Читать книгу Wer braucht schon Zauberfarben? - Marie Lu Pera - Страница 5
Rot
ОглавлениеZu Hause angekommen, reiße ich die Nachricht, die ich meinem Bruder bezüglich meines Aufenthaltsortes hinterlassen habe, vom Kühlschrank und lasse sie in meiner Hand in Flammen aufgehen. Junus braucht nicht zu erfahren, wo ich war.
Beliar könnte Verdacht schöpfen. Wenn rauskommt, dass ich von seinen Plänen weiß, hab ich ein Problem.
Ich bin so fuchsteufelswild, die kalte Dusche, die ich mir soeben verpasse, vermag kaum, mich abzukühlen.
Ja okay – ich gebs zu. Ein paar Tränen habe ich vergossen. Aber Weinen unter der Dusche hat den Vorteil, dass man hinterher nicht voll verheult aussieht. Zumindest fällt es weniger auf, weil man ja sowieso überall runzlig wird.
Der Spiegel enttarnt dann abermals den blanken Horror. Erneut springen mir ein paar weiße Haare förmlich entgegen. Ich fass es nicht, ich bin sechzehn, verdammt nochmal. Das ist wieder mal so typisch für mich. Alle anderen bekommen zumindest zuerst graue Haare, bevor sie weiß werden und das auch erst Jahre später. Nur ich nicht. Nein, ich überspringe mal so mir nichts, dir nichts eine ganze Generation und mutiere gleich zu einer Omi.
Wütend reiße ich mir drei von diesen Dingern aus. Sag nicht, ich muss schon Haare färben. Ich dachte, ich hätte noch ein paar Jahrzehnte, bevor das so weit ist.
Wahrscheinlich hat der Stress der letzten Monate bereits Spuren hinterlassen, was meinen Alterungsprozess beschleunigt hat. Eins ist klar, wenn ich jetzt die ersten Falten kriege, dreh ich durch.
Mann, jetzt bin ich echt deprimiert. Ja und vielleicht suche ich gerade nach Falten unter meinen Augen. Die blöde Hexe, die ihm Nadar untergeschoben hat, weist sicher keinen einzigen Makel auf – an ihr sehen selbst die abstehenden Ohren gut aus.
War ja klar, dass Beliar gleich auf dieses Trojanische Pferd aufspringt. Objektiv betrachtet ist sie seine Traumfrau. Die unterwürfige Dienerin, die ihm alle Wünsche von den Augen abliest. Nicht die zickige Neuzeithexe, die einen auf emanzipiert macht und schon mal aus Prinzip nicht das tut, was er von ihr verlangt.
Da ich aber absolut nicht vorhabe, mich in dieser Hinsicht in irgendeiner Art und Weise zu verstellen, würd ich eher einen Besen fressen, als seinem vermeintlichen Ideal zu entsprechen. Entweder er nimmt mich so, wie ich bin oder … Ich merke gerade, wie überaus unwahrscheinlich es ist, dass er sich für mich entscheidet, sollte ich nicht die sein, die ich bin. Nachdem ich ja kaum etwas zu bieten habe, außer meinem Namen. Was bleibt dann noch von mir, frage ich mich die ganze Zeit über?
Okay, dieser Quacksalber schafft es sogar schon, dass ich selbst an meiner Identität zweifle. Mann, ist das ein heilloses Durcheinander.
Gut, dass Beliar erst in ein paar Tagen zurückkommt. Ich will nämlich noch ein bisschen runterkommen, bevor er versucht, mich zu hintergehen. Zum Schluss kann ich mich nicht zurückhalten und die „Besessene“, für die er mich hält, bricht durch. Oder die Heulboje, kommt drauf an, wie weit mich bis dahin schon die Midlife-Crisis im Griff hat.
Warte mal. Hör jetzt sofort auf damit, in Selbstmitleid zu zerfließen, ermahne ich mich. Der Seher hat recht. Ich bin eine Frau aus dem 21. Jahrhundert. Auch ohne Männer sind wir überlebensfähig. Ich bin Hope Dewitt beau Ador verdammte Scheiße nochmal – und das zeige ich jetzt auch.
Schnell krame ich in meinem Schrank nach meinen Hotpants und dem bauchfreien Shirt. Ich brauch jetzt einen Schuss Neuzeit, bevor ich durchdrehe.
Zurück im Wohnzimmer lasse ich mit einer Handbewegung die Couch inklusive Tisch verschwinden, damit ich Platz habe und drehe MTV auf Anschlag auf.
Mann, tut das gut. Ich beginne sogleich Musikvideos nachzuträllern und zu tanzen. So, wie ich es eigentlich immer getan habe, wenn ich mal abschalten wollte. Damals, als ich noch ein „normaler“ Teenager war, dessen einziger Grund, graue Haare zu bekommen, der Kampf gegen die drohende Zahnspange war. Es kommt mir vor, als wäre es ein anderes Leben gewesen, das unendlich weit zurückliegt.
Gerade läuft „Single Ladies“ von Beyoncé. Passt doch perfekt. Nach all den Jahren, die ich vor der Glotze verbracht habe, kann ich die meisten Videos auswendig. Ist irgendwie befreiend.
Christina Aguileras „Express“ aus dem Film Burlesque startet genau in dem Moment, als Beliar zur Tür reinkommt. Verdammt, wieso ist er schon zurück? Ich hab doch noch gar keinen Plan.
Mein Selbstbewusstsein fällt wie ein Kartenhaus in sich zusammen und der Kerl, der soeben sexy am Türrahmen lehnt, ist der Windstoß, der es umfegt. Der Schock über seine frühe Rückkehr sitzt mir kurz in den Knochen, aber ich balle die Fäuste, lächle ihm lasziv zu und beginne zu singen. Dabei denke ich daran, dass das hier mein Spiel ist. Wenn er glaubt, ich würde nicht kämpfen und die Waffen einer Frau ausspielen, hat er sich in mir getäuscht. Ich hexe mir einen Stuhl, damit das hier auch eine gute Show wird.
Wollen mal sehen, wer hier die Ador-Hexe ist, die dir gleich ganz ohne Zauberkräfte den Kopf verdrehen wird. Natürlich lasse ich es mir nicht nehmen, mich sexy auf dem Stuhl zu räkeln und ihn dabei keine Sekunde aus den Augen zu lassen. Ich ziehe ihn förmlich mit meinen Blicken aus.
Die Wut in meinem Bauch heizt mich noch zusätzlich an. Ich gebe alles, baue meine Tanzelemente ein und lasse mich vollkommen gehen. Die Faszination in seinem Blick gibt mir zugegebenermaßen die Genugtuung, die ich im Moment bitter nötig habe.
