Читать книгу Wer braucht schon Zauberfarben? - Marie Lu Pera - Страница 6
Grau
ОглавлениеMein Rabe kehrt wenig später zurück. Schnell lasse ich ihn durchs Fenster herein und lehne die Stirn an die seine. Sogleich fluten mich seine Erinnerungen.
Er zeigt mir Beliars Arbeitszimmer. Dort befinden sich Beliar, Tiberius, Junus und die Hexe. Tiberius muss nach ihrem Gespräch zu mir gekommen sein.
Die Hexe reißt die Augen auf. „Junus, Bruder. Endlich sind wir wieder vereint.“ Sie heult sogar. Junus sieht sie nur schräg an.
„Ich kenne diese Frau nicht“, raunt er. „Das ist nicht meine Schwester.“
Die Frau fällt gerade vom Glauben ab und flüstert: „Das ist nicht möglich. Du bist mein Bruder. Wir sind zusammen aufgewachsen. Erkennst du mich denn nicht?“ Sie ist echt gut. Ja, vielleicht weil sie die Wahrheit sagt und ich die bin, die ihr die Identität geklaut hat.
Junus sieht Beliar an. Genervt erklärt er: „Was soll das? Hope ist meine Schwester. Das habe ich schon mehrmals klargestellt.“
„Ich bin es doch. Hope. So hast du mich immer genannt. Erinnere dich doch, Bruder“, haucht das Püppchen. Junus ignoriert sie. Sie ist das absolute Gegenteil von mir. Ein scheues Reh.
„Wir glauben, dein Gedächtnis wurde manipuliert, Junus“, erklärt Beliar.
„Ich weiß doch, wer meine Schwester ist. Niemand könnte mir diese Erinnerungen nehmen. Sie sind zu stark verwoben“, verkündet Junus forsch.
„Und wenn man nur das Gesicht und den Körper aus deiner Erinnerung tauscht? Dir ein anderes Bild deiner Schwester gibt“, mutmaßt Beliar.
Junus schnaubt laut auf. „Wie könnt Ihr nur hinter Hopes Rücken diese Frau für meine Schwester halten. Wenn sie es erfährt, wird sie Euch die Hölle heißmachen. Meine Schwester ist die stolzeste Frau, die ich kenne. Und zu Recht. Sie ist etwas Besonderes. Das würde sie Euch niemals verzeihen. Ich hoffe, Ihr wisst, was Ihr tut“, wendet Junus ein. Meine Rede, Bruder.
„Irgendetwas stimmt hier nicht“, raunt Beliar. „Ich will wissen, wer hier ein Spiel mit uns spielt.“
„Hope ist meine Schwester, ich bleibe dabei. Sie hatte von Anfang an recht.“ Nein hatte ich nicht, die Testergebnisse im Hinterkopf habend. „Niemand sollte es wagen, das infrage zu stellen“, verkündet Junus. Die Hexe ist in Tränen ausgebrochen und schluchzt vor sich hin.
„Und wenn wir das Blut der Frau hier ebenfalls testen lassen. Würdest du den Tests aus deiner Zeit Glauben schenken?“, schlägt Tiberius vor.
Junus stößt die gesamte Luft aus seiner Lunge aus. „Wir haben schon Hopes Blut ins Labor gegeben. Wieso warten wir die Ergebnisse nicht einfach ab, bevor wir sie mit diesem Gespräch hier hintergehen? Danach wird dieser Test nicht mehr von Nöten sein“, meint Junus sichtlich bemüht, sich im Zaum zu halten.
„Ich verlange einen Test“, befiehlt Beliar. „Du wirst das Blut ins Labor bringen und mit deinem vergleichen lassen.“ Junus schnaubt erneut laut auf, hext aber sogleich zwei Spritzen.
Der Frau nimmt er zuerst Blut ab, die sogar beim Einstich wimmert. Was für eine Memme. Sich selbst entnimmt er daraufhin Blut.
