Читать книгу Wer braucht schon Zauberfarben? - Marie Lu Pera - Страница 3

Purpur

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Im siebten Himmel – anders kann man das nicht beschreiben, was hier gerade abläuft. Ich hab nie verstanden, warum Leute das immerzu sagen – jetzt ist es mir klar.

Wie gebannt blicke ich auf einen schlafenden Halbgott, in dessen Armen ich liege. Beliars Brust hebt und senkt sich im steten Rhythmus seiner Atemzüge.

Kneif mich mal. Ich fasse es immer noch nicht, dass in der Tasche – neben seinem Hammer – auch noch seine Sachen waren, damit er hier bei mir bleiben kann. Er hat sich sozusagen Kurzurlaub vom Zirkel genommen. Will in der Zeit wie ein normaler Mensch ohne Magie leben. MIT MIR!

Jeden Tag unternehmen wir etwas zusammen, lernen uns besser kennen. Das war eine meiner Bedingungen, damit er hier bei mir und meinem Bruder wohnen darf.

Jede Nacht schlafe ich in seinen Armen. Natürlich ist Kuscheln alles, was er von mir bekommt. Ich will es diesmal langsam angehen lassen. Beliar versteht es, obwohl er sichtlich damit zu kämpfen hat – geht man davon aus, dass sich die Bettdecke verräterisch aufbäumt. Verdammt, dieser Mann ist sowas von sexy.

Ich muss hier raus, bevor ich noch die letzte Gehirnzelle über Bord werfe und über ihn herfalle. Nein, ich muss stark bleiben. Männer wollen immer das, was sie nicht kriegen können – denke ich zumindest. Wenn ich es ihm zu leicht mache, verliert er bald das Interesse an mir. Eins ist klar, ich bin kein devotes Weibchen, das sich ihm an den Hals wirft, weil er der stärkste Hexer im Zirkel ist. Naja, zumindest versuche ich, es zu vermeiden, ihm ständig auf die Pelle zu rücken. Ich kann nichts dafür, der Mann übt eine magnetische Anziehungskraft auf mich aus.

Darauf bedacht, ihn nicht zu wecken, husche ich auf Zehenspitzen ins Bad. Der Spiegel ist gnadenlos. Meine kurzen Locken stehen in alle Richtungen ab. Genervt versuche ich, das Chaos zu entwirren, schaffe es aber nur bedingt. Ich gebs ja zu, ich dachte, ich könnte mir die Mähne nachhexen. Hätte ich gewusst, dass das nicht funktioniert, hätte ich Galahad wahrscheinlich überredet, mein Blut anstatt alle meine Locken als Bezahlung für das Tattoo und seine Hilfe zu nehmen. Beliar und Junus haben es schon versucht, aber keiner ihrer Zauber funktioniert bei mir.

Ich kriegs auch nicht hin. Mittlerweile beginne ich das Musical „Hair“ zu hassen. Keiner der Songs lässt meine Locken sprießen. Es ist schon komisch, Häuser vermag ich in die Luft zu sprengen, aber auf das Wachstum meiner eigenen Haare habe ich keinen Einfluss. Das ist wieder mal typisch für mich.

Mit roher Gewalt kämpfe ich mich mit der Bürste durch die Mähne. Als ich sie, aus Mangel an Erfolgserlebnissen, weglegen will, erregt etwas darauf meine Aufmerksamkeit. Ich hab wohl doch ziemlich viele Haare gelassen und obenauf prangt – wie kann es auch anders sein – ein weißes Haar. Mich trifft fast der Schlag. Mein Körper weicht automatisch zurück. Vor Schreck bin ich rückwärts über den Badewannenrand gefallen und schlage unsanft mit dem Rücken auf den gegenüberliegenden Wannenrand auf. Meine Beine sind dabei hochgeschossen. Das macht mich nun zu einer zappelnden, pyjamatragenden Überreagierenden, die gerade ein unfreiwilliges Trockenbad nimmt. Verdammt, tut das weh.

Keine zwei Sekunden später wird die Badezimmertüre aufgerissen und Beliar taucht über mir auf.

„Hope, ist alles in Ordnung?“, will er wissen. Die Gesamtsituation nimmt mich gerade voll mit. Im nächsten Augenblick lache ich drauflos.