Um ihn noch mehr um den Finger zu wickeln, komme ich auf ihn zu, ziehe ihn an der Hand in die Mitte meines Tanzbereiches, werfe das Bein hoch an seine Schulter und drücke ihn auf den Stuhl. Er stöhnt, als ich mich rücklings auf seinen Schoß setze und mein Becken kreisen lasse. Ja Baby, genieße es. Das ist alles, was du von mir bekommst.
Wenn er sich mit mir anlegt, muss er damit rechnen, dass das hier überaus gemein wird, denn ich habe vor, ihn zuerst so richtig schön aufzuheizen, bevor ich ihn eiskalt abblitzen lasse. Ich werde ihm den Verstand rauben, bis es ihm egal ist, wer oder was ich bin. Zumindest vorerst, bis ich einen besseren Plan habe.
Sogleich drehe ich mich um, lasse mich vor ihm in einen Querspagat fallen, nur um mich daraufhin wieder auf seinen Schoß zu setzen. Diesmal aber so, dass ich ihn ansehen kann. Ich will auf jeden Fall sein Gesicht sehen, wenn ich gleich die Notbremse bei voller Fahrt ziehe.
Plötzlich bricht seine Selbstbeherrschung weg. Mit einem männlichen Laut krallt er sich in meinen Nacken. Keinen Wimpernschlag später spüre ich seine Lippen auf den meinen.
Der Kuss ist so wild, dass selbst ich dahinschmelze, obwohl ich wütend auf ihn bin. Zu meiner Verteidigung: Der Mann weiß einfach, wie man eine Frau anfassen muss. Wenn ich nicht aufpasse, raubt er mir den Verstand. Vor allem weil ich spüre, wie erregt er bereits ist.
Er lehnt sich mit mir vor. Kurz drohe ich, rücklings vom Stuhl zu fallen, kralle mich an seinem Nacken fest, doch er drückt sich immer weiter auf mich. Wir fallen und landen sanft auf der Couch. Er muss sie hierher zurückgehext haben, als ich durch seine heißen Küsse abgelenkt war. Sein Körper kommt auf meinem zu liegen.
„Du verstehst es, einem Mann die Sinne zu rauben. Ich bin nie einem schöneren Geschöpf als dir begegnet“, haucht er mir ins Ohr. Verdammt, ich will diesen Kerl, auch wenn er mich nicht verdient hat.
„Auch das war nicht für die Augen anderer bestimmt“, erkläre ich.
„Dann bin ich zur rechten Zeit gekommen.“ Beliar beginnt bereits Küsse auf meinen Bauch zu verteilen. Ich schließe die Augen, weil das so guttut.
Meine Hände krallen sich in der Couch fest. Mann, diese Keuschheitsnummer ist schwerer durchzuhalten, als ich dachte, aber schlussendlich stoppe ich ihn mit einem bestimmten „Beliar“ – das Efeublatt vor Augen.
Er taucht wieder über meinem Kopf auf und legt mir den Finger auf die Lippen. „Schhhh, lass dich fallen, Hope. Schlaf mit mir“, verlangt er. Halleluja, jetzt packt er die Waffen eines Mannes aus.
Mit rauer Stimme ziehe ich nun endgültig die Reißleine, bevor ich hier im freien Fall aufschlage. „Ich kann nicht.“
Beliar stoppt das Knabbern an meinem Hals und sieht mich überrascht an. „Weshalb?“, will er wissen.
Verdammt, jetzt muss ich wieder mal tief in die Weibchenkiste greifen. „Weil ich das hab, was Frauen so haben … einmal im Monat.“ Das ist nicht mal gelogen. Hoffentlich hält es ihn mir vom Leib.
Beliar streichelt meine Locken und erklärt: „Das macht mir nichts aus.“ Ich reiße die Augen auf. Alarmstufe Rot, im wahrsten Sinne des Wortes. Das geht ja mal gar nicht.
„Schön für dich, aber glücklicherweise habe ich dabei auch noch etwas mitzureden“, stoße ich energisch aus.
„Ich werde ganz vorsichtig sein“, verspricht er. Ja, das kann ich mir vorstellen. Und dabei wirst du mir ganz „vorsichtig“ das Efeublatt unterjubeln.
„Lass uns doch einfach nur kuscheln“, schlage ich vor. Ich fass es nicht, dass ich das gerade gesagt habe.
Sein Blick spricht Bände, aber er drängt mich nicht dazu. Stattdessen zieht er mich in seine Arme und streichelt über meinen Rücken. Er hat sichtlich Mühe, runterzukommen.
„Ich hole uns etwas zu trinken“, informiert er mich, bevor er aufsteht.
Enttäuscht verziehe ich mich in mein Zimmer. Mann, er will alle Tests auf einmal durchziehen. Kaum zu glauben. Wenn er jetzt mit dem Wein ankommt, garantier ich für gar nichts mehr. Das nenn ich echt mal einen tiefen Fall – vom siebten Himmel in die Hölle auf Erden.
Natürlich – wie kann es auch anders sein – kommt er wenig später mit zwei Gläsern Rotwein zur Tür rein. Na warte. Jetzt pass mal auf. Du willst Krieg, den kannst du haben. Und jetzt werden schwere Geschütze aufgefahren.
Ich mustere die Gläser und atme tief durch. Dabei versuche ich, vollkommen verängstigt auszusehen.
„Was ist mit dir?“, fragt mich Beliar mit gerunzelter Stirn. Damit mein Schauspiel wirkt, ziehe ich die Knie an meinen Körper und kralle die Finger in mein kurzes Haar. Ich zittere sogar leicht.
„Hope. Sag mir, was dir fehlt?“ Beliar hat die Gläser auf dem Nachttisch abgestellt und streichelt über meinen Rücken. Okay, Start.
„Tut … tut mir leid, ich …“ Meine Stimme lasse ich leicht brechen.
Beliar versteht die Welt nicht mehr, da kläre ich ihn auf: „Er … er hatte eine Schusswaffe.“
„Wer?“, will Beliar wissen.