Junus stapft wütend davon. Beliar sieht die Frau an und fordert: „Geh!“ Sie sprintet förmlich zur Tür raus.
Jetzt ist er mit Tiberius allein im Raum und rauft sich erschöpft die Haare.
„Junge, was quälst du dich so?“, bricht Tiberius ihr Schweigen.
„Glaubst du, die Schwarze Gilde steckt dahinter?“, fragt Beliar.
„Und wenn schon. Du liebst Hope. Nur das ist wichtig. Sie würde nie den Zirkel in Gefahr bringen. Das hat sie mehr als einmal bewiesen und das weißt du auch“, kämpft Tiberius für mich.
„Und wenn sie sie dazu bringen, uns zu verraten? Was, wenn sie ein Druckmittel einsetzen, wie damals bei McConnor?“, mutmaßt Beliar.
„Dann wird sie einen Plan schmieden, der funktioniert. Wie damals“, erwidert Tiberius.
„Ich kann das nicht riskieren. Der Preis wäre zu hoch“, erklärt Beliar.
„Dann wirst du sie verlieren. Ich sagte bereits, du kannst nicht beide Frauen haben, Beliar. Frage dich selbst – könntest du ohne sie leben?“, wendet Tiberius ein.
„Alles, was ich weiß ist, dass ich meine persönlichen Gefühle nicht über das Wohl des Zirkels stellen kann“, verkündet Beliar.
„Hast du die Möglichkeit bedacht, dass du beides haben kannst. Vertrau ihr einfach. Steh zu ihr. Sie ist nicht böse. Selbst wenn sie wirklich nicht die Ador-Hexe sein sollte, ist sie stark“, erklärt Tiberius.
„Glaubst du, das weiß ich nicht? Diese Frau übt eine Anziehungskraft auf mich aus, der ich kaum widerstehen kann. Aber das Risiko, dass sie die Marionette der Schwarzen Gilde ist, ist zu groß. Ich kann das Leben abertausender weißer Hexen nicht gefährden. Außerdem mische ich mein Blut nicht mit einer schwarzen Hexe“, stellt er klar. Mein Herz krampft sich schmerzhaft zusammen.
„Du sagtest doch, sie habe deine Tests bestanden. Beweist das nicht, dass sie eine weiße Hexe ist?“, wendet Tiberius ein.
„Wie du bereits festgestellt hast, ist sie stark. Ich vermute, die weiße Magie hat sie davor geschützt, entlarvt zu werden. Die Tests könnten bei ihr versagt haben“, mutmaßt Beliar.
„Liebst du sie?“, will Tiberius von ihm wissen. Das würde mich allerdings auch brennend
interessieren.
„Ich gehe keinen Bund mit einer schwarzen Hexe ein“, erklärt er.
„Ist das dein letztes Wort in dieser Sache?“, will Tiberius wissen.
„Ja“, erklärt Beliar selbstsicher. Das wars also.
Tiberius atmet tief durch. „So sei es, Junge. Aber was hast du mit ihr vor, wenn sie tatsächlich nicht Junus‘ Schwester sein sollte? Wenn sie möglicherweise von der Schwarzen Gilde auserkoren wurde, ihre Pläne auszuführen. Was machst du dann mit ihr?“, hakt Tiberius nach. Jetzt wird es interessant.
Beliar braucht deutlich länger, um darauf zu antworten: „Vorerst kommt sie ins Verlies, bis ich weiß, wie viel sie vor uns verbirgt, dann sehen wir weiter.“ Er hat sie nicht mehr alle. Das kann unmöglich sein Ernst sein.
„Junge? Du würdest sie in dein Verlies sperren und sie unter Folter zu einem Geständnis zwingen? Weißt du, was du da sagst?“, wendet Tiberius verblüfft ein. Mein Herz bleibt stehen. Er zieht das echt durch.