Beliar zieht mich, ebenfalls sichtlich belustigt, aus der Wanne. Blöderweise bückt er sich nach der Bürste, die ich anscheinend in der ersten Schrecksekunde fallengelassen habe und hält sie mir hin.

Beinahe brutal reiße ich sie ihm aus der Hand. Verdammt, geht’s eigentlich noch offensichtlicher, Hope? Das war ja die übertriebenste Reaktion des Jahrhunderts. Er zieht zwar die Augenbrauen hoch, lässt den peinlichen Moment aber glücklicherweise unkommentiert vorbeiziehen.

„Wolltest du baden?“, fragt er mich grinsend. Nein, mir hat die Erkenntnis, dass mir bereits weiße Haare wachsen, den Boden unter den Füßen weggezogen.

„Hab wohl vergessen, vorher Wasser einzufüllen“, entgegne ich.

„Und dich auszuziehen“, ergänzt er. Dabei sieht er mich so sexy an, dass meine Knie gleich wieder zu Pudding werden.

Im Nu zieht er mich an sich heran, was mein Herz höher schlagen lässt. Liebevoll fährt er mir durchs Haar. Hoffentlich sind da nicht noch mehr weiße Haare, ist grad mein einziger Gedanke.

Als er meinen Nacken packt und mich an seine Lippen führt, schmelze ich schlagartig dahin. Sein Kuss beginnt zärtlich, wird aber immer wilder. Ich weiß, wohin das früher oder später führen wird, aber ich will ihn noch zappeln lassen. Nach allem, was passiert ist, bin ich einfach noch nicht so weit.

Das realisiert Beliar nun auch, nachdem ich ihn sanft davon abhalte, die Erkundungstour seiner Hand, die sich unter meinem Shirt gerade einen Weg über meinen Rücken bahnt, fortzusetzen. Dass er mehr als „so weit“ ist, zeigt mir sein Gesichtsausdruck, aus dem ich entschlüsseln kann, dass er an der Abweisung sichtlich zu knabbern hat.

Egal was ich jetzt sage, es wird seinen männlichen Stolz nur noch weiter ankratzen. Deshalb tue ich so, als wäre das gerade nicht passiert. Ja okay, das ist vielleicht etwas gemein, aber es dient einem höheren Zweck. Der Griff nach meiner Zahnbürste soll als ultimatives Ablenkungsmanöver dienen.

Sein aufgebrachtes „Hope“ bringt mich dazu, mich ihm wieder zuzuwenden.

Auf seiner Hand klebt Blut. Schnell ist er an meiner Seite, zieht mein Shirt runter und sieht sich meinen Rücken genauer an. Verdammt, diese blöde Wunde an meiner Schulter ist wohl durch die Wucht meiner Badewannenaktion erneut aufgeplatzt. Die Kratzer wollen einfach nicht heilen. Alles nur wegen meinem Raben, der mich damals mit seinen Krallen erwischt hat. Wahrscheinlich habe ich Tollwut oder so eine Scheiße.

„Die Wunde hat sich wieder geöffnet“, informiert er mich. „Ich bringe dich zu meinem Heiler. Er wird sich das ansehen“, stößt er bestimmt aus.

Oh, oh. Quacksalber-Alarm. Vorsichtshalber wende ich ein: „Beliar, ich war bereits hier beim Arzt. Er sagt, die Wunde hätte sich nur entzündet. Ich nehm einfach die Salbe, die er mir gegeben hat und dann wird es schon heilen. Nichts gegen deinen Heiler, aber in Sachen Medizin sind wir in diesem Jahrhundert weiter entwickelt.“ In Sachen Hygiene auch, aber das verkneife ich mir. Keine zehn Pferde bekommen mich zu seinem Medizinmann, der mir höchstwahrscheinlich einen Aderlass verschreibt. Bei dem Gedanken zieht es mir die Gänsehaut auf.

„Mir gefällt das nicht“, stößt Beliar raunend aus. „Du hast Schmerzen, die du zwar gut verbirgst, aber ich sehe es dir dennoch an.“ Er hat recht. Die Wunde tut mir den ganzen Tag über weh, aber eigentlich wollte ich das sauber vertuschen. So viel dazu.

„Ich muss jetzt zum Training“, schiebe ich als Grund vor, um dieses Thema endlich abhaken zu können.