„Der Hexer, der mich in Paris in seine Wohnung verschleppt hat. Weißt du … eigentlich macht mir nicht so schnell etwas Angst, aber die Waffen unserer Zeit sind grausame Erfindungen. Er … er hat mich damit bedroht. Ich … ich hab da einen kleinen Schwachpunkt. Sie machen mir unglaubliche Angst. Das ist nicht wie in deiner Zeit. Es ist kein fairer Kampf, wie mit euren Schwertern. Bei diesen Waffen ziehst du immer den Kürzeren. Die Projektile bohren sich in deinen Körper und du stehst nicht mehr auf. Sie töten dich, bevor du weißt, was passiert ist. Er hat gesagt, ich soll mich ausziehen und … aus Furcht, er könnte die Waffe gegen mich richten, habe ich es getan. Ich hätte alles getan, was er verlangt hätte, weil ich solche Angst hatte.“ Das ist nicht mal gelogen. „Der Hexer hat … mich angeglotzt, hat mich sogar gezwungen, mich im Kreis zu drehen, damit er … alles sehen kann. Dann hat er mir dieses Kleid gegeben. Seine Blicke waren das Schlimmste. Ich dachte, gleich … vergewaltigt er mich. Daraufhin hat er mich gezwungen, fast die ganze Flasche Rotwein zu trinken. Die Gläser musste ich in einem Zug leeren. Der Wein in deiner Hand hat … mich daran erinnert, ich … kann das nicht trinken … ich …“ Eine Träne läuft mir sogar aus dem Augenwinkel. Mann, bin ich gut.
Beliar zieht mich an sich heran. „Verzeih mir. Das war nicht meine Absicht, dich daran zu erinnern. Junus gab dem Hexer den Befehl, dich nicht anzurühren. Wenn ich gewusst hätte, dass er dir solche Angst eingejagt hat, hätte ich ihm noch in derselben Nacht gezeigt, was es heißt, Angst zu verspüren“, verkündet er.
„Beliar?“
„Ja?“
„Manchmal frage ich mich, ob meine Symbole etwas damit zu tun haben, dass ich augenscheinlich das Unglück gepachtet habe. Dabei will ich doch nur glücklich sein. Nichts weiter. Ein normales Leben führen. Mit dir.“ Die letzten Worte sind mir rausgerutscht.
Beliar hebt mein Kinn an und mustert mich intensiv. Ich weiß, was er gerade denkt. Er fragt sich, ob ich tatsächlich eine böse Knusperhexe bin oder ob sich der Seher nicht doch in mir täuscht.
„Du wirst nicht vom Unglück verfolgt, Hope“, erklärt er. Und wie nennst du das sonst, was hier abläuft?
Ich lächle. „Hey, ich habe gute Nachrichten“, erkläre ich.
„Tatsächlich?“, stößt er überrascht aus.
„Ich habe getan, was ihr wolltet. Heute Morgen hat mir Junus Blut für den Test abgezapft. Zugegebenermaßen habe ich etwas überreagiert. Mein Bruder sagte mir, dass sie dich wegen der Geschichte, die der Seher herumerzählt, unter Druck setzen. Natürlich weiß ich, dass du voll hinter mir stehst.“ Von wegen. „Da habe ich meinen Stolz, den ich laut Junus von meiner Mutter geerbt habe, kurz vergessen und klein beigegeben. Siehst du Beliar, ich kann durchaus das tun, was du von mir verlangst. Warts ab, vielleicht wird aus mir doch noch die Frau, die du dir wünschst.“ Ich sagte vielleicht – wohlgemerkt. Aus mir wird nicht in hundert Jahren so ein unterwürfiges Püppchen.
„Ich arbeite daran“, ergänze ich. „Siehst du.“ Ich krame nach dem Buch, das ich mir gekauft habe.
Beliar liest den Titel der Lektüre, die ich ihm sogleich vor die Nase halte, laut vor: „Das Frauenbild im Mittelalter: Behütende Mütter im Schatten der Männer.“ Nur so nebenbei bemerkt, so einen Schwachsinn würd ich niemals lesen, aber ich brauche es, um ihm stückweise zum absolut schlechtesten Gewissen seines Lebens zu verhelfen.
„Ich lerne, wie Männer im Mittelalter denken“, verkünde ich stolz. Im Traum.
Beliar grinst. „Ich glaube, jetzt setzt du dich zu sehr unter Druck, Hope. Entspanne dich. Wieso legst du dich nicht hin und lässt dich von mir verwöhnen. Dafür habe ich genau das Richtige mitgebracht. Eine duftende Salbe aus Lavendelextrakt.“ Das würde sich unsagbar verlockend anhören, hätte ich ihr Gespräch nicht belauscht.
Ich lächle. „Echt? Na dann her damit“, pruste ich energisch. Ich fasse es nicht, dass er das jetzt durchzieht. Hat er denn nicht zugehört?
Sogleich zieht er ein kleines Gefäß, das aussieht wie ein Marmeladenglas, heraus und öffnet den Stoffdeckel, der mit einem Faden verschnürt ist.
Ich glaube, ich habe noch nie etwas Ekelhafteres gerochen. Mit übermenschlicher Kraft halte ich mein Lächeln aufrecht und meine Galle zurück. Mein Magen dreht sich bereits um die eigene Achse.
Im nächsten Augenblick hält er mir das Teil direkt unter die Nase. Ich nehme einen tiefen Atemzug. So schnell ich kann halte ich daraufhin die Luft an. Meine Fresse, ich kotz gleich.
„Hmmmmmm, himmlisch“, schwärme ich, wobei ich mich frage, womit ich das hier verdient habe. Verdammt, bin ich echt eine schwarze Hexe? Das gibt’s doch nicht.
Beliar sieht total erleichtert aus. „Leg dich hin“, verlangt er. Nein bitte, trag mir das stinkende Zeug nicht auf meine Haut auf. Davon krieg ich noch Ausschlag oder Ebola.
Ich habe aber keine Wahl, wenn ich mich nicht selbst verraten will. Beliar zieht mir außerdem schon das Shirt über den Kopf.
Der Seher sagt, es wird wie Feuer brennen. Na toll, das sind ja gute Aussichten. Schätze, da muss ich jetzt durch. Wobei wir wieder beim Unglück wären – so schließt sich der Kreis.
Ich tue, was er sagt und lege mich bäuchlings auf die Matratze. Beliar nestelt an meinem BH, kriegt ihn aber nicht auf. Tja, zumindest das haben die Männer aus dem Mittelalter mit den Kerlen aus meiner Zeit gemeinsam. Ich helfe ihm, den Verschluss zu öffnen. Als ich eine Berührung an meinem Rücken spüre, zucke ich sogar leicht zusammen.
„Erschreckst du dich bereits vor meinen Küssen?“, stößt er überrascht aus. Verdammt. Glücklicherweise waren es nur Beliars Lippen, die er über meinen Körper zieht. Noch, wohlgemerkt.
„Meine Haut ist sehr empfindlich in dieser Zeit“, rede ich mich raus.
