Читать книгу Und Erdbeeren wachsen doch auf dem Mond - Marie Lu Pera - Страница 4
Karma?
ОглавлениеEs hat wohl geregnet, denn die Straße ist nass. Auf dem Weg zur Schule bin ich wieder dazu übergegangen, inbrünstig Karaoke zu singen und leichtfüßig herumzutänzeln. Das hat etwas ziemlich Befreiendes.
Nur im letzten Moment kann ich einem bleichen Mann ausweichen, der wütend gestikuliert. „Ja, dir auch einen wunderschönen guten Morgen. Mir geht’s prima. Hast du abgenommen?“, spotte ich ihm entgegen. Der Tag fängt ja schon gut an. Wie heißt es so schön – Geister am Morgen, bringen Kummer und Sorgen.
Im nächsten Augenblick lässt mich ein Hupen hochfahren. Ein schwarzer Geländewagen hinter mir ist wohl Ursprung des Lärms. Ich merke zwei Sekunden später, dass ich mitten auf der Straße stehe.
Der Tote hat mich wohl vom rechten Weg abkommen lassen und wenn man glaubt, es kann nicht schlimmer kommen, so fährt der Kelte, der mich gestern abgeschossen hat – alias die Arroganz in Person – vorbei, nachdem ich zur Seite gewichen bin.
Sein Blick streift mich verärgert und ich bin gewillt, ihm den Mittelfinger rauszustrecken, was ich aber erfolgreich unterdrücken kann. Das wär unterste Schublade. Jetzt fährt er mich auch noch fast über den Haufen der Idiot. Ganz toll.
Die letzten Meter bis zur Schule schleppe ich mich atemlos. Ich scheine doch mehr abbekommen zu haben als erwartet. Irgendwie komisch, ich bin ganz schön erschöpft.
Mich erwartet schon Geschnatter vom Allerfeinsten. Die Jagdsaison ist wohl eröffnet – die Jagd nach dem besten Männchen.
Die Weibchen haben sich zu wildem Tuscheln in Gruppen versammelt. Sie sondieren augenscheinlich die Lage und treffen ihre Auswahl. Bei den Männchen läuft dasselbe ab.
Da sind Hexer, Wassermänner und Kelten. Die bleichen Wesen sind glaub ich Elfen.
Ich frage mich gerade, wie man Werwölfe erkennt, aber ich entscheide mich kurzerhand, es gar nicht wissen zu wollen. Die restlichen Kreaturen sagen mir absolut nichts. Ich habe es aufgegeben, mir ihre Gattungsbezeichnung merken zu wollen.
Möglicherweise entscheidet sich der Direktor doch dafür, dass ich zu nichts tauge und entlässt mich wegen guter Führung. Dann bin ich hier sowieso bald weg.
Natürlich – wie könnte es auch anders sein – umzingeln zahlreiche Weibchen den Kelten, der mich gestern niedergemäht hat. Sie umgarnen ihn kichernd. Eine greift sogar an seinen Bizeps. Mann, wie offensichtlich ist das denn?
Die Außenwelt wieder vollkommen abschottend, bahne ich mir einen Weg durch die versammelten Schüler und lasse mich im hintersten Eck, in dem meist niemand sitzt, auf einen Sitz im Plenum des Hörsaals fallen.
Genau in dem Moment scheint meinem mp3-Player der Saft ausgegangen zu sein und ich reiße mir das Teil genervt aus den Ohren. Erschöpft lege ich meinen Kopf in meine Hände.
„Du solltest den Platz wechseln.“ Überrascht blicke ich auf. Da steht ein Hexer in schwarzem Umhang und mit braunem, strubbeligem Haar vor mir, dessen Wimpern so lang sind, dass jede Frau dafür töten würde. Er sieht eigentlich ganz gut aus, wenn man auf Hokuspokus steht, versteht sich.
„Erleuchte einen Träger gefährlichen Halbwissens“, entgegne ich gelangweilt.
„Negatives Karma“, stößt er aus. Das ringt mir ein Lächeln ab.
