Читать книгу Und Erdbeeren wachsen doch auf dem Mond - Marie Lu Pera - Страница 5

Vollkommene Zahl

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Okay, also scheinbar bedrohen Zombies, sogenannte „Nova“, die magische Welt. Toll. Als ob ich nicht auch so schon genug Probleme an der Backe hätte.

Sie wissen nicht, woher sie kommen oder welches Ziel sie verfolgen, aber sie greifen Leute an und machen sie ebenfalls zu Zombies, wenn man gebissen wird. So viel dazu.

Ach ja. Sonny stand hinter der Gartenmauer und hat den Typen, der mich angegriffen hat, zermalmt, womit er sich ein dickes Küsschen als Belohnung verdient hat, das ich ihm gleich an die Wange gedrückt habe. Natürlich unter dem Vorwand, ihm was ins Ohr flüstern zu wollen, sonst wär ich da nie drangekommen.

„Melody, träumst du schon wieder? Genau wie in meinen Stunden. Ich hatte dich schon viermal gerufen“, schnauzt mich Professor Triz – der Mathe-Langweiler – an, vor dessen Büro ich warte.

„Ich träume nicht, ich überlege. Da ist ein Unterschied“, kontere ich.

„Wie auch immer. Komm in mein Büro.“

Der Raum ist über und über voll mit Zahlentapete. Wow, so muss sich der siebte Himmel anfühlen. Ich komme aus dem Glotzen gar nicht mehr raus. Um alles in mich aufzusaugen, drehe ich mich sogar im Kreis.

„Melody?“ Er zieht die Augenbrauen hoch und ergänzt „Setz dich.“

Ich tue, was er sagt und nehme Platz. Mit zusammengekniffenen Augen mustert er mich, aber ich lasse den Blick durch das Zimmer gleiten. Die Tapete ist viel interessanter.

„Was tust du da?“, will er wissen.

„Ich hatte mich gesetzt, wie Sie’s mir befohlen haben.“

„Nein. Ich meine, wieso starrst du die Tapete an?“

„Ist das ein Verbrechen? Tut mir leid. Ich hatte wohl das „Tapete anstarren verboten“-Schild übersehen.“ Wieder schweift mein Blick ab.

„Zählst du?“ Seine Worte reißen mich wieder ins Hier und Jetzt.

„Ähm, vielleicht.“

„Was denn nun?“

„Ja, okay. Ich gestehe alles. Ich zähle. Was ist daran schlimm?“, stoße ich genervt aus.

„Wie viele Knöpfe hat mein Hemd?“

„Das geht mich absolut nichts an.“

„Antworte.“

„Neun. Aber manchmal sind da noch so Ersatzknöpfe, die ich nicht sehen kann“, entgegne ich geläutert. So als hätte er mich gerade beim Stehlen erwischt.

„Wie viele Schüler waren heute in meinem Kurs?“

„164.“ Das kam wie aus der Pistole geschossen. Ich bin selbst überrascht.

„Seit wann hast du das?“, will er wissen.

„Was denn?“

„Den Zwang zu zählen.“ Er spricht davon, als wäre es eine Krankheit.

„Keine Ahnung. Seit ich zählen kann? Aber das ist kein Zwang. Ich meine, ich hab das voll unter Kontrolle. Ich bin kein Junkie oder so.“

„Ja klar. Das sagen sie alle“, knallt er mir vor den Latz. Im nächsten Moment zückt er einen Block, auf den er Rechnungen kritzelt.

Ich muss sie für ihn im Kopf lösen und lasse die Prozedur wehrlos über mich ergehen.

Gefühlte Stunden später kratzt er sich am Kopf und verkündet: „Ich nehme meine Anschuldigungen gegen dich zurück. Du kannst jetzt nach Hause gehen.“

Ich nicke und verlasse den Raum. Den frechen Kommentar, den ich auf Lager hatte, hab ich mir verkniffen.

Bevor ich zur Tür raus bin, erkenne ich, dass es schon dämmert. Super. Jetzt ist der Gruselfaktor des Nachhauseweges noch um einiges höher. Und bei meinem mp3-Player ist der Saft alle. Ich Glückspilz.

Aus dem Wald kommen knackende Geräusche. Ich atme tief durch, um nicht durchzudrehen. Da ist nichts, gar nichts. Das war bloß ein Windstoß. Anstatt geradeaus zu sehen, blicke ich doch kurz zum Waldrand und erstarre.

Da steht jemand neben einem Baum. Sein Schatten, den das Mondlicht auf den Boden wirft, reicht fast bis zu mir und ich frage mich, ob mich meine vollen Hosen beim kreischend das Weite Suchen behindern.