„Sie ist wie Seide. Ich habe nie etwas Geschmeidigeres berührt“, schwärmt er. „Du bist wunderschön“, haucht er mir ins Ohr, während er meinen Hals küsst. Ich stöhne sogar vor Wonne. Er ist wohl noch auf Kuschelkurs. Die Betonung liegt hierbei auf „noch“.
Als er die Salbe auf meinen Rücken aufträgt, zucke ich wieder zusammen. Das brennt wie Feuer, ich halts nicht aus.
„Hope?“, fragt er, wahrscheinlich in Bezug auf meine erneute Zuckung.
„Die Salbe ist kalt“, lüge ich. Er beginnt, sie auf meinem ganzen Rücken zu verreiben. Ich stöhne, diesmal aber vor Schmerz. Verdammt.
Schnell werfe ich ein „Hmmmm, das tut so gut Beliar“ hinterher. Von wegen, ich verrecke gleich. Das ist vergleichbar mit glühenden Kohlen, die er mir gerade auf den Rücken presst. Auch wenn ich es wollte, das Dauerstöhnen könnte ich nicht unterdrücken.
„Wenn ich gewusst hätte, dass du auf meine Massage so ansprichst, hätte ich sie dir nicht so lange vorenthalten“, erklärt er, während er seine Pranken über meine Rückseite gleiten lässt. Hab Erbarmen, Mann. Ich kipp bald weg.
„Warts ab, bis ich dich massiere“, krächze ich. Bitte hör auf, ich sterbe gleich. Das ist pure Folter.
„Ein sehr verlockender Gedanke“, haucht er. Gefühlte Minuten später lässt Beliar von mir ab und legt sich neben mich – ebenfalls auf den Bauch, damit ich ihn nun „verwöhnen“ kann.
Mühevoll rapple ich mich hoch. Ich atme ein paar Mal tief durch, damit ich die Schwärze aus meinen Augen vertreiben kann, die sich dort auszubreiten droht. Das Feuer fegt immer noch in Wellen über meinen Rücken.
Wie in Trance setze ich mich auf seinen Hintern und streiche mit den Fingern über seine Muskeln. Ich bin so fertig, dass mein Oberkörper im nächsten Augenblick auf seinen Rücken sackt.
Beliar stöhnt laut, wahrscheinlich, weil meine nackte Brust auf seine Rückseite aufgetroffen ist. Schnell schüttle ich den Kopf, um bei Bewusstsein zu bleiben und tue so, als wäre das Absicht gewesen.
Als Ablenkungsmanöver knabbere ich an seinem Hals. Dabei hauche ich ihm mit kratziger Stimme „Gefällt dir das?“ ins Ohr.
„Mehr als das. Hör nicht auf“, raunt er.
Mühevoll stemme ich mich hoch und beginne, seine Schultern zu massieren. Er ist total verspannt.
Meine Hände bearbeiten seine Muskeln mit aller Kraft, was vor allem dazu dienen soll, meine Schmerzen zu kompensieren und meine Aggressionen an dem Folterknecht auszulassen. Beliar stöhnt unaufhörlich. Ich auch, aber nicht aus denselben Gründen wie er. Erneut geben meine Arme nach. Wieder pralle ich auf ihn. Ich halt das nicht mehr aus.
„Beliar, du bringst mich um …“ Verdammt, meine Stimme bricht „… den Verstand“, ergänze ich, als ich wieder zu Atem komme. „Du bist so heiß“, schwärme ich. Mir bricht der Schweiß aus, denn innerlich bin ich gerade am Verglühen.
Erinnere mich daran, diesem Seher eine in die Fresse zu hauen, wenn ich ihn das nächste Mal treffe. Von wegen, das hält nur ein paar Minuten an.
Erneut stemme ich mich hoch. Energisch bearbeite ich seinen Rücken weiter.
Plötzlich wird meine Zimmertüre aufgestoßen. „Heilige Scheiße …“, stößt mein Bruder aus, der uns gerade erwischt hat, schlägt aber im nächsten Moment die Tür wieder zu. Wunderbar.
Ich kann nicht mal darauf reagieren, so geschafft bin ich. Meine Schmerzgrenze ist absolut erreicht.
Beliar hat die kurze Ablenkung genutzt, um sich unter mir umzudrehen. Seine Hände wandern über meinen Körper. Ich schließe die Augen, damit er den Schmerz darin nicht sieht. Zu spät, ich kann mich nicht mehr aufrecht halten. Mein Körper sackt auf den seinen. Beliars männliche Laute hallen in meinem Kopf.
„Du glühst ja förmlich vor Verlangen“, stellt er genüsslich fest. „Lass mich dich erlösen, Schönheit.“ Gute Idee, könntest du mir bitte eine verpassen, damit ich bewusstlos werde?
„Ich bin so müde“, aus meinem Munde lässt ihn dann abrupt innehalten.
„Ich bin alles andere als müde. Du hast mein Verlangen ins Unermessliche gesteigert, Sirene. Mich jetzt unbefriedigt zurückzulassen, käme einer Folter gleich.“ Ja frag mich mal. Wage es nicht, von Folter zu sprechen. Du hast ja keine Ahnung, was gerade auf meinem Rücken abgeht. Memo an mich selbst: Ich sollte mich in Zukunft von Lavendel fernhalten.
„Vielleicht habe ich Vergnügen daran, dich zu foltern“, knalle ich ihm hauchend entgegen. So wie du es anscheinend hast.
Er raunt gierig in mein Ohr: „Wie ich gerade am eigenen Leib erfahre, beherrschst du die Kunst der Folter zur Perfektion. Ich will dich … jetzt.“ Schön für dich. Ich will mir jetzt das stinkende Zeug vom Leib waschen und in Ruhe vor mich hin leiden. Vorzugsweise in dieser Reihenfolge.
Zu spät. Mein Körper hat den Kampf nun endgültig verloren. Die bittersüße Bewusstlosigkeit erlöst mich sogleich von meinen Qualen.
Ich schrecke aus dem Schlaf hoch. Beliar hält mich an seine Brust gedrückt. Er schläft glücklicherweise. Ich frage mich, ob das alles nur ein Alptraum war.
Der Schmerz, der immer noch allgegenwärtig ist und mein abartiger Gestank, überzeugen mich aber dann vom Gegenteil.
Ein Königreich für eine Dusche und eine Schmerztablette. Sanft löse ich mich von ihm. Er darf auf keinen Fall aufwachen, denn es wird immer schwieriger, ihn mir vom Leib zu halten.
Im Bad erschrecke ich mich sogar vor meinem Spiegelbild. Frankensteins Monster hatte bei seiner Erweckung mehr Farbe im Gesicht als ich. Von den Augenringen fang ich erst gar nicht an.