„Das bin ich“, erkläre ich gelassen. Wieder zieht ein Junge die Augenbrauen vor mir hoch. Ich scheine etwas an mir zu haben, das diese Geste auslöst.
„Hm. Ja, du hast recht. Es geht von dir aus“, bestätigt er.
„Sag ich doch.“ Jeder andere hätte die Message verstanden und wär abgezogen, aber er steht immer noch da und kratzt sich nachdenklich am Kinn.
Ich durchbreche ungeduldig die Stille. „Hör zu – es gibt noch 285 andere Sitzplätze in diesem Raum. Also, wieso suchst du dir nicht einen aus, der ein Karma nach deinem Geschmack trägt und hörst auf, mich anzustarren, als wär ich eine atmosphärische Anomalie.“
„Wieso kennst du die genaue Anzahl der Sitzplätze?“, will er wissen.
„Du bist echt strange, Mann“, stoße ich stirnrunzelnd aus.
„Sagt die, mit dem negativen Karma.“
„Sagt der, der gleich den Verschwindezauber anwenden wird, bevor er negatives Karma abbekommt.“
Er lächelt leicht und nimmt in weiter Entfernung an einem Seitenflügel des Plenums Platz, von wo er mich wunderbar im Blickfeld hat. Toll, der erste Tag mit den Jungs und schon fast überfahren worden und einen Hexenmeister-Stalker angelacht. Guter Schnitt.
Der Raum füllt sich schön langsam. Ich werd irgendwie das Gefühl nicht los, dass überraschend viele Leute zu mir raufstarren und sich das Tuscheln intensiviert hat.
Hm, liegt vielleicht an dem Riesen, der sich gerade drei Plätze weiter niedergelassen hat.
Fast alle aus meiner Reihe springen auf und bringen Abstand zwischen sich und den Koloss.
Irgendwie sieht er aus wie Frankensteins Monster. Schnell wende ich den Blick ab. Ich will ihn nicht anstarren, sowas ist unhöflich.
Seine Haut ist an einigen Stellen zusammengenäht und aus seinem viereckigen Schädel stehen Drehknöpfe raus. Er braucht allein schon zwei Sitze. Da alle Plätze wie in einem Kinosaal zusammenhängen, senkt sich auch mein Sitz verdächtig unter seiner Last.
Ich lasse mir mein Unbehagen über seine Anwesenheit nicht anmerken und mache das, was ich immer mache, wenn ich nervös bin – ich laber drauflos. „Hi, ich bin Melody.“
Er sieht mich verblüfft an und beugt sich zu mir runter, um mich zu mustern. Das macht mir zugegebenermaßen etwas Angst, was ich mit einem Lächeln kompensiere.
„Sonnfried – mein Name ist Sonnfried.“
„Kann ich dich Sonny nennen?“, will ich wissen.
„Wieso?“
„Mit dem Namen bist du weniger furchteinflößend. Also, jetzt nichts für ungut.“ Kurz scheint er zu überlegen, lacht aber sogleich laut auf.
„Dann darfst du mich so nennen“, verkündet er mit tiefer Stimme. So viel dazu.
Kurz nachdem Professor Triz, angewandter Mathematik-Freak und unangefochtener Langweiler, den Raum betreten hat, folgt ihm der Arroganz-Kelte. Er konnte sich anscheinend erfolgreich der Meute kreischender Zahnspangenträgerinnen entziehen.
Sein Blick schweift durch die Menge und bleibt kurz an mir hängen. Ich weiß nicht wieso, aber irgendwie nervt das gewaltig. Er ist einer dieser Lederjackenträger mit halboffenem Hemd, das erstaunlich viel Muskelmasse freisetzt. Die Typen sind nur dazu da, um uns Mädchen den Kopf zu verdrehen. Funktioniert, muss ich sagen.
Der Direktor sagte mir, ich solle mich von den Kelten fernhalten und keine Aufmerksamkeit erregen. Macht Sinn, da ich ihnen körperlich um Lichtjahre unterlegen bin.