Beliar ignoriert ihn und befiehlt: „Geh jetzt.“
Tiberius tut nicht, wonach er verlangt und fragt stattdessen: „Beliar, du willst sie doch nicht für deine Zwecke nutzen, um an Informationen der Schwarzen Gilde zu kommen, oder?“
„Geh mir aus den Augen“, raunt Beliar forsch.
Der Rabe löst sich von mir. Ich küsse ihn, weil er mir gute Dienste geleistet hat. Gut zu wissen, was Beliar mit mir vorhat. Verlies? Das kannst du vergessen, Mann. Ich muss nachdenken. In der Badewanne geht das bei mir immer am besten.
Jemand poltert gerade durch die Badezimmertür, als wäre der Teufel persönlich hinter ihm her. Vor Schreck bin ich sogar hochgefahren und bedecke mich vor dem Eindringling. Ich muss wohl in der Wanne eingeschlafen sein. Das Wasser ist bereits eiskalt.
Ich erkenne Beliar, korrigiere: Einen fuchsteufelswilden Beliar. Oh, oh. Er weiß es doch nicht schon, dass ich keine Ador bin.
„WO IST ER?“, brüllt er mich an. Ich schlucke. Weiß er etwa, dass Tiberius hier war? Ich stelle mich vorsichtshalber dumm.
„Wer denn?“, will ich wissen.
„Der Mann, der dich berührt hat?“ Hä? Junus betritt das Badezimmer mit schreckgeweiteten Augen.
„Herr, beruhigt Euch. Ich bin sicher, Hope kann das erklären.“ Beliar ist so wütend, dass er meinen Bruder, also besser gesagt den Mann, den ich für meinen Bruder gehalten habe, an die Wand donnert.
„HEY!“, rufe ich laut. „Was ist denn in dich gefahren? Könntest du mal runterkommen?“, verlange ich von Beliar, der mich soeben an den Schultern packt und mich aus der Wanne zieht.
Mir bleibt fast das Herz stehen, als er mich an die Wand drückt. Ich keuche, weil die Badfliesen in meinem Rücken so kalt sind. Er ist echt zum Fürchten.
„WER HAT DICH BERÜHRT?“, brüllt er mich an.
„Lass mich los, Beliar. Du machst mir Angst“, verlange ich, mich aus seinem Griff windend. Er ignoriert meine Gegenwehr und raunt: „Hat er dich genommen? Wie lange geht das schon so hinter meinem Rücken? Ist das der Grund, warum du mir deinen Körper verweigerst? Besorgt es dir ein anderer? Wäschst du dich deshalb so häufig, weil du eine Hure bist?“, knallt er mir vor die Füße. Wow, alter Schwede. Mir klappt die Kinnlade runter.
„Hast du den Verstand verloren, Mann?“, raune ich wild.
Beliar brüllt so laut auf, dass ich Angst habe, er lässt einen Fluch auf mich los. Ich versuche, meine Magie zu benutzen, um ihn wegzustoßen, schaffe es aber nicht. Meine Zauber wirken wohl genauso wenig an ihm, wie die seinen an mir.
Mit aller Kraft boxt er neben meinen Kopf auf die Fliesen, die sogleich mit einem lauten Klirren zerspringen. Ich bin wie erstarrt. Beliar auch. Ich glaube, in seiner blinden Wut hat er die Beherrschung verloren und erkennt das jetzt auch selbst.
Sogleich tritt er zurück und lässt mich los. Meine Knie gegen nach, was mich an der Wand entlang zu Boden rutschen lässt. Beliars Augen sind schreckgeweitet und er stolpert förmlich rückwärts.
Junus ist an meiner Seite und streicht mir über die Wange. Mein ganzer Körper bebt. Wenn er herausfindet, dass Tiberius hier war, komme ich in akute Erklärungsnöte.
„Hat dich jemand berührt?“, fragt mich Junus ganz sanftmütig.