Manchmal kommt er mit – sieht mir dabei zu, wie ich turne, aber heute muss er etwas für den Hexenzirkel erledigen, sagt er zumindest. Insgeheim hoffe ich, dass er eine Überraschung für mich plant. Ich drücke ihm einen Kuss auf die Wange und schrubbe weiter meine Zähne.

Junus ist schon vor einer Stunde weg. Er studiert hier in Irland Medizin.

Nach dem Frühstück verlassen Beliar und ich gemeinsam die Wohnung. Vor dem Wohnhaus trennen sich unsere Wege. Zum Abschied küssen wir uns fast bis zur gegenseitigen Besinnungslosigkeit. Dieser Mann macht es mir echt nicht leicht, den Keuschheitsgürtel anzubehalten.

„Dann bis später Beliar“, ist mein jämmerlicher Versuch, ihn abzuwimmeln, bevor wir hier wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verhaftet werden.

Im nächsten Augenblick küsst er galant meine Hand. Dabei lässt er mich keine Sekunde lang aus den Augen. Mann, wie ich auf diese Eroberungsnummer stehe, die er ständig mit mir abzieht.

Beliar haucht mit funkelnden Augen: „Ich sollte gehen, bevor ich dich über meine Schulter werfe und dich zurück in das Bett entführe, das du heute viel zu früh verlassen hast.“ Was für ein verlockender Gedanke.

„Ich bin aber gar nicht mehr müde“, kontere ich, während ich mir lasziv in die Unterlippe beiße.

„An Schlaf hätte ich auch nicht gedacht“, erklärt er. Meine Fresse, wieso ist es plötzlich so heiß hier draußen? Eigentlich herrscht tiefster Winter.

„Du scheinst das Bett noch nicht verlassen zu haben, da du augenscheinlich noch träumst“, spotte ich frech grinsend.

Er sieht herausgefordert aus, entfernt sich aber schrittweise von mir. „Warte es ab, bis ich nach Hause komme. Dann zeige ich dir, wie nahe Traum und Realität beieinanderliegen können.“ Schmacht. Okay, ich muss mich an meinen Übungen abreagieren oder kalt duschen. Dieser Kerl bringt mich um den Verstand. Lächelnd ziehe ich mir die Mütze weiter über meine Ohren und schreite davon.

Das kleine Studio ist schnell erreicht. Ich habe es gemietet, kann hier also ungestört trainieren. Es gibt eine große Übungshalle, die mir in der Zeit ganz allein gehört – wie die Fabrikhalle damals in New York.

Heute will ich an meiner Beweglichkeit arbeiten und dabei am Reck turnen. Aber erst mal wärme ich mich auf – also genaugenommen meine Muskeln, mein Inneres ist noch durch die Glut von Beliars Küssen erhitzt.

Da er diesmal nicht dabei ist, ziehe ich meine eigentliche Turnbekleidung, eng anliegende, kurze Shorts und ein bauchfreies, ebenso knapp geschnittenes Oberteil an.

Ihm zuliebe hab ich in langer Turnkleidung meine Übungen absolviert. In der Zeit, in der er lebt, sind sie ja in der Hinsicht ein bisschen bedeckter. Zumindest unten rum – das Bild meines Mieders im Hinterkopf habend.

Ich wollte nicht, dass er denkt, ich will ihn scharfmachen, wenn ich in „Unterwäsche“ vor ihm turne, denn für genau das würde er es halten.

Nach einer Stunde Aufwärmzeit beginne ich mit dem eigentlichen Training. Dazu drehe ich die Musikanlage bis auf Anschlag auf. Zu den Klängen von „O Fortuna“ von Carl Orff trete ich an die Reckstange heran, atme tief durch, tauche in eine andere Welt ein und ziehe mich beim ersten Paukenschlag hoch.

Daraufhin beginne ich mit Äquilibristik – der Kunst sich zu verbiegen. Heute habe ich vor, an meine Grenzen zu gehen. Ich will sehen, wie weit ich es schaffe, meinen Körper zu beherrschen, damit er alles tut, was ich will.

Meine Bewegungen sind stetig und kraftvoll. Zum ersten Mal möchte ich versuchen, mich komplett zurückzubiegen und meine ausgestreckten Beine in einer Kreisbewegung um meine eigene Achse zu führen. Das ist ziemlich abartig, aber ich will das unbedingt können. Dabei muss ich immer öfter vor Anstrengung stöhnen. Es klappt aber ganz gut.