Der Lederjackenträger setzt sich in den Flügel, in dem auch der Hexer sitzt. Ich werd irgendwie das Gefühl nicht los, dass ich beobachtet werde. Sicher der Stalker, der jetzt nach seinem Frontalangriff in Sachen Karma zum Starren übergegangen ist.
Ich versuche, es zu ignorieren und kritzle geistesabwesend irgendetwas absolut bedeutungsloses in meinen Block.
„... Melody.“ Erschrocken fahre ich hoch. Professor Triz hat mich wohl aufgerufen, denn so ziemlich alle Köpfe des Raumes drehen sich in meine Richtung.
„Kommst du bitte zur Tafel und schreibst die Lösung auf?“ Mann, kannst du nicht jemand anderen damit quälen? Es hilft nichts. Der gesellschaftliche Druck ist zu groß.
Ich stehe widerwillig auf. Als ich erkenne, dass an Frankensteins Monster kein Vorbeikommen ist, hechte ich gekonnt über den Tisch und scheuche somit jeden Einzelnen der Reihe vor mir auf.
Tja, das hat man von dieser neumodernen Kinobestuhlung. Es dauert ewig, bis man hier raus ist.
Der Professor hält mir die Kreide hin und ich sehe mir das mal an. Hm. Integralrechnung, toll. Mein Hirn läuft auf Hochtouren, während der Professor ungeduldig auf sein Pult tippt. Nervt ganz schön.
„Melody. Also die Kreide benutzt man, indem man sie an die Tafel hält und schreibt.“ Echt jetzt? Darauf wär ich nie gekommen.
Sehr witzig. Mit einem: „Ich habs gleich“, informiere ich ihn. Stress nicht, die Aufgabe ist schwer.
Im nächsten Augenblick kritzle ich die Lösung an die Tafel, reiche ihm die Kreide und mache mich wieder auf zu meinem Platz.
„Was soll das sein?“, fragt er verblüfft. Ich drehe mich wieder um und verkünde: „Also, das ist Kreide und die benutzt man, indem man sie an die Tafel hält und schreibt.“ Kollektives Lachen bricht aus. Der Professor stemmt verärgert die Hände in die Hüften.
„Ich meinte das, was da auf der Tafel steht“, klärt er mich ärgerlich auf.
„Das ist das, was Sie verlangt haben – die Lösung“, erkläre ich.
„Wie hast du das gemacht?“
Schulterzuckend antworte ich „Ich habs gerechnet.“
„Im Kopf?“
„Ja.“ Ich bin kein Fachmann, aber dort vermute ich den Sitz meines Gehirns.
„Hat dir jemand geholfen?“
„Nein.“ Hey, ich steh hier mitten im Raum vor dir. Wenn mir jemand geholfen hätte, hättest dus ja wohl mitbekommen.
Er kneift die Augen zusammen, um den Wahrheitsgehalt meiner Aussage zu prüfen. „Schreib den Lösungsweg auf“, befiehlt er bösartig.
„Oooookay“, entgegne ich verschwörerisch und nehme ihm die Kreide wieder ab. Das Ergebnis lösche ich von der Tafel, um Platz für die Rechnung zu machen. Daraufhin kritzle ich die gesamte Rechnung an das grüne Teil.
Als ich fertig bin und ihm die Kreide abermals aushändige, verkündet er: „Du wirst heute nach der Schule hierbleiben und das erklären.“
„Was denn erklären?“, will ich wissen.
„Wie du das machst.“
„Das hatte ich bereits erklärt. Ich rechne es im Kopf.“
„Nicht einmal ich kann das im Kopf berechnen, also wirst du es wohl kaum können.“ Er zeigt abwechselnd mit dem Finger auf sich selbst und dann auf mich.
„Schließen Sie immer von sich auf andere?“, fand er jetzt nicht so prickelnd. Im Saal ist es so still, dass man eine Maus piepsen hören würde.
„Das reicht, verlass meinen Unterricht, Melody. Wir sehen uns nach der Schule in meinem Büro.“
„Was wird mir vorgeworfen?“, will ich wissen.