„Natürlich nicht“, lüge ich. Scheiße. Tiberius hat mich im Arm gehalten. Wie kann Beliar das merken? „Warte“, wende ich ein. „Ein Freund von dir war an der Tür und wollte dich sprechen. Ich habe ihm gesagt, du bist nicht da, daraufhin hat er sich vorgestellt. Mike. Wir haben Hände geschüttelt. Nur ganz kurz, dann ist er gegangen. Er ruft dich an“, informiere ich Junus.
Junus nickt und wendet sich Beliar zu. „Ich kenne Mike. Wir gehen zusammen auf die Universität. Seht Ihr, Herr. Da habt Ihr Eure Berührung.“ Beliar nickt stumm.
Das macht mich so wütend, dass ich aufspringe und ebenfalls brüllend auf Beliar losgehe: „Dass du es wagst, die Hand gegen mich zu erheben.“ Beliars Pranke an meinem Handgelenk hält mich davon ab, ihm die Ohrfeige seines Lebens zu verpassen. Ich will gerade mit der anderen Hand zuschlagen, da zerrt mich Junus von ihm weg.
„Hope, hör auf“, befiehlt er mir.
Wild reiße ich mich von Junus los, kralle mir ein Handtuch und trete aus dem Badezimmer. Beliar nimmt die Verfolgung auf.
„Hope, warte.“ Er klingt so, als würde es ihm leidtun. Zu spät. Jetzt kann er was erleben.
Herausgefordert stelle ich mich ihm entgegen. „Worauf soll ich denn warten, Beliar? Darauf, dass du mir endlich vertraust?“
„Ich lag falsch. Verzeih mir“, stößt er geläutert aus.
Ich schnaube empört. „Vertraust du mir?“, teste ich ihn.
„Ja“, antwortet er. Wow, was für ein Arschloch.
„LÜGNER“, brülle ich wie von Sinnen. Junus zieht hinter mir scharf die Luft ein. Es wird Zeit, zurückzuschlagen.
Wild erkläre ich: „Dass du es wagst, von Vertrauen zu sprechen. Ich habe das Blatt gefunden. Es lag in meinem Bett, unter dem Kissen.“ Blöderweise hat es Beliar dort liegenlassen. Das muss ich fast gegen ihn verwenden.
„Welches Blatt?“, will Junus wissen.
Meine Antwort ist an Beliar gerichtet. „Efeu. Ich wollte wissen, wozu es gut ist, da habe ich im Internet danach gesucht. Ich dachte, du wolltest es unter mein Kissen legen, damit meine Alpträume weggehen oder, dass es mich in deiner Abwesenheit beschützen soll.“ Ich lächle. „Ich hab mich sogar über diese Aufmerksamkeit gefreut.“ Okay, das ist gelogen, aber es dient der Melodramatik. „Nun, du kannst dir sicher vorstellen, wie verblüfft ich war, als ich herausfand, dass man es zur Identifikation von schwarzen Hexen benutzt. Es soll angeblich Schmerzen verursachen, die einen in den Wahnsinn treiben. Und dreimal darfst du raten, wo man es der Hexe reinsteckt? Hast du mich deshalb dazu gedrängt, mit dir zu schlafen? Aber ich wollte keine voreiligen Schlüsse ziehen. Dich nicht aufgrund dieser wagen Indizien verurteilen.“ Kleiner Seitenhieb wegen der Szene vorhin übrigens. „Daher habe ich nach der Bedeutung der Lavendelsalbe gesucht. Volltreffer. Rate mal, wofür man sie benutzen kann? Wiederum findet man heraus, ob die Hexe dunkle Magie in sich trägt. Man braucht ihr einfach nur die Salbe auf die Haut aufzutragen und sie wird das Gefühl haben, zu verbrennen. Die Wirkung hält angeblich tagelang an. Wolltest du mir damit Schmerzen zufügen? Mich als schwarze Hexe entlarven? Bin ich etwa in deinen Augen eine Besessene, die böse ist? Ist es das, was du siehst? Ein Monster mit dunklen Symbolen auf der Haut? Was hättest du getan, wenn mich deine Tests als schwarze Hexe entlarvt hätten? Hättest du mich geschlagen, wie du es vorhin tun wolltest? Hättest du mich mit eigenen Händen getötet? Zweifelst du an meiner Identität? Suchst du vielleicht schon nach einer anderen Frau, die der Beschreibung deines Sehers entspricht? Gefällt dir nicht mehr, was du siehst? Bist du mir bereits überdrüssig und suchst nach Gründen, mich gegen eine andere auszutauschen?“ Beliar ist sprachlos, denn ich habe wohl den Nagel auf den Kopf getroffen. So ein Späher ist schon praktisch. Junus sieht vollkommen fertig aus.