Als wolle mich mein Körper verspotten, hat er bereits wieder weiße Haare sprießen lassen, denen ich gleich auf die Pelle rücke. Wusste nicht, dass meine biologische Uhr schon mit sechzehn abläuft. Passt irgendwie zur Gesamtsituation.
Glücklicherweise ist auf meinem Rücken keine Rötung zu erkennen. Ich hatte schon Angst, Brandblasen zu entdecken.
Das eiskalte Wasser vermag die Hitze kaum zu vertreiben, die immer noch auf meiner Haut wütet. Zumindest ist der Schmerz jetzt halbwegs auszuhalten.
Fassen wir mal zusammen: Ich bin anscheinend eine schwarze Hexe – was immer das auch bedeutet – die mit sechzehn bereits anfängt, zu verschrumpeln.
Genervt knalle ich mir Make-up ins Gesicht, damit ich zumindest ein bisschen lebendig wirke.
In der Küche versuche ich, zu den Klängen von Juanes‘ „La Camisa Negra“ und einem Koffeinschub wach zu werden. Dabei tanze und singe ich lautstark mit, während ich Frühstück mache.
Meine Hüfte wird plötzlich von hinten festgehalten. Der Übeltäter, Beliar, presst sich einen Wimpernschlag später an meinen Rücken, was mich vor Schmerz stöhnen lässt.
„Und erneut hast du das Bett viel zu früh verlassen“, rügt er mich sanft. Ja, bin vor dir und deiner stinkenden Salbe geflohen.
Im nächsten Moment bewegt er sich zusammen mit mir zur Musik. Er will mich bereits wieder. Wer verführt hier eigentlich wen?
Ruckartig dreht er mich zu sich um und hebt mich auf die Küchenzeile. Besitzergreifend erobert er mich mit seinen heißen Küssen, während er seine Hüfte an mich presst.
Ich spüre, dass uns jemand beobachtet. Schnell löse ich mich von ihm. Dass das Beliar ganz und gar nicht gefällt, zeigt er mir mit seinem männlichen Raunen, das mir die Gänsehaut aufzieht.
Junus steht mit verschränkten Armen im Raum und mustert uns mit hochgezogenen Augenbrauen.
„Guten Morgen“, grüße ich ihn, von der Küchenplatte rutschend.
„Morgen“, stößt mein Bruder etwas zu unfreundlich aus, für meinen Geschmack.
Naja, Beliar steht mit nacktem Oberkörper in unserer Küche. Außerdem wollte er gerade über mich herfallen. Da bricht wohl sein brüderlicher Beschützerinstinkt wieder voll durch.
Ich werfe meinem Bruder die Packung mit dem Müsli hin und setze mich zu Tisch.
„Wollt ihr euch nicht setzen?“, frage ich die zwei Männer, die sich gerade gegenseitig niederstarren. Warte, das ist so ein Männer-Ding, was gerade zwischen ihnen abläuft. Wer als Erster den Blick abwendet, hat verloren.
„Kann ich dich kurz sprechen?“, will mein Bruder von mir wissen – immer noch Beliar fixierend. Oh, oh. Ein Bruder-Schwester-Gespräch. Hoffentlich wird das nicht so peinlich wie seine gescheiterten Aufklärungsversuche vor meiner Hexentaufe.
Ich nicke und trete etwas widerwillig mit ihm auf den Flur hinaus. Mein Bruder zieht mich fast grob in sein Zimmer und schlägt die Türe zu.
„Mir gefällt das nicht“, stößt er raunend aus.
„Was denn?“, hake ich nach.
„Wie er dich … ansieht und anfasst“, gesteht Junus. Oooookkkkaaayyyy.
Verblüfft wende ich ein: „Warte mal … hilf mir mal, ich hab gerade einen kurzen Realitätsverlust. Warst du nicht derjenige, der mich die ganze Zeit über zu ihm bringen wollte? Jetzt hast du doch, was du immer wolltest. Er ist das Oberhaupt – ich die passende Ador dazu. Happy End.“ Okay, mein Sarkasmus geht gerade mit mir durch.
„Ja, aber … ich weiß auch nicht. Du bist meine Schwester und Beliar ist … aus einer anderen Zeit. Die Männer im Mittelalter nehmen sich, was sie wollen. Du bist sechzehn. Ich mag es nicht, dass er dich anfasst, als wärst du sein Spielzeug, an dem er seine Triebe abreagieren kann“, verkündet Junus flüsternd. Keine Angst, zum Abreagieren ist es gar nicht gekommen.
„Ich verstehe das, Junus. Bei dir bricht gerade der Bruder durch, aber ich kann auf mich selbst aufpassen“, erkläre ich genervt.
„Er zwingt dich doch zu nichts“, hakt Junus nach.
„Nein, tut er nicht.“ Mann, hör schon auf. Damit gefährdet er meine Operation. Beliar darf nichts davon mitkriegen, dass ich etwas von der Geschichte mit der schwarzen Hexe weiß. Wenn wir hier drin tuscheln, macht ihn das sicher stutzig.
„Hope, der Mann ist stark und du bist … eine Versuchung, der kaum jemand widerstehen kann. Ich will einfach nicht, dass er dir wehtut.“ Das hat er bereits getan. „Wenn er dich irgendwie bedrängen sollte, sagst du es mir. Ich beschütze dich. Immerhin bin ich dein Bruder.“ Diese Beschützerinstinkt-Sache, die er grad abzieht, ist voll süß.
„Ja okay, ich hab die Message verstanden und jetzt lass mich hier raus“, fordere ich.
Junus nickt und erklärt: „Ach übrigens, heute bringt jemand die Testergebnisse vom Labor vorbei. Ich habe meine Beziehungen spielen lassen, damit es schneller geht.“ Dabei zwinkert er mir verräterisch zu.
Er hat Magie eingesetzt – wunderbar, dann ist die Sache zumindest bald vom Tisch. Hoffentlich, denn ich weiß immer noch nicht, was ich von dieser schwarzen Hexen-Geschichte halten soll. Vielleicht ist Junus ja auch ein schwarzer Hexer?
Hm, ich verdränge diese Gedanken lieber schnell. Es ist noch viel zu früh, um sich den Kopf zu zerbrechen.
„Könntest du zu Hause bleiben, um den Brief persönlich entgegenzunehmen? Ich will nicht, dass so etwas Privates im Briefkasten landet“, bittet er mich.
„Okay“, erkläre ich mich einverstanden. Junus küsst mich auf die Stirn, bevor er auch schon zur Uni aufbricht.
Zurück am Frühstückstisch fragt Beliar: „Was wollte dein Bruder?“ Als ob er das nicht genau wüsste. Sicher hat er uns belauscht.