„Ungehorsam.“
Theatralisch erwidere ich: „Wie konnte ich nur so töricht sein und die richtige Lösung an die Tafel kritzeln. Das ist sicher ein schwerer Schlag für Sie.“ Belustigte Laute gehen wieder durch die Reihen.
Zu einer Antwort kommt er nicht mehr, weil ich bereits aus dem Raum gestürmt bin, bevor er mir die Pest an den Hals wünschen konnte – und davor hab ich Schiss, denn er ist ein Hexer.
Das ist alles irgendwie ein Alptraum. Er wagt es doch echt, mich hier vor allen als Betrügerin darzustellen.
Nur weil ich keine Zauberkräfte habe, heißt das noch lange nicht, dass ich eine Dumpfbacke bin.
Draußen lehne ich mich an einen Baum und ziehe die Beine an den Körper. Was für ein heilloses Chaos.
Ich pass hier einfach nicht rein. Zu allem Übel liegt mein mp3-Player in der Tasche im Hörsaal. So ergießt sich der Redeschwall eines Spaniers mit aufgeschnittenen Pulsadern ungebremst auf mich.
„Mann, ich kann dich nicht verstehen. Okay? Also, wieso suchst du dir keinen Landsmann? Io non comprende.“
„Mit wem sprichst du?“ Erschrocken fahre ich hoch. Da steht der Hexen-Stalker von vorhin vor mir.
„Wieso bist du nicht im Hörsaal?“, fahre ich ihn an.
„Bin ich – das ist nur meine Astralprojektion.“
„Manchmal beneide ich euch echt.“ Erschöpft lasse ich mich wieder an den Baum sinken.
„Also. Mit wem hast du gesprochen?“, hakt er nach.
„Bist du ein Stalker?“, will ich wissen.
„Was ist ein Stalker?“
„Einer, der einen immer verfolgt wie ein Schatten. Und falls du das vorhast, sollte ich dir sagen, dass mein Verfolgungswahn auch ohne dich ganz gut zurechtkommt, also bitte such dir jemand anderen.“
„Plapperst du alles aus, was du denkst?“, fragt er mich doch tatsächlich.
„Ja – und zwar ungefiltert. Muss an meinem negativen Karma liegen.“
„Ich wollte dir nicht zu nahe treten.“
„Schon okay. Ich bin hart im Nehmen.“ Er lächelt.
„Vielleicht kann ich dir ja helfen. Ein paar Räucherungen und du bist wieder wie neu.“
„Danke, aber kein Bedarf. Ich habs nicht so mit Räucherstäbchen.“
Der Gong ertönt und ich springe auf. Ich will meine Sachen für die Kräuterkundeeinheit im Botanischen Garten holen.
„Dann bis gleich“, trällert er fröhlich. Im nächsten Moment hat er sich bereits in Luft aufgelöst. Okay, das ist irgendwie gruslig.
Ich trotte zurück zum Hörsaal. Als ich kurz über meine Schulter zurückblicke, knalle ich frontal in einen Körper. Die Wucht des Aufpralls setzt mich vor dem Rammbock auf den Hintern. Autsch. Verdammt, der Lederjacken-Kelte schon wieder.
„Zuerst läufst du mir vors Auto und jetzt läufst du in mich rein. Sieht so aus, als würdest du meine Aufmerksamkeit erregen wollen. Gibs auf, das führt zu nichts“, knallt er mir eitel an die Birne.
„Ich kann nichts dafür. Es ist nur so schwer, deinem Ego auszuweichen. Ist ein ziemlicher Brocken“, ist dann meine Reaktion auf seine Gemeinheit.
Sein verärgerter Blick hält mich wie in einem Bann gefangen. Nur mühevoll reiße ich mich los und umrunde ihn.
Der Tag wird immer besser. Ich bin mittlerweile zu einem wandelnden Risikofaktor geworden.
Sonny winkt mir von Weitem zu und hält meine Tasche hoch. Hey, das ist ja voll nett. Als ich vor ihm stehenbleibe, wird mir erst das volle Ausmaß seiner Größe bewusst. Der ist ja über zwei Meter groß und breit wie ein Schrank. Dagegen bin ich ein Zwerg.