Zu allem Übel lässt mich der Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Autos kurzzeitig erblinden.

Der Wagen hält neben mir. Die dröhnende Musik wird runtergedreht. Jemand stößt eine Wagentüre auf und ich vernehme aufgeregtes Geschnatter von Mädels vermischt mit dem Grölen von Jungs.

„Na toll. Hätt ich mir ja denken können.“ Die Stimme kommt von einem Muskelprotz, der vor mir steht. Es ist der Arroganz-Kelte. Mir bleibt echt nichts erspart.

„Bist du extra stehengeblieben, um mich anzumotzen?“, werfe ich ihm vor.

„Komm schon Aidan, lass uns fahren“, ruft eine blonde Keltin aus dem Wagen. Ja Aidan, fahr schon.

Er ignoriert sie. „Was machst du ganz allein hier draußen? Hattest du noch nicht genug Nervenkitzel für heute?“ Was soll ich sagen, bin wohl ein Adrenalinjunkie.

„Vom Nervenkitzel kann man doch nie genug kriegen“, spotte ich und gehe weiter.

„Bleib stehen. Ich fahr dich nach Hause.“ Das wirst du nicht.

„Aidan komm schon.“ Die Blonde presst sich aus dem Fenster, um ihn anzuschmollen.

„Wieso steigst du nicht zurück ins Auto und vergisst, dass du mich gesehen hast. Das ist ganz leicht. Warte.“ Schnell mache ich einen Schritt aus dem Lichtkegel seiner Wagenscheinwerfer und die Dunkelheit verschluckt mich wieder. „Siehst du.“ Jetzt bin ich unsichtbar. Blöderweise bin ich das bei Tageslicht auch.

Er rauft sich die Haare und sieht zu der Blonden rüber. Der Typ ist sichtlich hin und her gerissen.

„Steig ins Auto Melody. Hier draußen ist es zu gefährlich für dich.“ Er sieht mich an, als wär ich die bemitleidenswerteste Kreatur, die auf diesem Planeten wandelt.

„Lass dein Mitleid stecken, Kelte. Ich komm ganz gut allein zurecht.“ Ich will weitergehen, doch er hält mich am Arm fest.

„Du steigst jetzt in das Auto Melody. Ich will nicht schuld sein, wenn du von einem Drachmen angegriffen wirst.“

„Was immer das auch ist, ich ziehe es deiner Gesellschaft vor.“ Er rollt mit den Augen und zieht mich zum Wagen. Panik steigt in mir auf.

„Nein ... nicht ... Aidan. Lass mich.“ Er lässt mich abrupt los. Ich hyperventiliere gleich. Dabei halte ich mir die Hand schwer atmend an die Lunge.

„Weißt du was? Tu doch, was du willst, du Verrückte.“ Verärgert steigt er in den Wagen und schlägt die Türe laut zu. Dann braust er davon.

„Ich tu sowieso, was ich will“, belle ich ihm hinterher. Blöder Idiot.

Aufgebracht stapfe ich davon. Dabei hoffe ich inständig, mir die Gestalt von vorhin nur eingebildet zu haben. Vielleicht wars ja auch nur ein Geist, der mich wieder mal angestarrt hat. Ja, das wird es sein.

Ich weiß nicht wie, aber ich habs doch irgendwie mit trockener Hose geschafft, nach Hause zu kommen und knalle die schwere Tür hinter mir zu.

Wieder schreite ich den Turm empor – prima, heute waren es 275 Stufen.

Ich habe nur ein Ziel – die Wanne. Meine Hände sind ganz klamm vor Kälte und ich glaube, meine Beine sind bereits abgestorben.

Das heiße Wasser tut unglaublich gut. Ich tauche mit dem Kopf unter, um die Welt auszublenden.

Ich bin gerade dabei, Feuer in dem kleinen offenen Kamin zu machen, da ertönt ein: „Wow, das nenn ich mal eine Bruchbude.“ Vor Schreck verbrenne ich mich so richtig schön und fahre hoch.

„Der Tag wird immer besser“, kommentiere ich die Anwesenheit der Astralprojektion meines persönlichen Hexen-Stalkers, der anscheinend zu Phase 2 übergegangen ist. Noch dazu glotzt er mir gerade unverschämt auf die Brüste, die in einem weißen Hauch von Nichts VTrägerlaibchen stecken und die ich sogleich mit meiner Strickjacke verhülle.

„Hab ich dich erschreckt?“, will er scheinheilig wissen.

„Was mich erschreckt, ist deine klaffende Wissenslücke über die Bedeutung des Wortes „Privatsphäre“.“

„Oh, ich weiß, was das Wort bedeutet.“ Noch schlimmer – ein Unbelehrbarer.

