
„Klingt wie Musik aus deinem Mund!“ Er trank.
Sie nahm einen winzigen Schluck.
„Erzähl mir bitte weiter von eurem Schottenhaus!“
„Es steht abseits von unserem Dorf, ungefähr drei Kilometer, so eine richtige Großstadtvilla aus der Zeit der Jahrhundertwende. Niemand weiß, warum mein Urgroßvater es dahingeklotzt hat. Entweder wollte er seiner Braut imponieren – sie stammte aus der Gegend – oder den Dörflern, vielleicht hat er auch geglaubt, Kornthal würde sich zu einer Stadt entwickeln.“
„Wie kam der alte Schotte überhaupt dorthin?“
„Das haben wir uns als Kinder auch immer gefragt. Aber niemand konnte es uns sagen. Alt kann er übrigens damals noch gar nicht gewesen sein.“
„Aber bestimmt ist er steinalt geworden.“
„Auch das weiß niemand. Er war Kapitän auf großer Fahrt, kam nur alle zwei Jahre nach Hause zurück, und dann war jedesmal ein neues Kind da. Seine Frau war also die meiste Zeit allein. Trotzdem – oder gerade deshalb – soll die Ehe sehr glücklich gewesen sein. Wenn er heimkam, herrschte Jubel und Trubel. Immer brachte er die tollsten Geschenke mit. Seide aus Indien, Elfenbeinschnitzereien, Schmuck, einmal eine Ladung frischer Kokosnüsse, worüber sich die Kinder natürlich besonders freuten. Dazu aber leider auch einen kleinen Affen. Von dem waren die Kinder zwar auch begeistert, ihre Mutter jedoch nicht so sehr, denn er turnte an den Vorhangstangen und den Kronleuchtern. Zu allem Überfluß entdeckte man dann eines Tages, daß er sämtliche Kokosnüsse – sie waren im Keller gelagert – geöffnet und die Milch ausgetrunken hatte, so daß sie alle schlecht geworden sind.“
„Und was ist aus ihm geworden?“
„Darüber schweigt sich die Familienchronik aus. Ich nehme an, er ist früh gestorben. Ich kann mir nicht so recht vorstellen, daß ein Affe in unserem Klima gedeihen könnte.“
„Und wie ging’s weiter mit dem Ur-Ur-Urgroßvater?“
„Eines Tages verschwand er, genauer gesagt, er kam nicht mehr zurück. Seine Frau konnte es nicht fassen. Bis zu ihrem Lebensende hat sie auf ihn gewartet. Es heißt, daß sie schwermütig geworden ist.“ Sie sah Paul aus ihren verschleierten Augen an. „Ist das nicht entsetzlich? Wenn eine große Liebe so endet? Aus heiterem Himmel? Ohne daß es vorher Kräche oder auch nur Unstimmigkeiten gegeben hat?“
„Du glaubst also, Auseinandersetzungen gehören zu einer Liebe?“
„Zum Ende einer Liebe jedenfalls. Ich möchte nicht einfach so verlassen werden.“
Er nahm ihre Hand. „Keine Angst, Marie! Dir würde niemand so etwas antun.“
Der Kellner servierte die Rehmedaillons; sie waren köstlich zartrosa. Marie und Paul aßen mit Genuß und sprachen wenig. Marie nippte an ihrem Wein, und Paul ließ sich nachschenken.
Erst als sie fast zu Ende gegessen hatten, sagte er: „Vielleicht war es ja gar kein böswilliges Verlassen. Vielleicht ist dem alten Knaben auf hoher See etwas zugestoßen.“
„Wenn, dann an Land. Natürlich hat die Familie, so gut es ging, nach ihm geforscht. Aber über die Reederei war nur zu erfahren, daß er in Singapur regulär von Bord gegangen und nicht wieder aufgetaucht ist.“
„Tolle Geschichte!“ sagte er beeindruckt. „Da ließe sich was draus machen.“
„Für was?“ fragte sie erstaunt.
„War nur so dahingesagt.“ Er strahlte sie aus seinen blauen Augen an. „Vergiß es. Es ist eine dumme Angewohnheit von uns Journalisten. Wir überprüfen alles, was uns zu Ohren kommt, ob man darüber schreiben kann.“
„Aber es ist so lange her. Wen könnte das heute noch interessieren?“
„Niemanden. Es sei denn …“ Er unterbrach sich. „Vergiß es, Marie!“ – Aber bei sich dachte er: Das gäbe eine hübsche Hintergrundstory. Natürlich müßte man sie noch genauer recherchieren.