„Danke Sonny.“ Ich nehme ihm die Tasche ab.
Frankensteins Monster winkt beschwichtigend ab. „Kein Problem.“
„Du hast was gut bei mir.“ Zum Dank winkend schreite ich in Richtung Garten.
Professor Tate wartet bereits und heißt uns willkommen. In der Kleingruppe sind nur dreizehn Studenten. Schmerzlich erkenne ich den Hexen-Stalker, den Arroganz-Kelten- Lederjackenträger und Frankensteins Monster alias Sonny unter ihnen. Perfekt.
Außer mir sind noch ein paar andere Weibchen im Kurs, die sich kichernd aneinander schmeißen und den Jungs schöne Augen machen. Mich lässt das natürlich wieder vollkommen kalt. Naja, zumindest ist es bei mir nicht so offensichtlich.
„Willkommen, bitte findet euch in Zweierpärchen zusammen und sucht im Garten alle Kräuter auf dieser Liste.“ Wie auf Kommando laufen die Weibchen kreischend auf das jeweilige Objekt ihrer Begierde zu. Ich hab mich sogar kurz vor ihnen erschrocken. Mann, welch niedere Wesen.
Nachdem ich mir die Liste organisiert habe, drehe ich mich um und schreite alleine fort. Außerdem sind wir dreizehn Leute. Dreizehn ist eine ungerade Zahl, eine Primzahl sogar, also nur durch sich selbst oder durch 1 ganzzahlig teilbar. Bei Zweierpärchen bleibt also jemand übrig – also ich. Dreizehn ist außerdem eine Unglückszahl. Ich muss lächeln. Passt irgendwie zu mir. Hab ich schon erwähnt, dass ich Zahlen mag? Naja, ich bin jetzt nicht besessen oder so.
„Melody? Wollen wir zusammen gehen?“ Sonny steht neben mir. Ich zucke mit den Schultern.
„Von mir aus.“ Okay, wohl doch keine Dreizehn.
Ohne dem Schauspiel sich aufbauender verbaler Gefechte länger beizuwohnen, spazieren wir davon. Also, ein Riese mit Minikörbchen um den Finger und ein Zwerg mit Strickmütze.
„Wieso siehst du mich so an?“ Seine Frage reißt mich aus dem Zählen der Erdbeeren. Eigentlich hab ich ihn gar nicht angesehen, aber okay.
„Tut mir leid. Ich versuch nicht mehr zu glotzen.“
„Du warst die Einzige, die mich nicht angeglotzt hat.“ Doch kurz. „Ich meine, wieso siehst du mich anders an, als die anderen, Melody?“
„Keine Ahnung, wie seh ich dich denn an?“, hake ich nach.
„Als würdest du mehr sehen, als nur das Monster.“ Okay, hier liegt wohl ein Fall von Selbst-Monsterisierung vor.
„Du bist kein Monster, Sonny.“
„Woher willst du das wissen?“
„Hör zu. Also ich kenn mich mit Monstern ganz gut aus. Ich erkenne eins, wenn ich es sehe. Du bist keins.“
„Das sagst du nur so“, wirft er mir schmollend vor.
Ich halte ihn am Arm zurück – naja okay, ich greife nach seinem Arm und stoppe, also stoppt er auch. Den könnte man nie halten. „Bei mir kannst du dir eines ganz gewiss sein. Ich meine das, was ich sage und sage das, was ich meine. Okay?“
„Okay. Also, was siehst du sonst noch? Neben dem Monster.“
„Ich sehe jemanden, der nicht weiß, wer er ist oder wer er sein möchte. Aber das ist okay. Wer weiß das schon?“ Verblüfft starrt er mich an. Da hab ich wohl den Nagel auf den Kopf getroffen.
„Ich weiß, dass du die Toten sehen kannst, Melody.“ Na toll, die Gerüchteküche brodelt wohl schon.
„Siehst du. Da hast du dein Monster.“ Ich gehe voran und zupfe einige der Kräuter ab, die ich in Sonnys Korb schmeiße.