„Du scheinst es aber noch nicht verinnerlicht zu haben“, kontere ich.

„Ich wollte sehen, wies dir geht. Du warst ganz schön durch den Wind, als du aus der Krankenstation kamst.“

Ich reibe mir die brennende Stelle an der Hand und halte sie unter die Wasserleitung.

„Und da schneist du einfach so bei mir rein? Ohne vorher anzuklopfen? Muss ich jetzt in ständiger Angst leben, dass du mich eiskalt in der Badewanne erwischst?“

„Du hast gebadet?“ Sein Blick wandert zu dem Objekt – ja okay, das Teil steht hier mitten im Raum. Ich weiß, das ist ziemlich abartig, aber was soll ich machen. Extra Badezimmer hatten sie nicht mehr in dieser Luxusanlage.

„Verdammt, ich war einen Hauch zu spät“, raunt er.

„Also ganz ehrlich, sei froh, dass das nur der Abklatsch von dir selbst ist, sonst würd ich dir jetzt eine verpassen.“

„Das war ein Scherz, reg dich ab. Hey, hast du dich verbrannt?“

„Jetzt lenk nicht ab. Was tust du wirklich hier? Du glaubst doch nicht, dass ich dir die ewige Sorge um mich abkaufe.“ Er sieht ziemlich vor den Kopf gestoßen aus, fängt sich aber gleich wieder.

„Ja, okay. Vielleicht war mir langweilig.“

„Du bist ein Hexer. Wie kann dir da langweilig sein? Ich würd die ganze Zeit coole Zauber durchprobieren und mir jede Menge Schokolade herbeihexen. Wenn jemandem langweilig sein darf, dann doch wohl nur den nichtmagischen Wesen – wie mir zum Beispiel.“

„Du würdest dir Schokolade herbeihexen?“ Meric scheint amüsiert zu sein.

„Aber so was von“, bestärke ich meine Aussage.

„Ich würd mir an deiner Stelle eine schönere Bleibe hexen.“

„Was hast du gegen meine Bude?“ Herausgefordert stemme ich die Hände in meine Hüften.

Sein Blick schwenkt angewidert durch den Raum. „Nichts – wenn man auf spätes dreizehntes Jahrhundert steht.“

„Das tut mir aber leid, Eure Hoheit, dass ich Euch nicht in meinem goldenen Salon empfange. Ach, da fällt mir ein, du bist ja gar nicht eingeladen.“

„Ich könnte da was machen. Raumplanung ist meine Spezialität.“

„Mir gefällt es hier, okay. Ich weiß ja nicht, was du so gewöhnt bist, aber alles ist besser, als auf der Straße zu leben.“ Verdammt, jetzt ist mir doch tatsächlich etwas rausgerutscht.

Er sieht mich verblüfft an. „Du hast auf der Straße gelebt?“

„Du weißt schon, wie ich das meine, Meric“, rede ich mich raus.

„Du hast keine Ahnung wer ich bin, oder?“

„Doch, du bist Meric. Mein Hexen-Stalker.“

Ein Geräusch unterbricht uns. „Was war das?“, will er wissen.

„Ignorieren, einfach ignorieren.“

„Ist das einer deiner Mitbewohner?“

„Schon möglich. Definiere Mitbewohner.“

Du wohnst hier ganz allein?“, mutmaßt er krächzend.

„Sieht so aus, hört sich ganz und gar nicht so an. Aber hey, es gibt fließend heißes Wasser und ich hab nur ein vernachlässigbares Mäuseproblem.“

„Hast du denn keine Angst?“

„Und wie.“

„Du siehst nicht so aus“, stellt er mit zusammengekniffenen Augen fest.

„Alles Tarnung. Der Trick ist, seine Umgebung auszublenden und sich nur auf das Wesentliche zu konzentrieren.“

Er nickt leicht. „Muss ich mir merken.“

„Komm schon, du hast doch vor gar nichts Angst. Ich meine, du brauchst doch nur den Zauberstab zu schwingen und schon zittern die Bösewichte vor dir.“

Er lächelt überheblich. „Macht dich das an?“

„Und wie. Jedes Mal, wenn ich dich sehe, hab ich diesen Drang, mich dir an den Hals zu werfen.“

Echt?“ Er hat die Augen weit aufgerissen.

„Natürlich nicht, du Spatzenhirn.“ Er lächelt.

„Du hast mich echt Spatzenhirn genannt.“

„Du hast es herausgefordert.“

„Ich könnte dich verhexen.“

„Ich könnte dir einen Toten auf den Hals hetzen.“ Er scheint etwas eingeschüchtert zu sein.

„Du bluffst.“

„Genauso wie du.“ Jetzt lächeln wir beide.