Im nächsten Augenblick hänge ich mich rücklings über das Reck und umfasse meine Beine fest. Als die Musik ihren Höhepunkt erreicht, drehe ich mich um die Stange herum, hebe ab und mache Saltikombinationen in der Luft.

Immer wieder schraube ich mich hoch, lasse mich durch die Luft gleiten, nur um mich beim nächsten Paukenschlag erneut hoch zu katapultieren. Abschließend hole ich großen Schwung, der mich nach ein paar Salti in der Luft zurück auf den Boden bringt.

Genau in diesem Moment ist die Musik zu Ende. Ich strecke beide Arme seitlich weg und lege den Kopf in den Nacken.

Ganzheitliche Euphorie lässt mich alles um mich herum vergessen. Ab jetzt fühle ich nur noch. Die herrschende Stille wird nur von meinen schnellen Atemzügen durchbrochen – und von einem Räuspern, das mich herzinfarktmäßig zusammenzucken lässt. Es kam von Junus – und er ist nicht allein.

„Heiliger Odin“, stößt Tiberius, Beliars Vertrauter, mit schreckgeweiteten Augen aus. Beliar selbst mustert mich intensiv. Neben ihm stehen zwei Männer, die mir unbekannt sind und eine, in einen Umhang mit Kapuze verhüllte, Gestalt.

Den Männern steht die Verblüffung über meine Vorstellung ins Gesicht geschrieben. Na wunderbar. Wieso sagt mir Beliar nicht, dass er mich besuchen kommt und Gäste mitbringt. Dann hätt ich mir was angezogen – und eine andere Musik eingelegt. Der Gefangenenchor hört sich etwas gruslig an. Das hat sie sicher in ihren abergläubischen Grundfesten erschüttert. Nun stehe ich hier halbnackt mit schweißnassem, keuchendem Körper vor ihnen und frage mich, wie um alles in der Welt ich reagieren soll, nachdem niemand ein Wort sagt.

Beliar erlöst mich nach ein paar Sekunden: „Darf ich vorstellen: Hailey Olivia Prudence Enya Dewitt beau Ador. Hope das sind der Seher Nadar und seine Begleiter.“

Okay, das ist also die Überraschung, die er für mich vorbereitet hat. Eigentlich hatte ich an Candle-Light-Dinner und Blumen gedacht, aber hey, kein Thema, er ist wohl nicht so der romantische Typ.

Hey warte mal, der Seher ist doch der Kerl, der Beliar gesagt hat, wie er die Ador-Hexe erkennen kann. Da lag er wohl falsch, denn ich hab keine abstehenden Ohren.

Bevor ich etwas erwidern kann, stößt die Kapuzengestalt ein ärgerliches „Nein“ aus. Nein? Was soll das heißen? Dass Beliar seinen Namen falsch gesagt hat?

Sogleich ergänzt der Typ: „Sie ist nicht die Ador-Hexe.“ Wie nett.

Beliar scheint von den Worten dieses Trottels nicht überrascht zu sein, was mich unsagbar wütend macht.

Fuchsteufelswild schnaube ich: „Ich weiß, wer ich bin. Was Ihr sagt, ist irrelevant.“ Genervt stapfe ich zur Bank und schnappe mir mein Handtuch, mit dem ich mir erst mal die schweißnasse Stirn abwische.

„Ich hatte eine Vision“, informiert mich der Quacksalber. Schön für dich, du Psycho. „Ich sah die Ador-Hexe und sie trug nicht Euer Gesicht“, ergänzt er.

Na warte, Schwachkopf. Energisch kontere ich: „Ich habe nicht vor, meine Worte an Euch zu verschwenden, daher mache ich es kurz. Ich bin Hope Dewitt beau Ador. Ich weiß es und mein Bruder weiß es auch. Sagst du dazu vielleicht auch mal was oder glotzt ihr mich alle nur an?“, raune ich erbost. Die Männer senken ertappt ihre Blicke. Schnell streife ich mir meinen Pullover und die Hose über.

Junus verkündet: „Mein Name ist Jan Utok Nael Ulivus Slevin Dewitt beau Ador und ich sage, dass die Frau, die hier vor uns steht, meine Schwester ist. Bei meinem Leben.“ Mit einem Siehst-du-Ausdruck mustere ich die verhüllte Gestalt.