„Wie kommst du damit klar?“ Jetzt bin ich verblüfft. Diese Frage hat mir noch niemand gestellt. Normalerweise wollen alle, dass ich ihren verstorbenen Verwandten etwas ausrichte oder quetschen mich über belanglose Details aus.
„Hör zu, ähm, wieso holst du nicht ein paar von den gelben Blumen dort drüben und ich seh mal, wo ich die Minze finde?“ Schneller als ein D-Zug suche ich das Weite. Ja – okay, ich hab Schiss zu antworten. Ich will ihn nicht anlügen – ihm aber auch keine Angst machen. Obwohl, er hat glaub ich vor gar nichts Angst. Außer vor sich selbst natürlich.
„Mein Name ist Meric.“ Vor Schreck lasse ich alle Minzblätter fallen. Das belustigte Gesicht meines Hexen-Stalkers lässt Aggressionen in mir aufsteigen.
„Mann, musst du dich so anschleichen?“ Er hilft mir nicht mal, die Kräuter wieder aufzusammeln. Idiot.
„Dachtest du, ich wär ein Toter?“ Das ist nicht witzig. Jetzt weiß es schon die ganze Schule – wunderbar.
„Nein, der steht da drüben und hat zumindest den Anstand, mich aus der Ferne zu stalken. Könntest du auch mal ausprobieren.“ Er sieht ganz schön ängstlich aus und sucht die Umgebung ab. Da er abgelenkt ist, entferne ich mich angefressen.
„Melody, warte. Das war ein Scherz.“
„Ich lach mich tot“, erwidere ich trocken. Er greift nach meiner Hand und fährt ohne Widerstand durch meinen Körper hindurch. Okay. Astralprojektion. Sieht täuschend echt aus.
„Das war echt gruslig Meric“, tadle ich ihn.
„Verdammt, ich vergesse immer, dass meine Projektion noch nicht so gut ist.“
„Du solltest zu deiner Partnerin zurückkehren. Sie fragt sich sicher schon, warum ein hirnloser Zombie, der nicht auf ihre Fragen antwortet, neben ihr steht.“
„Oh, ich hab einfach auf Ja-Modus gestellt. Sie schnattert sowieso die ganze Zeit, also passt das Wort so ziemlich immer.“
„Deine Logik hat nur einen Haken“, stelle ich fest.
„Der wäre?“
„Was, wenn sie dich fragt, ob du mit ihr auf den Schulball gehen willst und sie vorschlägt, dass ihr im rosa Partnerlook geht? Ist alles schon vorgekommen.“
Er sieht zwar blass aus, sagt aber: „Darauf lass ich es ankommen, glaub ich.“
Ich will seine Aussage kontern, da trifft irgendetwas vor mir hart auf den Boden auf. Vor Schreck taumle ich zurück und stolpere, sodass es mich auf den Hintern setzt. Das gibt sicher blaue Flecken.
Schockiert erkenne ich ein deformiertes, aus eitrigen Wunden blutendes, Etwas vor mir, das erschreckende Ähnlichkeit mit den Zombies aus dem Film „I am Legend“ hat.
Nach dem Blick von Meric zu urteilen, der die Kinnlade runtergeklappt hat, ist es wohl kein Freund.
Es kommt auf mich zu und ich brülle seine Astralprojektion an: „Könntest du mal die Kinnlade einklappen und mir helfen?“
„Ich kann so nicht … ich … hol Hilfe.“ Schon hat er sich in Luft aufgelöst und lässt mich mit dem Ding allein, das gleich bei mir ist.
„Hi.“ Toll Melody, jetzt grüßt du das Teil auch noch. Es knurrt und hält den Kopf schief. Bei genauerer Betrachtung erkenne ich, dass es von einem transparenten Schein, der sich bewegt, umgeben ist. Ein Geist – da steckt ein Geist drin. Wahnsinn.
Der Zombie ist erschreckend nahe und greift nach meinem Arm.