Sie war mißtrauisch geworden. „Hast du eigentlich über den Unfall meines Bruders berichtet?“
„Liest du denn keine Zeitungen?“
„Selten.“
Ein bemerkenswerter Mangel an Neugier, dachte er, ich an ihrer Stelle hätte bestimmt am nächsten Tag nachgeschaut. „Na ja“, sagte er, „es war auch nicht der Rede wert. Ein paar nichtssagende Zeilen, nichts weiter. Wenn es tödlich ausgegangen wäre, wäre es natürlich etwas anderes gewesen.“
„Dann hättest du mehr verdient“, erwiderte sie trokken.
„Marie! Ein solcher Sarkasmus paßt nicht zu dir!“
„Aber es ist doch so! Oder etwa nicht? Gewisse Reporter sind doch die reinsten Aasgeier.“
„Zu denen ich nicht gehöre!“ brüstete er sich und spielte den Beleidigten. „Wenn du so von mir denkst …“ Mit einer heftigen Bewegung schob er den geleerten Teller von sich.
„Nimm’s nicht persönlich!“ bat sie. „Was soll ich schon von dir denken? Ich kenne dich doch kaum.“
„Aber du traust mir das Schlimmste zu.“
„Wenn das wirklich so wäre, säße ich nicht hier mit dir, nicht wahr?“
Seine Miene glättete sich. „Und ich bin froh, daß wir hier zusammen sind. Tut mir leid, daß ich so in die Luft gegangen bin. Aber ich bin nun mal ziemlich empfindlich, was meine Berufsehre betrifft.“
„Ich werd’s mir merken“, versprach sie.
Er lachte.
„Was amüsiert dich so?“
Jetzt hatten wir schon unseren ersten kleinen Krach!“
„Findest du das so erstrebenswert?“
„Und ob! Wenn man sich immer nur sein Sonntagsnachmittag-Ausgehgesicht zeigt, die glatte Fassade, kann man einander nicht näherkommen. Trinkst du noch einen Versöhnungsschluck mit mir?“
Sie hatte ihr Glas während des Essens fast ganz geleert. „Nein, danke, wirklich nicht. Ich bin sowieso schon ein bißchen beschwipst. Sonst hätte ich das gar nicht gesagt. Das mit den Aasgeiern meine ich.“
„Ist ja gut. Du brauchst mir gegenüber nicht jedes Wort auf die Goldwaage zu legen. Wenn mir was nicht paßt, werde ich mich schon wehren.“
Der Kellner kam an den Tisch und schenkte ihm den Rest Rotwein aus der Karaffe ein.
„Wie wäre es mit einem Dessert, Marie?“ fragte Paul.
„Danke, nein. Ich bin rundherum satt.“
„Die machen hier ein wunderbares ,Mousse au Chocolat‘.“
„Das glaube ich gern. Aber mir ist es einfach zuviel.“
„Dann nur für mich, Guido!“
„Du machst dir nichts aus gutem Essen?“ fragte er, aber es klang mehr wie eine Feststellung.
„O doch!“ widersprach sie. „Ich brutzele mir auch öfter selber mal was. Kochen macht mir Spaß.“
„Was sonst noch? Was dir Spaß macht, meine ich.“
„Musik. Klassische Musik am liebsten. Ich habe eine sehr gute Stereoanlage.“
„Wie wäre es, wenn du mich mal zu dir einladen würdest? Ich liebe ebenfalls klassische Musik, und ich würde mich gern davon überzeugen, was du am Herd zustande bringst.“
Sie lächelte. „Das kann ich mir vorstellen.“
„Ich möchte auch dein Atelier sehen. Alles, was du gemalt hast.“
„Das ist nichts Besonderes.“
„Ich erwarte nicht, daß du ein weiblicher Picasso bist.“
„Magst du Picasso?“
„Ja, sehr. Besonders seine ,Blaue Periode‘.“
„Die ist für Laien wohl auch noch am verständlichsten. Weißt du, die Sachen von Picasso darf man an sich nicht nur so einfach ansehen, man muß sich mit ihnen auseinandersetzen …“ Lebhaft sprach sie weiter über moderne Malerei.