„Ich bestreite nicht, dass du, Junus, ein Ador bist. Ich sage, die Hexe ist keine. Ihr seid von unterschiedlichem Blut“, behauptet der verhüllte Quatschkopf.

„Das muss ich mir nicht weiter antun“, stoße ich erbost aus. Ich will schon die Halle verlassen, da halten mich die Worte meines Bruders zurück.

„Dann werden wir Euch vom Gegenteil überzeugen. Ein Bluttest wird beweisen, dass wir gleicher Abstammung sind. Wozu gibt es DNS-Analysen, die unser Erbgut vergleichen. Immerhin sind wir hier im 21. Jahrhundert“, verkündet Junus selbstsicher.

Erneut schnaube ich. „Niemand sollte es wagen, unsere Abstammung infrage zu stellen“, stoße ich fuchsteufelswild aus. „Ich spüre, dass du mein Bruder bist und du spürst es ebenso. Wir haben gemeinsame Kindheitserinnerungen. Sowohl an unsere Eltern, als auch an meine Flucht in diese Welt. Vor niemandem werden wir uns rechtfertigen. Wir brauchen keinen Test, um uns gegen diese Anschuldigung zu verteidigen.“

„Es ist verdächtig, dass Ihr Euch gegen diesen Test zur Wehr setzt“, meint der Kapuzen-Typ doch tatsächlich.

Jetzt reichts. Ich komme auf ihn zu, bis ich nahe vor ihm stehe. „Wollt Ihr damit sagen, ich bin eine Lügnerin?“, knalle ich ihm vor den Latz. „Wagt Ihr es tatsächlich, Euer Wort gegen das meine zu stellen.“ Okay, das war etwas melodramatisch, aber ich bin geknickt, weil mein Bruder sich von dem Kerl einschüchtern lässt.

Nach ein paar Sekunden antwortet der Seher: „Es liegt mir fern, Euch einer Lüge zu bezichtigen. Möglicherweise wisst Ihr es einfach nicht besser.“ Mann, war das frech.

Bevor ich kontern kann, meldet sich Beliar zu Wort: „Jetzt gehst du zu weit, Nadar.“

„Ich kann für mich selbst sprechen“, herrsche ich Beliar an. Na toll, jetzt lass ich schon meine Wut an ihm aus.

Der Seher kommt im nächsten Moment auf mich zu. Sein Gesicht ist vollständig in der Kapuze verborgen. Da ist nur ein schwarzes Loch, in das ich starre.

Plötzlich schnellt seine Hand vor und berührt mein Haar. Reflexartig schlage ich seine Hand weg und stoße ihn mit aller Kraft von mir, sodass er zurück wankt.

DASS IHR ES WAGT, MICH ZU BERÜHREN!“, brülle ich vor Zorn.

„Sie hat jetzt nicht gerade den Seher gestoßen“, stößt Tiberius verblüfft aus. Beliar mustert mich stirnrunzelnd.

„RAUS HIER!“, befehle ich allen. Nach und nach tun sie, was ich verlange und verlassen die Halle. Alle bis auf Beliar.

„Du auch. Wie kannst du nur zulassen, dass er mich berührt?“, werfe ich ihm enttäuscht vor.

Damit ich runterkomme, gehe ich rüber zur Musikanlage, drehe voll auf und ziehe die Sachen wieder aus. Ich muss mich abreagieren, bevor ich ihm auch noch eine verpasse.

Okay, ich bin sauer auf ihn. Er hat mich gar nicht verteidigt, als der Typ meine Identität infrage gestellt hat und das, obwohl Beliar zugegeben hat, ich sei diejenige, nach der er all die Jahre gesucht hat. Anstatt mir zu helfen, hat er sich die Show von den hinteren Plätzen reingezogen.

„Hope“, setzt er nahe hinter mir an.

„Raus hier“, wiederhole ich, ohne mich noch mal umzudrehen, während ich mir erneut die Kreide an die Hände reibe. Schnell trete ich an das Reck heran und hüpfe hoch.

Zu Hause angekommen scheint niemand da zu sein – bin ich froh. Auch nach stundenlangem Training bin ich immer noch geladen wie eine Hochspannungsleitung. Genervt reiße ich mir die Kleider vom Leib und dusche erst mal kalt.

Als ich mich bereits an meinen Lieblingsplatz aufs Fensterbrett verzogen habe, betreten die zwei Herren der Schöpfung gemeinsam die Wohnung, die ich so richtig gepflegt manierlich ignoriere.