Meric dreht den Kopf zur Seite. „Mein Vater ruft mich.“

Ich weiß nicht wieso, aber blitzschnell sind meine Augen mit Tränen gefüllt. Wie sich das wohl anhört, wenn man von seinem Dad gerufen wird?

„Melody? Wieso kuckst du so traurig?“

Ich winke ab. „Los, hau schon ab.“

Jetzt wird sein Blick irgendwie eigenartig. „Soll ich dich wirklich alleinlassen?“

Wird sich wohl kaum vermeiden lassen. Außerdem bin ich ganz gerne allein. Das macht mir nichts aus.

„Gute Nacht Meric“, raune ich ungeduldig.

Im nächsten Augenblick ist er schon weg. Meine Hände zittern und ich glaube, ich hab grad wieder so einen schwachen Moment, den ich mit heftigem Kopfschütteln zu vertreiben versuche.

„Du siehst müde aus.“ Meric steht hinter mir am Spind. Ich schließe die Tür, hole aus und boxe ihm an die Schulter.

Verblüfft greift er danach und protestiert: „Hey, wofür war das denn?“

„Das war dafür, dass du mir gestern Nacht auf die Brüste geglotzt hast. Und denk ja nicht, ich würd so was nicht mitbekommen, mein Freund.“

„Schätze, das hab ich verdient. Aber sie sind schön.“ Ich halte mir die Ohren zu.

„Diese Unterhaltung ist nun beendet.“ Der Typ ist echt gruslig.

Er schnappt nach meiner Hand und hält seine darüber. „Hey, was zum …“ Sie wird warm und fängt an zu kribbeln. Keine zwei Sekunden später lässt er sie los. Dort, wo die Verbrennung von gestern war, ist jetzt wieder heile Haut. Ich lächle dankbar. Meric will mir die Hand küssen, die ich ihm unter der Nase wegziehe. Kopfschüttelnd eile ich davon.

Schneller als sonst mache ich mich auf den Weg zur nächsten Stunde. Der einzige Lichtblick – das Schwimmtraining. Wasser ist mein Element und heute ist die Bewerbungsrunde fürs Schwimmteam. Und ich will da rein. Unbedingt.

In der Umkleide krieg ich ungebremst die geballte Ladung Was-will-die-denn-hier-Blicke ab, aber ich lasse mich nicht einschüchtern. Auch nicht vor den weiblichen Wassermännern – heißen die eigentlich Wasserfrauen oder Meerjungfrauen? Sie haben schon mal keine Fischschwänze. Egal.

Ihre Haut schimmert fast bläulich-silbern. Sie haben Schwimmhäute und Kiemen, sehen aber sonst wie normale Teenager aus. Ich frage mich, ob ich überhaupt Chancen habe, gegen sie anzutreten – wohl eher nicht.

Turmspringen ist meine größte Leidenschaft. Das ständige Leben in Angst, meine Badesachen beim Eintauchen zu verlieren, ist der ultimative Kick für einen Adrenalinjunkie wie mich – schön wärs.

Mein schwarzer Monokini, der mit goldenen Ringen zusammengehalten wird und aussieht wie ein Bikini, ist perfekt. Man könnte auch einen normalen Badeanzug anziehen, aber seien wir uns mal ehrlich – damit sieht doch jeder wie seine eigene Oma aus.

Ich mag meinen Körper eigentlich und muss mich nicht verstecken. Außer meine Haare, die sind so kurz, dass sie in alle Richtungen abstehen. Die werden schön säuberlich mit der Mütze verdeckt.

Mein Umkleidekabinen-Selbstbewusstsein wird auf eine harte Probe gestellt, als ich erkenne, dass wir wohl gemischte Gruppen haben und ich wieder mal die Aufmerksamkeit der gesamten Halle auf mich ziehe.

Was glotzt ihr so? Noch nie ein Tattoo gesehen? Ja – ich geb’s zu. Das sind Reliquien einer Zeit, in der ich alles versucht habe, um die Toten loszuwerden. Einer der Exorzisten meinte, ich solle mir doch Runen auf die Haut tätowieren lassen. Hey, es klang in dem Moment plausibel. Außerdem war ich verzweifelt.

Raus kam ein Tattoo, das sich unterhalb meiner rechten Brust über meine gesamte rechte Körperhälfte zieht.

Von der Nähe aus betrachtet, erkennt man Runen, aber von Weitem sieht es so aus, als wäre ein Drache auf meiner rechten Seite gelandet. Sogar auf meinem unteren Rücken sind seine Flügel erkennbar. Eine seiner Krallen gräbt sich in meine Unterbrust. Ach, und an meinem rechten Bein schlängelt sich sein Schwanz entlang. Als ich es zum ersten Mal sah, hat es mich fast umgehauen. Das ist echt zum Fürchten.