Ihm wurde bewußt, daß sie das Thema absichtlich gewechselt hatte. Noch hatte er sie nicht so weit, daß sie ihn zu sich lassen wollte. Es war klüger, nicht weiter auf diesem Vorschlag zu beharren. So beschränkte er sich darauf, ihr scheinbar interessiert zuzuhören und nur hin und wieder eine Bemerkung einzustreuen, mit der er beweisen wollte, daß er kein Kunstbanause war.
„Ich bekomme manchmal Einladungen zu Vernissagen!“ sagte er endlich. „Würde es dir Spaß machen, mich zu begleiten?“
„Nein!“ sagte sie entschieden, spürte, daß das sehr hart geklungen hatte, und fügte eine Erklärung hinzu. „Weißt du, natürlich besuche ich Kunstausstellungen. Aber ich möchte mir alles in Ruhe ansehen. Eine Vernissage wäre für mich ein zu großer Rummel.“
„Bist du je auf einer gewesen?“ fragte er etwas gereizt.
„Nein, aber ich kann mir sehr gut vorstellen, wie es da zugeht. Alle halten sich für die Größten, führen ihre feinsten Klamotten aus und trinken Champagner.“
„Es gibt auch Orangensaft.“
„Darauf kommt’s doch nicht an. Nun tu nicht so. Du weißt genau, was ich meine. Reisi sagt …“
Er fiel ihr ins Wort. „Wer ist Reisi?“
„Professor Bernhard Reisinger. Wir nennen ihn Reisi. Natürlich nur hinter seinem Rücken.“
Der Kellner servierte die Schokoladencreme, drei weiche Bälle, einer dunkelbraun, ein anderer beige und der dritte sehr hell, fast weiß. Alle waren sie mit Schlagsahne garniert.
„Sieht das nicht wundervoll aus!“ rief Paul. „Ein Anblick, bei dem einem das Wasser im Mund zusammenläuft.“
„Sehr hübsch“, gab Marie zu.
„Du mußt es wenigstens probieren, sonst bin ich ernstlich verstimmt. Von jedem ein Löffelchen!“ Er führte einen Löffel der hellen Creme an ihre Lippen, die während des Essens ihre künstliche Farbe verloren hatten und jetzt wieder ihr starkes natürliches Rot zeigten, scharf abgegrenzt von ihrer weißen Haut.
Sie wußte nicht, wie sie sein Angebot ablehnen sollte, ohne zickig zu erscheinen, und ließ sich von ihm füttern wie ein Kind.
„Wirklich lecker“, gab sie zu.
„Mehr?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Du mußt nicht denken, daß du mich beraubst. Ich komme auch mit der Hälfte aus. Außerdem können wir ja eine Portion nachbestellen.“
„Lieb von dir. Aber es wird mir mehr Spaß machen, dir zuzusehen, wie du es genießt.“
Er fragte zwischen zwei Löffeln: „Apropos Spaß! Gehst du gerne in Konzerte? Oder sind dir da auch zu viele Leute?“
„Jetzt willst du mich wohl auf den Arm nehmen! Natürlich stören mich die Konzertbesucher nicht. Die müssen ja still sitzen und zuhören.“ Nach einer kleinen Pause, in der er weiter schleckte, fügte sie hinzu: „Nur, leider, man kommt so schwer an Karten.“
„Ich kann welche besorgen.“
„Ja, wirklich? Das wäre fabelhaft.“
„Pop ist wohl nichts für dich?“
„Aber ja doch! Nur stelle ich es mir ziemlich enervierend vor, den ganzen Abend nur einen Interpreten zu hören. Es sei denn Tina Turner.“
„Ganz mein Geschmack. Du, das machen wir. Wir gehen zusammen ins Konzert. Wie steht es mit Theater?“
„Jederzeit.“
„Oper?“
„Auch. Ich war in den letzten drei Jahren jeden Sommer mit meinem Vater bei den ,Bayreuther Festspielen‘.“
„Hui!“ Er blickte sie über seinen Teller hinweg an. „Das hast du durchgestanden?“
„Etwas strapaziös ist es schon“, gab sie zu, „aber es lohnt sich.“
„Wenn man ein Wagner-Fan ist.“
„Nicht nur dann.“
Er kratzte die letzten Reste auf seinem Teller zusammen und machte dabei den Eindruck, als ob er ihn am liebsten ausgeleckt hätte. „Noch einen Kaffee?“ fragte er.