„Da bist du ja. Wir haben nach dir gesucht“, raunt Junus.

„Ich bin nach dem Training noch gelaufen“, informiere ich ihn, während mein Bruder mir gegenüber Platz nimmt.

„Das war ein echter Gänsehautmoment. Die Musik gepaart mit deinen Bewegungen. Ich glaube, so etwas formvollendet Schönes habe ich noch nie zuvor gesehen.“ Mit den schleimigen Worten will er mich besänftigen. Keine Chance, Mann.

„Es war nicht für die Augen anderer bestimmt“, fauche ich gereizt.

„Hat dich das, was der Seher gesagt hat, verärgert?“, will er wissen.

„Der Quacksalber ist mir scheißegal. Ich bin von euch enttäuscht, weil ihr ihm nicht die Hölle heißgemacht habt, um mich zu verteidigen. Ich meine – Halloooooo, ihr wisst doch genau, wer ich bin“, erkläre ich.

„Er hat uns zuvor gebeten, nicht in seine Befragung einzugreifen“, gesteht Junus.

Verblüfft mustere ich meinen Bruder. Was? Welche Befragung denn? Der Schwachmat hat nicht eine einzige Frage gestellt. Das war nur eine volle Ladung Beschuldigungen, die ich frontal abbekommen habe.

„Es war eine Prüfung“, ergänzt Beliar.

„Was denn für eine Prüfung?“, stoße ich erbost aus.

„Er wollte sehen, wie du reagierst, wenn er dich mit seiner Vermutung konfrontiert“, antwortet Junus.

Ich versuche, ruhig zu bleiben. „Okay, er glaubt also nicht, dass ich eine Ador bin. Das ist sein Problem. Er soll mich damit in Ruhe lassen“, erkläre ich.

„Der Seher ist ein einflussreicher Mann. Es ist nicht klug, ihn zu erzürnen“, meint Beliar.

Energisch kontere ich: „So wie ich das sehe, hat er mich zuerst erzürnt. Das ist das Aktions-Reaktionsprinzip. Davon hat er wahrscheinlich noch nie gehört. Womöglich glaubt er auch noch, die Erde sei eine Scheibe.“ Meine Worte scheinen Beliar zu belustigen.

Wütend stoße ich mich vom Fensterbrett ab und will in mein Zimmer abhauen, da überkommt mich plötzlich ein Schwindel. Oh, verdammt – zu schnell aufgestanden. Zu spät, die Umgebungsgeräusche werden bereits dumpf und meine Knie knicken ein.

Nach ein paar tiefen Atemzügen komme ich wieder so halbwegs zu mir. Beliar hat mich aufgefangen.

„Hope?“ Ich blinzle ein paar Mal und entreiße mich sogleich seinen Armen. Mann, ganz toll. Jetzt hält er mich sicher für ein zart besaitetes Weibchen, das ständig in Ohnmacht fällt.

„Alles okay? Lass mal sehen.“ Junus ist an meiner Seite, um meinen Puls zu kontrollieren. Genervt ziehe ich ihm meine Hand weg.

„Mir geht’s gut. Bin einfach nur zu schnell aufgestanden“, beschwichtige ich.

„Du trainierst zu hart“, stellt Beliar fest. Ich lächle. Er hat echt keine Ahnung. Das ist gar nichts. Früher hab ich fast vier Stunden täglich geturnt. Jetzt schaff ich es gerade mal noch dreimal die Woche. Ich sollte einfach was essen. Sogleich krame ich im Schrank nach dem Müsli.

Junus nimmt sich ein Bier aus dem Kühlschrank und verkündet: „Ich gehe heute noch aus.“

Ich grinse. „Hast du ein Date?“ Er läuft tatsächlich rot an. Das heißt dann wohl „Ja“.

„Ein Freund holt mich nachher ab. Wir gehen zusammen auf Brautschau“, erklärt er etwas zu ertappt aussehend – also für meinen Geschmack.

„Dann viel Spaß“, wünsche ich ihm. In dem Moment klingelt es bereits an der Tür. Junus küsst mich auf die Wange und stürmt im nächsten Augenblick auch schon aus der Wohnung. Mann, der hats aber eilig hier rauszukommen.

Toll, jetzt bin ich mit Beliar allein, der bereits auf mich zukommt und mir über die Wange streichelt.