„Er hat Angst, dass du mir das Herz brichst. Natürlich macht er sich umsonst Sorgen. Du würdest mir nie wehtun“, entgegne ich.
Um meine Worte noch zu unterstreichen, drücke ich seine Hand fest und küsse ihn auf die Stirn, bevor ich den Tisch abräume. Er sieht aus, als würden ihn meine Worte beschäftigen. Perfekt. Genau zu dem Zweck habe ich sie ausgestoßen.
„Ich muss heute erneut in meine Heimat zurückkehren“, erklärt er daraufhin. Gut, dass er mein wütendes Gesicht nicht sehen kann.
„Okay“, stoße ich vollkommen gelassen aus. Ich lasse es mir nicht nehmen, so zu tun, als würde mir das absolut nichts ausmachen. Natürlich stört es mich ungemein.
Will er etwa zu dieser Frau zurück, weil ich ihn nicht ranlasse? Reagiert er sich an ihr ab? Meine geballte Wut bekommt das Geschirr ab, das ich schrubbe, bis das Dekor der Teller schon dran glauben muss.
„Ich werde bald zurück sein“, ergänzt er.
„Kanns kaum erwarten“, spotte ich. Er kommt auf mich zu und umarmt mich von hinten. Ich schließe sogar die Augen, damit ich mich nicht unabsichtlich verrate.
Seine Hand an meinem Kinn führt mich an seine Lippen heran. Sein zärtlicher Kuss hat einen bitteren Beigeschmack. Im nächsten Moment ist er auch schon zur Tür raus.
Okay, also es wäre zu riskant, ihm gleich zu folgen, aber er wird sicher den Seher unmittelbar nach seiner Ankunft rufen und ihm sagen, dass seine Tests negativ waren.
Da bleibt zu wenig Zeit, ein Taxi zum Steinkreis zu nehmen. Außerdem habe ich ja zu Junus gesagt, dass ich hierbleibe und auf den Boten warte, der die Laborergebnisse bringt. Okay, klassische Zwickmühle.
Da kommt mir eine Idee – mein Rabe könnte ihn doch für mich ausspionieren. Hm, vielleicht sollte ich versuchen, ihn zu rufen.
Zu „Birds flying high, you know how I feel“ von Nina Simones Song „Feeling good“ rufe ich nach ihm. Als er nicht gleich auftaucht, verlässt mich bereits wieder der Mut, aber da flattert im nächsten Augenblick bereits etwas am Fenster. Cool. Mein Rabe ist da.
Als ich ihn reinlasse, hüpft er sogleich quietschvergnügt auf meine Schulter. Er scheint sich zu freuen, mich wiederzusehen.
Ich verlange von ihm: „Zeig mir, was Beliar vorhat.“ Sogleich fliegt er aus dem Fenster und ist auch schon verschwunden. Hm, hoffentlich klappt das, sonst ist mein taktischer Vorteil dahin.
Zwei Stunden später klingelt es. Das wird der Bote mit den Testergebnissen sein. Energisch reiße ich die Türe auf. Der junge Mann, der vor mir steht, ist sichtlich verblüfft. Er sieht so aus, als ob er nie damit gerechnet hätte, dass jemand die Tür aufmacht.
Unbeholfen räuspert er sich. „Ist Junus da?“ Hey, er ist süß. Ein blonder Modeltyp.
„Der ist an der Uni“, informiere ich ihn.
„Aha, und also du bist jetzt seine …“ „Schwester“, ergänze ich. Er sieht erleichtert aus. Hat er geglaubt, ich wäre Junus‘ Freundin? Ich lächle.
„Bist du der Freund, mit dem er letztens auf Brautschau war?“, will ich wissen.
„Ja … ähm, denke schon. Ich bin Mike“, stellt er sich vor.
„Hope.“ Wir schütteln Hände.
„Junus hat mir gar nicht erzählt, dass er eine Schwester hat“, informiert er mich. Aha.
„Vielleicht schämt er sich für mich“, spotte ich.
Mike lächelt scheu. „Ich geh dann mal wieder.“
„Soll ich meinem Bruder etwas ausrichten?“, will ich wissen.
„Nein, schon gut. Ich ruf ihn nachher einfach an“, erklärt er.
„War nett, dich kennengelernt zu haben, Hope“, winkt er mir noch hinterher.
„Okay, bis dann“, rufe ich ihm nach. Ich muss sagen, mein Bruder hat sexy Freunde.
Zwei Minuten später klingelt es erneut. Okay, das ist jetzt der Bote. Erneut öffne ich erwartungsvoll die Türe und erstarre.
„Tiberius?“, stoße ich verblüfft aus. Er ist es wirklich. Kaum zu glauben. Ich frage mich, was Beliars Vertrauter hier will.
„Hallo Mädchen, kann ich hereinkommen?“, fragt er mich grinsend.
„Beliar ist nicht hier. Den hast du verpasst“, informiere ich ihn.
„Kann ich trotzdem hereinkommen?“, hakt er nach.
„Klar.“ Ich trete zurück und schließe die Türe hinter ihm.
„Schickt dich Beliar zu mir?“, mutmaße ich.
„Nein. Er weiß nicht, dass ich hier bin“, gesteht er.
Ich ziehe die Augenbrauen hoch. „Was gibt es, wovon Beliar nichts wissen darf?“, frage ich ihn.
Tiberius lächelt. „Ich mag dich, Kleines.“ Ich mag ihn auch – immerhin ist er mein größter Fürsprecher, was mir Beliars Erinnerungen ja offenbart haben.
„Hör zu“, fährt Tiberius fort. „Der Seher hat eine Frau zu Beliar gebracht. Er behauptet, sie sei die wahre Ador-Hexe.“ Ich tue so, als würde mich die Information verblüffen.
„Das ist noch nicht alles“, ergänzt er. „Der Seher glaubt, du bist eine schwarze Hexe und will dich entlarven.“ Erzähl mir lieber was, das ich noch nicht weiß.
Ich stoße theatralisch die Luft aus. „Was ist denn eine schwarze Hexe?“, will ich von ihm wissen. Das Beste ist: Ich weiß es wirklich nicht.
„Das erzähle ich dir ein anderes Mal. Aber jetzt bin ich hier, um dir Trost zu spenden“, informiert er mich. Hä?
„Ich muss das erst mal verarbeiten, was du mir erzählt hast. Eigentlich bin ich noch nicht so weit, um getröstet zu werden. Aber kann ich mir das Angebot für später aufheben und es abrufen, wenn es so weit ist?“, spotte ich.