Ich trete ein paar Schritte zurück und reiße die Augen auf. „Es ist also wahr. Du hast bereits eine Hexe gefunden, nicht wahr? Eine, die mich ersetzen wird, wenn deine Tests erfolgreich sind und ich nicht Junus‘ Schwester bin“, mutmaße ich.
„Ich bin ihr heute begegnet“, gesteht Junus. „Aber sie ist nicht meine Schwester. Ich kenne diese Frau nicht. Du bist meine Schwester“, versucht er mich zu besänftigen.
„Beliar glaubt dir nicht, Junus. Ich sehe es ihm an“, wende ich ein. „Wo ist der DNS-Test? Ich will ihm Beweise liefern“, bluffe ich.
„Das Labor hat mich heute angerufen. Die Tests sind verlorengegangen. Wir müssen nochmal Blut hinschicken“, informiert mich Junus. Das ist wohl das Werk von Tiberius.
„Weißt du was“, verkünde ich. „Ihr habt doch schon Ersatz für mich. Wieso nimmst du nicht das Blut deiner anderen Schwester?“ Junus‘ Blick wirkt schmerzverzerrt.
Jetzt wappne ich mich für den finalen Schlag. Mein Blick schwenkt zu Beliar, daraufhin brülle ich: „Hast du sie schon genommen? Wie lange geht das schon so hinter meinem Rücken? Besorgst du es ihr? Trägt sie vielleicht schon dein Kind in sich? Ist das der Grund, warum du unbedingt willst, dass ich eine andere bin? Gefällt sie dir? Ist sie unterwürfig, so, wie du es gerne hast? Ist sie hübsch? Hat sie schwarzes, langes Haar? Kniet sie vor dir? Nennt sie dich Herr? Wartet sie in deinem Gemach auf dich? Gehst du deshalb in letzter Zeit so oft zurück in deine Zeit?“ Ich schüttle den Kopf. „Du bist echt das Letzte, Beliar. Weißt du was? Ich werde es dir leicht machen. Mit dem heutigen Tage lege ich den Namen Ador ab. Die Frau kann meine Identität haben. Ich schenke sie ihr sogar, denn ich will sie nicht mehr. Ich will nichts mehr besitzen, was mich mit dir verbindet, du Scheißkerl. Sie kann dich haben. Ich stehe euch nicht mehr im Weg. Vielleicht werde ich sogar eine schwarze Hexe, extra für dich, damit du ohne schlechtes Gewissen deine Ador-Hexe vögeln kannst.“ Tränen fluten meine Augen. „Und jetzt raus hier“, ergänze ich.
Beliar mustert mich intensiv, geht aber glücklicherweise sofort. Ich stoße einen gequälten Laut aus, als er zur Tür raus ist. Mein Bruder umarmt mich fest. Dieser Mistkerl hat mir gerade das Herz gebrochen.
„Schhhh, Kleines, ist schon gut. Ich bin hier“, flüstert mein Bruder, damit ich mich beruhige.
Ich presse mich an ihn und lasse alles raus. Auch den Schmerz über die Erkenntnis, dass Junus gar nicht mein leiblicher Bruder ist. Sogleich balle ich die Fäuste und drücke ihn sanft von mir.