Als Zeichen, dass er mehr braucht, als nur diese Geste, um mich zu besänftigen, drehe ich mich einfach weg, kippe Joghurt über das Müsli und schmolle.

„Du solltest Fleisch zu dir nehmen. Dein Körper ist viel zu dünn“, stellt Beliar fest. Das hat er grad nicht wirklich gesagt.

Ich kneife die Augen zusammen und strecke ihm warnend meinen Löffel entgegen. „Dann solltest du dir eine Frau aus deinem Zeitalter nehmen, wenn dich das stört“, knalle ich ihm hin.

„Das habe ich nicht gesagt“, redet er sich raus.

„Du bewegst dich hier auf dünnem Eis, mein Freund“, informiere ich ihn.

Er ignoriert meine Warnung, fragt stattdessen: „Drohst du mir etwa?“

Daraufhin kommt er wie ein lauernder Löwe auf mich zu und ergänzt mit diesem sexy Blick, den er bis zur Perfektion beherrscht. „Nun, ich kann mich an eine Drohung erinnern, die ich heute Morgen ausgesprochen habe.“ Ja, ich auch, aber vergiss es. Seine Lippen nähern sich den meinen, doch ich halte ihn mit meiner Faust an seiner Brust zurück.

„Wieso hast du das zugelassen?“, frage ich ihn.

„Wovon sprichst du?“, hakt er nach.

„Dass mich der Seher berührt. Du sagtest, kein Mann darf mich berühren. Warum lässt du es dennoch zu?“, will ich wissen.

Beliar sieht mich einige Sekunden lang an, gesteht daraufhin: „Er hat darum gebeten.“

Wie bitte?“, krächze ich ungläubig.

„Mit der Berührung wollte er eine Vision von dir erhalten“, klärt er mich auf. Wow, jetzt ist die Kacke so richtig am Dampfen.

„Vertraust du mir nicht?“, knalle ich ihm hin. „Denkst du, ich will dich täuschen? Mich für die Ador-Hexe ausgeben, damit ich dir nahe sein kann? Damit ich dich manipulieren und deinen Zirkel aushorchen kann. Nur zu deiner Information. Ich hab mir das nicht ausgesucht. Wenn ich die Wahl hätte, würde ich einfach nur Hope sein. Ohne dieser Abstammungs-Scheiße, die immer zwischen uns steht. Und weißt du was, gerade in diesem Moment, will ich alles andere, als dir nahe sein.“

„Wieso bist du so aufgebracht über die Prüfung? Sie hat nichts mit uns zu tun“, meint er doch tatsächlich.

Ich schnaube empört. „Das ist der kleinste gemeinsame Nenner. Wie ich bereits sagte, ich will einen Beweis, dass du mich auch gewählt hättest, wäre ich keine Ador. Scheinbar hast du immer noch nicht verstanden, was ich dir damit sagen will. Ich will, dass du mich willst, bloß mich – Hope. Nicht die Ador-Hexe. Nicht nur den Körper. Mich, mit all meinen verrückten Plänen und den Schwierigkeiten, in die ich mich immer hineinmanövriere. Ich weiß auch nicht. Du sagtest, du willst mein Herz erobern. Ich bin die, nach der du gesucht hast – das waren deine Worte. Und du hast auch gemeint, es wäre dir egal, was der Seher sagt. Du spürst es, wer ich bin. Stattdessen lässt du zu, dass er mich vorführt und einen Test verlangt, der beweist, dass Junus mein Bruder ist. Kannst du überhaupt ermessen, wie ich mich dabei fühle? Jemand zweifelt an der Bindung zu dem einzigen Familienmitglied, das ich noch habe. Zu dem Menschen, den ich über alles liebe.“

„Ich kenne meine Worte und stehe noch dazu“, erklärt er emotionslos.

Noch? Heißt das, du bist in dieser Hinsicht flexibel? Änderst deine Meinung, wenn dir der Seher eine andere Ador-Hexe aus dem Hut zieht? Hast du schon mal daran gedacht, dass er dir absichtlich diesen Floh ins Ohr setzt, um uns zu entzweien?“, wende ich ein.

„Ja“, antwortet er.

Und das lässt du so ohne Weiteres zu?“, krächze ich aufgebracht.