Naja, was soll ich sagen – geholfen hats nicht, aber einen Versuch wars wert.

Die Mädchen brechen in kollektives Getuschel aus. Den Jungs sind die Kiefer reihenweise runtergeklappt. Ich strecke die Schultern zurück und tue das, was ich mittlerweile am besten kann – ich ignoriere es.

Nachdem ich mich auf die Tribüne gesetzt habe, kommt einer der Kelten auf mich zu und glotzt mir an die Seite.

„Sie trägt Runen, die ich noch nie gesehen habe“, brüllt er wild. Was immer das auch genau bedeuten mag, es löst das Augenbrauending aus.

„Was für ein Freak“, stößt die Blonde, die gestern im Wagen des Arroganz-Kelten Aidan mit von der Partie war, aus.

„Ruhe“, hallt es vom Beckenrand und ein älterer, muskelbepackter Wassermann tritt an den Beckenrand.

„Ich bin Coach Nixon. Wer ins Schwimmteam will, sollte jetzt besser die Klappe halten und mir einen Sprung liefern, der sich gewaschen hat. Verstanden?“ Geht klar.

Der Coach ruft einen Wassermann auf, der sogleich den Zehnmeterturm erklimmt. Meine Augen wandern umher und was ich sehe, lässt sich echt sehen. Muskelbepackte Männer in Badehosen sind echt knackig.

Oh nein. Gerade haben sich meine und die Blicke von Aidan, dem nun lederjackenlosen Kelten, verwoben. Schnell drehe ich den Kopf weg. Es wird nicht besser – ich treffe auf einen winkenden Meric. Genervt rolle ich mit den Augen und sehe den Wassermännern bei den Sprüngen zu.

Die sind echt gut. Dreifachsalto, mehrere Schrauben. Wahnsinn. Meine Hoffnung, ins Team zu kommen, schwindet.

Jetzt ist Aidan an der Reihe. Auch er liefert definitiv eine Höchstleistung ab. Vor allem, weil er aus dem Handstand gesprungen ist. Verdammt.

Meric sieht etwas grün aus, als er die Stufen emporklimmt. Wie erwartet ist sein Sprung eher Amateurliga. Hey, fürs Schwimmbad reichts. Es gibt ja auch Arschbombenwettbewerbe – da ist er sicher Bombe.

Einige lachen sogar, weil er sich die Nase zugehalten hat und kerzengerade reingesprungen ist. Ich klatsche aber – als Einzige – und fange mir reihenweise belustigte Blicke ein. Hey, hier zählt immer noch der olympische Gedanke. Dabei sein ist alles. Er hat zumindest nicht gekniffen.

Jetzt sind die Jungs fertig und die Mädchen dürfen springen. Die Wasserfrauen stehen den Männern um nichts nach. Euphorisch werden sie von den Jungs lautstark angefeuert.

Und auch die blonde Keltin ist echt gut. Sie schraubt sich aus dem Wasser wie eine Baywatch-Nixe und wirft sich die nassen Haare um die Schultern. Erinnert mich irgendwie an einen Golden Retriever, der sich trockenschüttelt, aber hey, da spricht bloß der blanke Neid aus mir.

„Brich dir nicht den Hals, du Freak“, gibt sie mir mit auf den Weg, als ich als Nächste aufgerufen werde. Wieso lässt mich das Gefühl nicht los, alle Augen auf mir kleben zu haben, als ich zum Trainer gehe, der die Augenbrauen hochzieht.

„Melody, nicht wahr?“

„Die bin ich.“

„Hast du das schon einmal gemacht?“, will er stirnrunzelnd wissen.

„So ein-, zweimal“, erwidere ich gelassen.

Er scheint zu überlegen und kratzt sich mit dem Stift am Kopf. „Ich weiß nicht recht. Du könntest dich verletzen.“

„Sie trauen mir echt nichts zu oder?“ Sein Blick wirkt verblüfft. Im nächstem Moment deutet er mir mit seiner Hand, dass der Sprungturm mir gehört.

Als ich meine Mütze vom Kopf ziehe und sie auf die Seite lege, lachen einige der Mädchen auf. Ja, ich hab nicht zu bändigende Strubbelhaare und ich steh auch dazu. Manche zahlen für so was.

Ich habe genau gesehen, dass der Coach einem der Wassermänner – nämlich genau dem, der mit dem Dreizack aufgekreuzt ist, als ich von dem Nova angegriffen wurde – ein Handzeichen gegeben hat. Daraufhin springt er ins Becken. Wahrscheinlich hat er Angst, ich saufe ab und schickt schon vorher einen lebenden Rettungsring rein.