„Hey Süßer. Also so gut kennen wir uns auch wieder nicht“, ist mein jämmerlicher Versuch, ihn auf Abstand zu halten, nachdem ich zurückgewichen bin. Das scheint ihn böse zu machen. Er macht einen Satz auf mich zu und kriegt meinen Arm zu fassen.
Geistesgegenwärtig spult mein Gehirn meinen Selbstverteidigungsmodus ab, aber das Wesen ist stärker als ich dachte und so zapple ich nur in seinem Griff, während es mich hinter sich herzieht.
„Lass mich los, Pissnelke.“ Warte mal. Mir kommt da grad so eine Idee.
Ich greife nach dem transparenten Geist in ihm und rufe: „Princeps gloriosissime caelestis militiae. Veni in auxilium hominum, imperat tibi. Deus Spiritus Sanctus.“ Mehr fällt mir auf die Schnelle nicht mehr von den Worten meiner, von Trotteln durchgeführten, Exorzismen ein.
Der Geist schreit im nächsten Augenblick, als hätte ich ihn mit meiner Berührung verbrannt. Der Zombie schnappt mich an den Schultern und drückt mich brutal an die Gartenmauer.
Ich schlage nach ihm und treffe ihn am Schienbein. Abrupt lässt er mich los, was mich auf die Erde vor ihm stolpern lässt. Keine zwei Sekunden später zieht er mich vor sich hoch und presst sich an meinen Rücken.
„Melody.“ Merics Stimme hallt durch den Garten. Der Hexer ist nicht allein. Er hat den Arroganz-Kelten mit Schwert und einen Wassermann mit Dreizack im Schlepptau.
„Keine Panik“, haucht Meric atemlos. Ich glaube, mehr zu sich selbst, als zu mir.
„Was ist denn das für ein scheiß Spruch, Meric?“, fahre ich ihn an. Er zuckt ratlos mit den Schultern.
„Irgendwelche Ideen?“, frage ich mal so in die Runde. Das Ding knurrt verächtlich und zieht mich näher an sich.
„Ich überlege noch“, informiert mich der Kelte.
„Lass dir Zeit“, spotte ich sarkastisch.
Plötzlich vernehme ich das Geräusch von brechenden Knochen und glaube schon, das Ding zerdrückt mich, doch es folgt kein Schmerz. Der Zombie brüllt, als schlage sein letztes Stündlein.
Im nächsten Augenblick bin ich frei und falle vor ihm auf den feuchten Erdboden.
„Hat es dich gebissen?“ Der Kelte kniet vor mir. Ruckartig zieht er mich an den Schultern in die Höhe.
„Nein.“ Meine Beine geben nach und ich stoße an seine Brust.
„Melody, bist du okay?“ Meric ist an meiner Seite. Auch er hält mich an der Schulter fest.
„Das hat ja ewig gedauert, Hilfe zu holen. Warst du zwischendurch noch Kaffeetrinken?“, raune ich erschöpft.
Meric lächelt leicht. „Schätze, es geht dir gut.“
Ich weiß nicht wieso, aber die Welt beginnt sich plötzlich in Kreisen zu drehen. Hey, ich fliege – meine Beine heben vom Boden ab.
„Toll, jetzt ist sie auch noch ohnmächtig.“ Die Worte sind nahe an meinem Ohr. Erst jetzt merke ich, dass mein Kopf in einem harten Nacken lehnt.
„Das hab ich gehört“, hauche ich zurück. „Brauchst gar nicht so überheblich zu tun. Als ob du noch nie einen Moment der Schwäche hattest.“
„Ich bin Kelte. So etwas wie Schwäche ist mir fremd.“
„Schon klar. Ähm, könntest du aufhören, mich zu schütteln. Das nervt gewaltig.“
„Das bist du, du zitterst.“ Verdammt.
„Dann verpass mir bitte eine, damit ich aufhöre.“
„Wieso willst du dich immer mit mir prügeln?“, raunt er.
„Negatives Karma?“
Etwas Weiches gräbt sich in meine Rückseite – ah, eine Matratze. Bin wohl in der Krankenstation gelandet.
„Schon gut, mir fehlt nichts“, beschwichtige ich. Mit etwas Schwindel behaftet setze ich mich auf und will aus dem Bett steigen.