„Was meine Beweggründe sind, haben dich nicht zu interessieren“, stößt er überheblich aus. Ich ziehe die Augenbrauen hoch. Da bricht wohl der Mittelalter-Macho durch.

„Wow, der Seher hat wohl schon Erfolg damit. Weißt du was? Richtig wäre gewesen, wenn du ihn an seinem Quacksalber-Kragen gepackt und ihm gezeigt hättest, dass es vollkommen egal ist, wer ich bin. Weil ich dein Mädchen bin“, verkünde ich aus vollster Überzeugung. Ich raufe mir erschöpft die Haare, bevor ich das Weite suche.

In meinem Zimmer packe ich eine Decke und ein Kissen. Beides knalle ich ohne Worte auf die Couch im Wohnzimmer. Ich hoffe, er kapiert es.

In dieser Nacht suchen mich wieder Alpträume heim. Ich schrecke hoch. Meine hastigen Atemzüge zeugen von dem unruhigen Schlaf – meine zerwühlte Decke auch. Irgendwie fühle ich mich wie gerädert.

Ich erkenne Junus über mir. „Hey, hattest du einen bösen Traum? Du hast nach Beliar gerufen.“ Na toll. Vielen Dank, Unterbewusstsein. Leugnen bringt nichts, also nicke ich.

„Wieso schläft denn dein Traumprinz auf der Couch?“, will er wissen.

„Er ist zum Frosch mutiert. Ich hoffe, das ist nicht von Dauer“, spotte ich.

Junus lächelt. „Sei nicht so streng mit ihm. Sie setzen ihn ganz schön unter Druck, weil der Seher vehement behauptet, du seist keine Ador. Die Hexer wollen Beweise sehen, da sie wissen, dass er hier bei dir ist. Weißt du, der Zirkel schützt die Identität von abertausenden Hexen und Hexern. Beliar braucht einen starken Nachkommen, um den Schutz über Generationen aufrechtzuerhalten. Seine Position als Oberhaupt darf nicht durch so ein Gerücht, das der Seher in die Welt setzt, gefährdet werden. Beliars Gefolgschaft fordert Rechenschaft von ihm. Sie würden nur eine Ador-Hexe an seiner Seite akzeptieren.“ Mann, ist das kompliziert. Wieso hat mir Beliar nicht gesagt, dass er unter Druck gesetzt wird? Wieso sagen Männer nie das, was sie fühlen? So schwer ist das doch nicht.

„Sein Wort darauf, dass ich die Richtige bin, müsste eigentlich reichen“, entgegne ich trotzig.

„Wie Beliar bereits festgestellt hat, ist der Seher sehr einflussreich. Da er Visionen von der Zukunft hat, vertrauen die Hexer darauf, was er sagt. Unterschätze ihn niemals, Hope“, rät er mir.

„Ich will aber nicht unter Druck gesetzt werden. Schon gar nicht von einem Quacksalber, dessen Visionen auch Hirngespinste sein könnten“, erkläre ich.

„Ich weiß, Kleines, aber wovor hast du Angst? Du bist meine Schwester. Niemals würde ich auch nur eine Sekunde daran zweifeln. Der Test bestätigt doch nur das Offensichtliche für die Zweifler.“ Junus‘ Worte ergeben Sinn, also nicke ich.

„Ich tue es für dich und Beliar. Für niemanden sonst“, verlautbare ich. „Aber das ist das letzte Mal, dass sie mich zu etwas zwingen, was ich nicht will.“

Junus grinst. „Du bist genauso stolz, wie unsere Mutter es war. Sie konnte Vater zur Weißglut bringen, aber er hat sie mehr geliebt, als alles andere auf dieser Welt. Ich verspüre dieselbe Liebe zu dir, Schwester.“ Er küsst mich auf die Stirn und verlässt den Raum.

Innerlich aufgewühlt wälze ich mich von einer Seite auf die andere. Okay, vergiss mal deinen Stolz, sage ich mir. Ich beschließe, Beliar zu verzeihen und ihn auf der Couch zu besuchen, um ihm Asyl in meinem Bett zu gewähren.

Als ich ins Wohnzimmer trete, finde ich sein Lager unangetastet vor. Ich frage mich, wo er mitten in der Nacht hingehen sollte und suche ihn überall in der Wohnung – vergeblich. Junus schläft. Ich will ihn nicht wecken, um zu fragen, ob er weiß, wo Beliar ist.


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