Er grinst verschmitzt. „Ich warte solange hier.“
„Okay, ähm. Ich hab keine Ahnung, was du meinst, aber ich bin dabei“, stoße ich etwas irritiert aus.
„Du bist deinem Vater unglaublich ähnlich“, stellt er fest.
„Du kanntest meinen Vater?“, stelle ich verblüfft fest.
„Ja. Die Schönheit hast du aber von deiner Mutter“, erklärt er.
„Kann ich dich was fragen, Tiberius?“
„Ja natürlich. Alles, Kind.“
„Glaubst du, Beliar könnte mich lieben, auch wenn ich keine Ador-Hexe wäre?“ Diese Frage geistert ständig in meinem Kopf herum. Da er Beliar gut kennt, würde ich gerne wissen, wie er das einschätzt.
„Zweifelst du daran, eine Ador zu sein?“, mutmaßt er.
„Das brauche ich gar nicht. Scheinbar haben daran alle außer Junus ihre Zweifel. Beliar doch auch, sonst hätte er die Hexe, die sich für mich ausgibt, sicher nicht empfangen. Wer weiß, womöglich glaubt er dem Seher mehr als mir und entscheidet sich für die andere Frau“, spreche ich meine Gedanken laut aus.
„Ich glaube, Beliar liebt dich – niemanden sonst“, verkündet Tiberius.
„Wieso kämpfst du für mich?“, will ich von ihm wissen.
„Wie meinst du das, Mädchen?“
„Beliar gab mir einen Teil seiner Erinnerungen – Gespräche mit dir. Du hast ihn immer wieder ermutigt, mich zu wählen. Sich für sein Herz zu entscheiden. Egal, wer die verrückte Frau sein mag, die ihm den Kopf verdreht. Ich will wissen, wieso du das tust?“, verlange ich.
Er mustert mich intensiv. „Als Beliars Eltern starben, wurde ich zu seinem Vormund ernannt. Er ist mir wie ein Sohn. Ich will nur das Beste für ihn“, gesteht er.
„Und du glaubst, ich bin das Beste für ihn?“, krächze ich ungläubig.
„Natürlich“, stößt er selbstverständlich aus. Das ist zu schön, um wahr zu sein.
Ich erkläre: „Wow, du sagst mir genau das, was ich hören will. Wer sagt mir, dass das kein Trick ist? Du könntest für den Seher arbeiten oder für jemand anderen. Du weißt, dass ich dir vertraue. Das ging aus meiner Nachricht auf dem T-Shirt meiner Doppelgängerin hervor, die ich dir untergejubelt habe. Dieses Wissen könntest du jetzt gegen mich verwenden. Mein Vertrauen ausnutzen. Aber wer sagt dir, dass ich die Nachricht nicht absichtlich dort platziert habe und bereits weiß, was du vorhast?“ Das ist ein Bluff. Ich hab keine Ahnung, ob ich ihm vertrauen kann. Hoffe es aber. „Wer hat dich geschickt, Tiberius?“, ergänze ich.
Tiberius lacht laut auf. „Was gäbe ich dafür, dass dich dein Vater jetzt sehen könnte. Er würde vor Stolz fast vergehen. Du bist wie er. Auch er hinterfragt das Vertrauen, das er jemandem geschenkt hat, immer wieder von Neuem. Ein sehr seltener Charakterzug. Meistens bleiben die Leute bei ihrem ersten Eindruck, den sie sich über eine Person bilden und halten blauäugig daran fest. Behalte dir das bei, Mädchen. Das ist ein echter Vorteil gegenüber deinen Feinden“, rät er mir.
„Du hast meine Frage nicht beantwortet“, hake ich nach.
„Niemand schickt mich, um hier bei dir zu sein. Wie ich bereits sagte, ich will einfach nur Trost spenden“, verkündet er.
„Was denn für Trost?“, will ich wissen. Es klingelt erneut, bevor er antworten kann.
Ich mache auf und übernehme den Brief aus den Händen des Boten, der ganz schön abgekämpft aussieht. Naja, Fahrradkurier eben. Die habens nicht leicht.
Ich lege ihn auf den Stapel der ungeöffneten Briefe und wende mich wieder meinem Gast zu.
„Willst du den Brief nicht öffnen, Mädchen?“, fragt mich Tiberius.
„Nein“, erkläre ich. Junus wird mir sicher die frohe Botschaft heute Abend verkünden, dass wir jetzt schwarz auf weiß haben, Bruder und Schwester zu sein. Hurra.
Hm, ist schwarzer Humor eigentlich auch ein Zeichen für eine schwarze Hexe? Davon hat Nadar aber nichts gesagt. Okay, ich sollte meinen Selbstspott im Zaum halten.
„Es ist der Test, ob ihr Geschwister seid, nicht wahr?“, mutmaßt Tiberius. Beliar hat ihm wohl erzählt, dass die Ergebnisse heute kommen.
„Ja“, bestätige ich seine Vermutung.
„Mach ihn auf“, fordert er.
„Nein. Der Brief ist an Junus adressiert“, stelle ich fest.
„Dann mache ich ihn auf“, erklärt Tiberius, der schon darauf zu stapft. Wütend halte ich ihn am Arm zurück.
„Wieso interessiert dich das Ergebnis so? Willst du es etwa verändern und mich so täuschen?“, knalle ich ihm vor den Latz.
Er lächelt. „Nein, Mädchen. Wie ich bereits mehrmals festgestellt habe, bin ich hier, um Trost zu spenden.“ Jetzt kommt er wieder mit der alten Leier.
Ich reiße die Augen auf. „Hat der Seher die Ergebnisse verändert?“, stoße ich panisch aus.
„Nein, Mädchen“, antwortet Tiberius.
Jetzt ist meine Neugierde geweckt. Schnell reiße ich den Umschlag auf und lese:
… 99,9 %ige Wahrscheinlichkeit kein Verwandtschaftsverhältnis …
Mein Atem geht stoßweise. Das kann nicht sein. Jemand hat das Ergebnis verändert. Junus ist mein Bruder.
„Glaub es ruhig, Mädchen. Und insgeheim weißt du auch, dass es wahr ist“, kommentiert Tiberius meinen Schock, den man mir mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit schon an der Nasenspitze ansehen kann.
„Nein, das ist nicht möglich“, hauche ich panisch.
„Natürlich ist es das. Wenn du ehrlich zu dir bist und eins und eins zusammenzählst, weißt du das auch. Die Tatsache, dass keiner ihrer Zauber bei dir wirkt, die Symbole auf deinem Körper.“ Hat er etwa mit dem Seher darüber gesprochen?
„Nein. Junus konnte mich verzaubern. Er hat meine Erinnerungen und meine Kräfte an sich genommen“, wende ich ein.