Stufe für Stufe steige ich empor. Als ich Richtung fünfzehn Meter aufsteige, ruft mir der Coach ein: „Du bist zu weit oben, du hast die zehn Meter verpasst. Geh zurück“ hoch, was ich so richtig schön ignoriere.

„Melody! Hörst du nicht? Komm sofort da runter.“ Nein, denn ich hab mir gerade meinen mp3-Player reingesteckt, der glücklicherweise auch unter Wasser funktioniert. Es lebe die Technik des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts.

Auf der Plattform angekommen, gehe ich bis zum äußersten Rand und drehe ihnen meinen Rücken zu. Rückwärtssprünge sind einfacher für mich, da man den Abgrund nicht vor Augen hat. Niemals runterkucken, ist die Devise.

Nur noch meine Zehen halten mich am Rand. Ich strecke die Hände hoch. Mein persönliches Sprungprogramm läuft ab. Inbrünstiger Schrei – Absprung – Vierfachsalto und rein in die Suppe.

Meine Fingerspitzen tauchen ins Wasser ein. Im nächsten Moment bin ich in einer anderen Welt.

Ich reiße die Augen auf und kann es mir nicht verkneifen, dem Wassermann zu winken. Dann geht mir aber die Luft aus, was mir wieder klar den Unterschied zwischen unseren Rassen vor Augen führt. Ich schraube mich an die Wasseroberfläche, die ich sogleich durchbreche.

Die in der Halle herrschende Ruhe als Totenstille zu bezeichnen, wäre eine Untertreibung.

Der Coach steht neben dem Monitor mit der Zeitlupenaufnahme meines Sprunges und ist sichtlich geflashed.

Ich klopfe ihm zweimal auf die Schulter, um zu überprüfen, ob er noch atmet, hole meine Mütze und verlasse die Schwimmhalle.

Das hält ja keiner aus. Ich weiß nicht, ob das ein gutes oder schlechtes Zeichen ist. Egal. Ich hab mein Bestes gegeben. Mehr ist nicht drin.

Anscheinend ist die Stunde vorüber, denn kurze Zeit später strömen die Weibchen in die Umkleide. Wenn Blicke töten könnten, dann würd ich jetzt schon unter die Bank gekloppt liegen. Eine der Wasserfrauen zeigt mit ihrem Finger auf mich. „Ich beobachte dich Freak.“

Das „Stell dich hinten an“, aus meinem Munde, scheint ihr nicht zu gefallen, denn sie kommt schnaubend auf mich zu und drückt mich gegen einen Spind.

„Brian gehört mir, verstanden“, faucht sie wild.

„Wer immer das auch ist. Du kannst ihn haben.“

Sie lächelt überlegen. „Brian ist der Sohn des Königs und ich bin ihm versprochen.“

„Meinen Glückwunsch“, spotte ich. Sie lässt ihren Blick nochmal abschätzig über mich gleiten. Lässt mich daraufhin aber los. Aua, das hat wehgetan Fischstäbchen.

Auf dem Weg nach Draußen reibe ich mir den Hinterkopf und sage mir wieder einmal, wie toll mein Leben doch läuft.

Und es wird noch besser, denn der Wassermanntyp, den mir Coach Nixon ins Becken geschickt hat, drückt sich von der Wand ab und geht mir entgegen.

„Hi, ich bin Brian. Das war echt ein guter Sprung. Melody, nicht wahr?“ Alarmstufe Rot.

Ich halte mir die Ohren zu und singe ein „Fish in the sea, you know how I feel …“, während ich mich an ihm vorbeidrücke, um die Kurve zu kratzen.

So kann er mich zumindest für verrückt halten und geht mir aus dem Weg. Ich hab nämlich echt Schiss vor den Wasserfrauen.

In einer Biegung des Ganges pralle ich frontal in den Kelten alias Aidan, sodass mich der Rückstoß auf den Allerwertesten fallen lässt. Die blonde Baywatch-Tussi, die neben ihm steht, lacht sich gerade über mich schlapp.

Ich rapple mich genervt hoch. Aidan stößt ein amüsiertes: „Wieso hab ich das Gefühl, dass wir ständig aneinandergeraten?“ aus.

„Kunststück. Du bist ja auch breit wie ein Schrank“, entgegne ich forsch. Schnell flüchte ich mich in ein Klassenzimmer und atme tief durch. Der Wahnsinn hat mich voll im Griff. Ein Tippen an meiner Schulter lässt mich fast durchdrehen.