„Du weißt, dass ich dich liebe, egal was sie sagen, egal was passiert. Du weißt es doch, Bruder?“, flehe ich ihn förmlich an.
„Ja Schwester, ich weiß es. Niemand wird es schaffen, einen Keil zwischen uns zu treiben“, bestätigt er.
Ich streiche über sein Handgelenk. Junus fährt mir mit der Hand durch die Locken und küsst meine Stirn. Daraufhin trägt er mich in mein Zimmer und legt sich zu mir aufs Bett, wo er mich fest an sich zieht.
An seine Brust gekuschelt warte ich, bis er eingeschlafen ist. Daraufhin löse ich mich sanft von ihm und hole die Tasche aus dem Flurschrank, die ich bereits vorbereitet habe. Den Brief für Junus lege ich ihm an die Stelle, an der ich bis vor Kurzem noch lag.
Junus,
ich habe heute erfahren, dass ich nicht deine leibliche Schwester bin. Das hat mich ganz schön aus der Bahn geworfen.
Darüber hinaus weiß ich jetzt, dass ich eine schwarze Hexe bin. Beliars Tests haben mich entlarvt, auch wenn er davon nichts bemerkt hat. Komisch, ich weiß gar nicht, was eine schwarze Hexe ist. Ich weiß nicht, was der Unterschied zwischen unserer Magie ist, aber eins weiß ich genau. Ich will nicht böse sein. Will nicht zu einem Monster werden. Deshalb gehe ich fort.
Niemals lasse ich mich für die Zwecke anderer missbrauchen – auch nicht von meinesgleichen. Natürlich ebenfalls nicht von Beliar, der mich einsperren und foltern will, damit er an Informationen über die Gilde kommt. Ich vermute, er wird mich sogar dazu zwingen, sie auszuspionieren.
Das Beste ist, ich weiß gar nichts über irgendeine Schwarze Gilde. Will auch nichts darüber wissen, wer mich für welchen Zweck gegen deine Schwester ausgetauscht hat.
Ich habe jedes Wort ernst gemeint. Ich liebe dich. Es ist mir egal, ob in unseren Adern dasselbe Blut fließt. Für mich bist du mein Bruder, auch wenn unsere Kindheitserinnerungen manipuliert wurden, haben wir dennoch gemeinsame Erinnerungen, die wahr sind.
Ich weiß nicht, wer ich bin. Alles, was ich weiß ist, dass ich gerade alles verloren habe.
Ich wollte nie ein Leben in Flucht führen, das weißt du, aber sieht so aus, als ob es das Leben ist, das mir vorherbestimmt ist. Egal wie sehr ich mich dagegen wehre, es scheint immer die einzige Alternative zu bleiben.
Bitte such nicht nach mir – du wirst mich nicht finden.
Mach dir keine Sorgen um mich. Wie ich bereits sagte, die Verrückten kommen immer irgendwie durch.
In Liebe
Deine Schwester
Mein Rabe bringt den zweiten Brief zu Beliar.
Beliar,
Ich habe mich auf den ersten Blick in dich verliebt. Zwischen damals und heute ist viel passiert, aber dennoch stehe ich am Anfang. Ich habe keine Erinnerungen. Weiß nicht, wer ich bin. Da ist nur die Liebe zu dir und zu Junus in mir. Wie ein Anker hält sie mich fest, damit ich nicht vor Angst den Verstand verliere.
Ich weiß jetzt, dass ich keine Ador bin. Mein Name ist nicht Hope. Junus ist nicht mein leiblicher Bruder. Ich bin keine weiße Hexe.
Deine Tests waren erfolgreich. Mein Rücken schmerzt immer noch und den Geruch dieser ekelhaften Salbe bekomme ich nicht mehr aus der Nase. Die Angst vor den Schusswaffen und die daraus resultierende Abneigung gegen den Wein, den du mit deinem Blut versetzt hast, waren aber nicht gelogen.