„Na, na. Das sollte sich doch ein Experte auf diesem Gebiet ansehen.“ Vor mir steht ein Medizinmann – ohne Scheiß. Das volle Programm: Indianer – Knochen in der Nase – jede Menge Piercings – warte mal – Piercings?
Der Typ ist über dreißig und trägt die Kleidung eines Teenagers. Darüber hinaus hat er Raster und ich will gar nicht wissen, was in dem Becher ist, den er mir gerade hinhält. Noch dazu bin ich mit ihm allein im Raum. Prima.
„Keine Chance. Das … also … Nichts für ungut“, stoße ich ablehnend aus. Ich mustere ihn, während ich seine Statur mit der Hand nachfahre.
„Ich bin Medizinmann“, beschwichtigt er schulterzuckend.
„Ist mir nicht entgangen. Aber bevor Sie jetzt den Schrumpfkopf rausholen, möchte ich noch einwerfen, dass ich keine medizinische Betreuung brauche. Sehen Sie – ich seh zwar nicht so aus, aber ich kann einiges einstecken.“ Sein Blick ist unergründlich. Im nächsten Moment bricht er in schallendes Gelächter aus.
„Du hast echt Schrumpfkopf zu mir gesagt.“ Warte mal. So war das aber nicht.
„Also genaugenommen habe ich …“ „Du gefällst mir“, unterbricht er mich. „Du trägst das Herz am rechten Fleck, wie ich spüre.“ Ich schlucke laut.
„Ich weiß nicht, ob das jetzt gut oder schlecht ist. So im Kontext Ihres Berufes betrachtet.“ Wieder lacht er laut.
„Bitte hör auf – ich kann nicht mehr.“ Er hält sich den Bauch vor Lachen.
„Okay.“
„Wenn du den Brandy nicht willst.“ Er zuckt mit den Schultern und leert den Becher in einem Zug.
Ich hebe beschwichtigend die Hand. „Hab sowieso aufgehört.“ Wieder lacht er laut.
„Melody – nicht wahr. Ich bin Doktor Francis.“ Er hält mir seine Hand hin, die ich zögerlich ergreife.
Er zieht die Augenbrauen hoch und drückt meine Hand fester. „Aha, ahaaaaa. Hm.“ Verdammt, was macht er da?
„Was immer es auch ist, ich will es nicht wissen“, informiere ich ihn präventiv.
„Okay“, meint er schulterzuckend. Mein Blick schweift neugierig im Raum umher. 15 Betten, eins davon verhüllt.
„Was ist hinter dem Vorhang?“ Da bricht die weibliche Neugierde wieder durch.
„Ein Patient, der im Koma liegt.“ Wie schrecklich. So was muss hart sein. Nicht aufwachen zu können. Gefangen in seinem eigenen Körper. Ich will mir das gar nicht ausmalen.
„Wie viel Prozent Wahrscheinlichkeit, dass er aufwacht?“, will ich wissen. Doktor Francis zieht die Augenbrauen hoch.
„Kann ich nicht sagen. Zehn? Vielleicht auch weniger.“ Also unwahrscheinlich.
„Wie kommen Sie damit klar?“
„Womit denn?“
„Nur zusehen zu können.“ Sein Blick wandert ins Leere.
„Es macht mich fertig“, gibt er zu. Er sieht aus wie ein Häufchen Elend. Aufmunternd drücke ich seine Hand.
„Wollen Sie ein Geheimnis erfahren? Von jemandem, der die Toten sehen kann.“
Er nickt interessiert.
„Sie tragen keine weißen Nachthemden.“ Die geplante Aufmunterung hat funktioniert – er lächelt. Mit der Info lasse ich ihn allein zurück und verlasse den Raum.
Draußen erwarten mich bereits Sonny und Meric.
„Hey, wie geht’s dir?“, will Meric wissen.
„Alles noch dran. Nur meinen schwarzen Humor konnte er nicht rausoperieren. Sitzt zu tief.“ Beide lächeln und ich flüstere: „Was zum Teufel war das?“