Sie war es nicht gewöhnt, am Abend Kaffee zu trinken, und hätte am liebsten abgelehnt. Aber sie hatte das Gefühl, schon zu oft „Nein, danke“ gesagt zu haben. „Wenn du gern möchtest.“
„Unbedingt. Kaffee sollte der Abschluß jeder guten Mahlzeit sein.“ Er winkte dem Kellner, der sofort herbeieilte. „Zwei doppelte Espresso, Guido.“
„Mir nur einen einfachen“, bat Marie.
Als der Kaffee serviert wurde – sehr heiß und sehr schwarz in kleinen Tassen, dazu drei Verschiedene Sorten von Zucker – rauchte sie Paul zur Gesellschaft eine Zigarette.
„Wir könnten noch irgendwohin tanzen gehen …“, begann er.
Sie fiel ihm ins Wort. „Um diese Zeit? Es ist elf Uhr vorbei!“
Er lachte sie aus. „Was für eine kleine Landpomeranze du doch bist! Zwischen elf und zwölf geht es doch erst richtig los.“
„Wie kann man dann am nächsten Tag arbeiten?“
„Indem man sich gar nicht erst hinlegt, sondern sich unter die Dusche stellt und dann loszieht.“
„Für mich wäre das nichts; und ich glaube auch nicht, daß jemand nach einer solchen Nacht wirklich etwas leisten kann.“
„Reine Gewohnheitssache. Sag mal, was mußt du überhaupt,leisten‘?“ Er betonte das letzte Wort voller Ironie. „Soviel ich weiß, lernst du doch noch?“
„Ja, aber wenn du meinst, daß Kunst eine einfache Sache ist, irrst du dich gewaltig.“
„Das habe ich nicht behauptet. Aber in der Regel läßt man, wenn man aus der Provinz kommt, erst mal drei gerade sein und genießt sein Leben und die neue Freiheit.“
„Ich genieße es, jeden Tag etwas dazuzulernen.“ Sie drückte ihre Zigarette aus. „Ich glaube, wir sollten jetzt wirklich aufbrechen.“
„Habe ich dich verletzt?“
„Nein, gar nicht. Ich habe nur festgestellt, daß du mich völlig falsch einschätzt.“
„Du bist schwer zu verstehen.“
„Dabei versuche ich, es dir leicht zu machen. Ich bin so offen wie nur möglich.“
„Wahrscheinlich ist es gerade das, was mich irritiert. Andere Mädchen versuchen, sich ins Licht zu stellen. Sie kokettieren, und das erwartet man auch als Mann. Aber du spielst einfach nicht mit.“
„Ich bin nicht wie andere Mädchen.“
„Wenn ich etwas gemerkt habe, dann das.“
Als er sie nach Hause fuhr, sagte er wie aus tiefen Gedanken heraus: „Aber es war doch ein schöner Abend.“
„Ja“, gab sie zu.
„Wir sollten das wiederholen.“
Vor dem Bürohaus in der Herzogstraße half er ihr aus dem Auto und begleitete sie zum Tor.
Sie reichte ihm zum Abschied die Hand. „Danke, Paul – für alles.“
Er zog sie an sich und küßte sie auf die Wangen. Sie ließ es geschehen. Aber als er ihren Mund suchte, wandte sie den Kopf ab.
„Gute Nacht, Marie!“ sagte er. „Ich melde mich bald.“
Er wartete, bis sie das Tor aufgeschlossen hatte und verschwand, versuchte sich vorzustellen, wie sie den düsteren Hof überquerte. Ob sie wohl auch heute eine Taschenlampe bei sich hatte? Nein, dazu war ihre Handtasche zu klein. Er war nahe daran gewesen, ihr anzubieten, sie zu ihrem Atelier hinauf zu begleiten. Aber er hatte es nicht getan, weil er wußte, daß sie es nicht zugelassen hätte. Zu seiner eigenen Überraschung machte er sich jetzt Sorgen um sie.
Zu dumm! – Er schüttelte über sich selbst den Kopf. Das Mädchen war bisher ohne seinen Schutz durchs Leben gekommen und würde es auch weiter schaffen, wahrscheinlich sogar besser als andere, die die Dinge leichter nahmen. Sie war nicht sein Problem. Er hatte genug mit sich selbst zu tun.