Weißt du, ich habe absolut keine Ahnung, was es bedeutet, eine schwarze Hexe zu sein. Zuallererst hatte ich ein Bild von einer verrückten, buckligen Hexe mit Warze auf der Nase im Kopf, aber du weißt ja, wie krank meine Phantasie ist.
Ich will nicht zu dem Monster werden, das du in mir suchst. Um ehrlich zu sein, will ich auch gar nicht wissen, was eine schwarze Hexe ausmacht. Davor habe ich unsagbare Angst.
Ich spiele mit dem Gedanken, mir selbst meine Kräfte zu nehmen und sie irgendwo ganz tief im Ozean zu versenken, damit ich nicht besessen werde oder den Teufel anbete. Wobei wir wieder bei der kranken Phantasie wären.
Ich gehe fort, damit mich niemand für seine Zwecke missbrauchen kann. Weder diejenigen, die mich gegen Junus‘ Schwester getauscht haben – wer immer das auch war – noch du selbst. Ich will keine Marionette sein. Das wollte ich niemals.
Ich habe dir gesagt, ich will einfach ein normales Leben führen und daran halte ich fest. Nein, falsch – ich sagte, ich will ein normales Leben mit dir führen.
Auch wenn es mir schwerfällt, verstehe ich, warum das nicht möglich ist ... Nein, eigentlich verstehe ich gar nichts. Um ehrlich zu sein, habe ich keine Ahnung, warum weiße und schwarze Hexen Feinde sind. Ich verstehe auch nicht, warum wir nicht zusammen sein können. Aber dass das für dich nicht infrage kommt, hast du ja mehr als deutlich klargemacht.
Woher ich das weiß? Ich lasse dich von meinem Raben beobachten, daher war ich auch vor den Tests gewarnt. Es tut mir nicht leid, dich ausspioniert zu haben – das Efeublatt vor Augen.
Das erste Mal war reiner Zufall. Ich wollte dich in deiner Burg besuchen, da habe ich die Hexe in deinem Arbeitszimmer gesehen. Du hast sie getestet und an der Art, wie du ihr Haar berührt hast, wusste ich, dass ich dich verloren habe. Damit hast du mir unsagbar wehgetan. Ich hatte Angst, du könntest hören, wie mein Herz entzweibricht.
Du vertraust mir nicht, also vertraue ich dir nicht. Das ist das Aktions-Reaktionsprinzip.
Auch wenn ich keine Beweise vorbringen kann, sage ich dir, dass ich nichts davon wusste, dass mich irgendjemand auf dich ansetzen wollte. Du kannst mir das aufs Wort glauben oder auch nicht – das obliegt dir.
Ich weiß nichts über die Schwarze Gilde, will auch nichts darüber wissen. Vielleicht wusste ich es sogar. Möglicherweise haben sie es mich einfach vergessen lassen. Die Erinnerungen sind wahrscheinlich in irgendeiner Murmel, die jemand um den Hals trägt, aber es ist mir egal – ich will sie nicht.
Der bloße Gedanke an dich, bereitet mir unsagbare innere Qualen. Die Wunde ist wohl vergleichbar mit den Kratzern auf meinem Rücken. Sie werden immer schmerzen und nie ganz heilen.
Ich versuche, nicht zurückzublicken – du solltest dasselbe tun.
Gerade im Moment weiß ich gar nicht, wie es weitergehen soll. Ich habe alles verloren. Meine Familie, meinen Bruder, meine Identität, meine Liebe.
Was bleibt dann noch von mir – frage ich mich die ganze Zeit über. Ich habe keinen Plan und du weißt ja, wie gerne ich plane.
Aber weißt du, was das Schlimmste ist? Was mich echt fertigmacht?
Ich liebe dich immer noch wie am ersten Tag, du Mistkerl.
Dein Weib
Ohne noch einmal zurückzublicken, verlasse ich die Wohnung.