„Das ist ja wie in der Geisterbahn, hinter jeder Tür ein …“ Ich stoppe mitten im Satz, weil mich der behaarte Typ so finster ansieht. Meine Alarmglocken läuten. Ähm, Werwolf?

Ich bin wohl direkt in eine geheime Sitzung geplatzt.

„Mittagessen?“, fragt einer der Typen amüsiert.

„Ja, wer hatte eiskaltes Hühnchen bestellt?“, spottet ein anderer.

„Hm, sie riecht nach Melisse“, schnurrt ein Mädchen in Lackstiefeln genussvoll.

Der Typ kommt näher und ich stemme mir die Hände in die Hüften. „Hör auf, mich anzusehen, als wär ich ein Gurkensandwich. So was ist unhöflich“, raune ich fuchsteufelswild. Ein kollektives Lufteinziehen geht durch die Reihen.

„Dass du es wagst, so mit ihm zu sprechen“, haucht das Mädchen luftschnappend.

Im nächsten Moment geht die Türe auf und Frank, der Direktorenschleimer, zieht mich aus dem Raum. „Der Direktor will dich sprechen.“ Das wird ja immer besser.

„Machst du auch Männchen und bekommst nachher ein Leckerli, wenn du brav warst?“, spotte ich. Das macht ihn rasend. Der Schleimer drückt mir seine Hand in den Arm.

„Warts nur ab. Noch ein paar Monate und er wirft dich hier hochkant raus.“

„Prima. Ziel erreicht. Hey, könntest du dich mal lockermachen? Du tust mir weh“, wehre ich mich.

Zu spät – wir stehen schon vor der riesigen Holztüre, durch die er mich reindrückt.

„Melody, schön dich zu sehen“, ertönt es von einer quietschend schrill verstellten Stimme mit Ursprung Direktor. Das ist so ein Schauspieler. Er hasst mich aus tiefstem Herzen. Ich bin die Anomalie hier und das lässt er mich auch spüren.

„Das beruht nicht auf Gegenseitigkeit“, entgegne ich, was ein herzhaftes Lachen bei ihm auslöst.

„Immer noch ein Rebell“, stellt er kopfschüttelnd fest.

„Man tut, was man kann.“

„Du wurdest gestern von einem Nova angegriffen, wie ich hörte.“

„Richtig gehört.“

„Und du bist unversehrt, wie ich sehe.“

„Richtig gesehen. Tja, beim nächsten Mal vielleicht“, spotte ich. Er zieht die Augenbrauen hoch und verkündet in sein Mikrofon, das seine Stimme ins ganze Schulgelände überträgt:

„Schüler. Hier spricht der Direktor. Von heute an geht keine weibliche Studentin mehr alleine ihres Weges. Wir hatten einen Angriff der Nova auf dem Gelände und deshalb ist äußerste Vorsicht geboten.“ Er wendet sich wieder mir zu.

„Das war dann alles Melody. Ach, und pass auf dich auf.“ Das sagt er so überheblich, dass ich mir einen erschrockenen Blick, der direkt ins Leere neben seinen Sessel gerichtet ist, nicht verkneifen kann.

Bevor ich das Büro verlassen kann, hält er mich mit einem: „Melody, da ist doch kein … ich meine, dein Blick von vorhin ...“ Ihn völlig ignorierend, knalle ich die Tür von außen zu.

Ha, so ein Einfaltspinsel. Jetzt glaubt er wahrscheinlich die ganze Zeit, da drin wär ein Toter.

Das zaubert mir sicherlich für den Rest des Tages ein Lächeln ins Gesicht. Ich bin schon gemein, aber irgendetwas an diesem Direktor lässt meine Alarmglocken schrillen.

Auf dem Weg zurück komme ich an der Krankenstation vorbei. Das Zerbrechen von Glas ertönt aus dem Raum. Vielleicht ist der oder die ja aus dem Koma erwacht? Das wär so toll, wenn auch mir mal was Schönes passieren würde.

Das war ja wohl nichts, denn als ich die Tür öffne, sehe ich einen dicken Toten, der sich am Vorhang des Kranken zu schaffen macht.

„Lass das, Fettsack.“ Ich stürme zu ihm hin und schupse ihn weg, was ihn zurückstolpern lässt. Sein Gesicht solltet ihr mal sehen. Geister Erschrecken ist doch immer wieder spaßig. Wenn ich einen Fotoapparat hätte, würde ich sein blöd glotzendes Mondgesicht für die Nachwelt aufzeichnen.

Schnell sucht er das Weite. „Ja, hau bloß ab“, murmle ich ihm hinterher.

Mit einem: „Tut mir leid. Der gehört zu mir“, ziehe ich den Vorhang wieder zu. Mein Blick bleibt an einer Hand hängen.