„Nein, Mädchen. Du hast sie ihm freiwillig gegeben. Sein Zauber wirkte nicht. Deiner schon“, erklärt Tiberius.
„Moment mal. Aber wie hätte er mir dann die Kräfte wieder zurückgeben können? Dabei konnte ich ihm nicht helfen, denn Junus hatte die meinen ja bereits“, stelle ich fest.
„Dein Körper hat die Kräfte mit offenen Armen empfangen. Dagegen ist niemand immun, sonst könntest du keine Kräfte beim Initiationsritus erhalten. Und die Erinnerungen hast du selbst in dir aufgesogen. Dein Körper wollte sie zurück, nur deshalb hat es funktioniert“, erklärt Tiberius.
„Nein, du willst mich täuschen. Die Ergebnisse wurden manipuliert“, raune ich wild.
„Rede dir das ruhig ein. Das ändert nichts daran, dass Junus nicht dein Bruder ist“, verlautbart er.
„Wieso wusstest du das? Wer bist du?“, verlange ich.
„Ich bin Tiberius. Ein Freund. Jemand, dem du vertrauen kannst. Hör doch auf das, was dir dein Instinkt sagt, Mädchen. Du bist anders und das spürst du auch“, antwortet er.
Ja, ich fühle es. Ich bin eine schwarze Hexe. Beliars Tests haben es auch gezeigt. Wenn das wahr ist, kann Junus nicht mein Bruder sein. Tiberius hat recht. Ich vermute es bereits die ganze Zeit über.
Meine Hände zittern. Das Herz wird mir durch die Erkenntnis entzweigerissen. Mein Verstand sagt mir, dass Tiberius‘ und Nadars Worte Sinn ergeben. Mein Herz wehrt sich, kämpft dagegen an. Mein Körper versteht das nun auch.
Tiberius streckt beide Arme zur Seite aus. „Mein Angebot steht noch. Komm her, Mädchen“, bietet er an.
Meine Beine geben nach. Er ist sofort an meiner Seite und hält mich fest.
„Es wird alles gut, Mädchen. Du bist nicht allein, hörst du?“ Doch, bin ich. Mir wurde gerade alles genommen. Ich habe meinen Bruder und Beliar verloren.
Sie werden denken, ich wusste davon. Mit meinen wirren Plänen, die ich gesponnen habe, um McConnor das Handwerk zu legen, habe ich ihnen alles dafür geliefert, dass sie mich für eine berechnende Intrigenspinnerin halten. Das nenn ich mal ein klassisches Eigentor.
Wenn Beliar davon erfährt, wird es ihn überzeugen, dass die andere Frau die wahre Ador-Hexe ist. Was sie ja offensichtlich auch ist. Er wird sich für sie entscheiden und ich kann sogar verstehen wieso. Meine Tränen halten nichts von dieser Logik.
Tiberius streichelt über meinen Rücken, drückt mich fest an sich und flüstert mir aufmunternde Worte ins Ohr. Es tut gut, dass er hier ist, obwohl mir nicht klar ist, wieso er all das weiß oder warum er mir hilft.
Nur ein paar Tränen, das sage ich mir immerzu. Ich muss mich zusammenreißen, denn Beliar wird bald zurück sein.
„Wenn ich nicht die Ador-Hexe bin, wer bin ich dann?“, will ich von ihm wissen, während ich krampfhaft versuche, nicht vollkommen durchzudrehen.
„Alles zu seiner Zeit“, erklärt Tiberius.
„Nein, sag mir, wer ich bin. Was geschieht nun mit mir?“, hauche ich erschöpft.
„Später, Mädchen. Jetzt müssen wir erst einmal den Brief verschwinden lassen und dich ein bisschen herrichten, damit sie es nicht bemerken.“ Er drückt mich sanft von seiner Brust und streichelt mir liebevoll über die Wange. Meine Tränen trocknen sofort.
Tiberius lächelt und sagt: „Schon viel besser. Und jetzt hör mir zu. Du hast vielleicht ein paar Tage, bevor alles auffliegt.“
„Warte“, wende ich ein. „Wieso konntest du den Zauber vollbringen? Gerade eben. Meine Tränen sind getrocknet“, hake ich nach.
„Na, ich bin ein schwarzer Hexer“, prustet er, als wäre es das Selbstverständlichste auf der ganzen Welt. Zugegebenermaßen bin ich grad etwas vor den Kopf gestoßen.
Er lächelt. „Hast du dir vorgestellt, ich wäre ein besessener Buckliger mit Raben auf der Schulter?“, mutmaßt er.
„Sowas in der Art“, gestehe ich.
„Und jetzt sag mir, Mädchen, wie hast du es geschafft, Beliars Tests zu umgehen?“, verlangt er. „Er hat dich doch geprüft, ob du eine schwarze Hexe bist. Ohne Erfolg, wie ich hörte.“
„Das sage ich dir erst, wenn ich sicher bin, dass wir auf derselben Seite stehen. Bis dahin verbindet uns nur die Tatsache, dass wir ein paar der Geheimnisse des jeweils anderen teilen“, erkläre ich.
Er lächelt. „Sehr klug von dir, mir immer noch nicht zu vertrauen, aber unnötig. Du brauchst mich. Das wirst du spätestens dann erkennen, wenn Beliar Jagd auf dich macht.“
„Wieso sollte er das tun? Ich will ihm nichts Böses. Niemandem“, verkünde ich.
Tiberius lacht. „Viel Glück bei dem Versuch, ihm das zu beweisen. Der Seher hat ihm bereits eine Geschichte serviert, die dich als Kuckuckskind darstellt, das ihn zu Fall bringen wird.“ Ich weiß, verdammt.
„Was soll ich jetzt tun?“, will ich von Tiberius wissen.
„Erst einmal tust du gar nichts. Du lässt dir nichts anmerken. Ach und erzähl ihm bloß nicht, dass ich hier war oder auch sonst nichts von unserem gemeinsamen Geheimnis. In der Zwischenzeit werde ich alles für deine Flucht vorbereiten“, informiert er mich.
„Aber ich habe nicht vor, zu fliehen, ich … keine Ahnung. Wohin soll ich denn?“, will ich von ihm wissen.
„Na, zu deiner Familie“, stößt er selbstverständlich aus. Mir steht der Mund sperrangelweit offen.
Bevor ich etwas erwidern kann, löst er sich auch schon vor meinen Augen in Luft auf. Den Brief hat er mitgehen lassen.
Ich glaub das einfach nicht, ich bin am Ende meiner Kräfte. Emotional ausgelaugt. In meinem Kopf wütet das reinste Chaos.