Die Finger sind stark, aber dennoch feingliedrig. Ich glaube, ich habe noch nie zuvor eine schönere männliche Hand gesehen. Sie hängt aus dem Bett. So beschließe ich – aus Angst, sie könnte ihm absterben, falls ihm der Arm einschlafen sollte – kurz reinzuschauen und sie an den rechten Platz zu rücken.

Schnell schlüpfe ich durch den Vorhang und greife danach. Als ich sie berühre, zieht wohlige Wärme durch meinen Körper. Ich schnappe nach Luft. Wow, ich kann förmlich spüren, wie die Kälte zurückweicht. Nachdem ich den Arm zurück aufs Bett gelegt habe, sehe ich mir den Kranken genauer an.

Ich bin wie erstarrt, denn dort liegt der schönste junge Mann, den ich jemals gesehen habe. Seine Haut ist so glatt und samtig, dass ich mich frage, wie weich sie sich wohl auf meiner Haut anfühlen würde. Sein Haar ist in lange Dreadlocks gebunden. Seine ganze Mähne wird von einem ledernen Band zurückgehalten.

Seine Brust liegt frei und ist erstaunlich muskulös. Tribal Tätowierungen ziehen sich über seine Haut. Er trägt eine Kette um den Hals, an der eine Phiole baumelt, die eine schimmernde Flüssigkeit einschließt.

Ich frage mich, welche Farbe seine Augen haben. Plötzlich erkenne ich denselben transparenten Schein auf seiner Haut, wie ihn der Nova hatte, der mich angegriffen hat.

Ohne ihn zu berühren, wandert meine Hand automatisch über seine Brust. In mir keimt ein Gedanke auf. Das ist total verrückt, aber vielleicht könnte ich den Geist aus ihm vertreiben.

Der Junge macht mich nervös. Natürlich mache ich das, was ich immer in diesem Zustand tue – ich fange an zu labern. „Hi, ich bin Melody. Ich kann das sehen, was da in dir steckt. Hm, ist ziemlich krass. Es sieht so aus, als ob du dir da einen Parasiten eingefangen hättest – also einen Geist. Soll ich dir was verraten? Aber dreh jetzt nicht durch, okay?“ Ich beuge mich zu ihm runter und flüstere ihm ins Ohr. „Ich kann die Toten sehen und in dir steckt einer drin. Ist ziemlich übel. Aber weißt du was? Es gibt Schlimmeres.“

Ich weiß nicht wieso, aber ich setze mich zu ihm aufs Bett und ziehe die Beine an meinen Körper. Ich hab das Gefühl, dass es mir besser geht, wenn ich mal mit jemandem rede. Jämmerlich, ich weiß. „Du könntest zum Beispiel ich sein, das wär echt übel. Oder dir könnte so ein ekelhaftes Furunkel aus dem Kopf wachsen. Abartig so was. Hey, weißt du was? Mir fällt gerade auf, dass die Vorhänge von exakt 28 Ringen an der Stange gehalten werden – das ist ein gutes Zeichen. 28 ist eine vollkommene Zahl. Davon gibt’s nur ganz wenige. Sie ist perfekt, weil sie gleich der Summe all ihrer positiven Teiler ist – außer sich selbst versteht sich. 6 ist auch so eine perfekte Zahl. Ihre Teiler sind 1, 2 und 3. 1 + 2 + 3 ergibt 6 – perfekt, meinst du nicht auch? Tut mir leid, ich langweile dich sicher, aber ich mag Zahlen. Das ist das einzig Logische in meiner Welt – jämmerlich, ich weiß. Ja, ich geb’s zu – ich bin ein Zähljunkie. Ich weiß auch nicht, wenn ich zähle, vergesse ich mal für einen kurzen Moment das Chaos in meinem Kopf. Das ist aber auch egal, denn du kannst mich nicht hören. Hey, vielleicht kann ich dich ja wachrütteln? Das kann ich gut. Warte.“ Ich beuge mich über ihn und halte ihn an beiden Schultern fest. Jetzt rüttle ich was das Zeug hält. Nichts. Ja genau, Melody. Sicher kannst du ihn aufwecken.

„Einen Versuch war es wert. Hey, vielleicht willst du ja mit mir Hausaufgaben machen? Obwohl, lieber nicht, das wirkt glaub ich einschläfernd. Wenn du was dagegen hast, dass ich hier neben dir Hausaufgaben mache, dann beweg einen Finger.“ Es tut sich nichts, daher fahre ich fort. „Okay, du hast es so gewollt. Womit soll ich anfangen? Runen? Nein, da fall ich noch ins Koma, so langweilig ist das. Entschuldigung, ich wollte mich nicht darüber lustig machen. Ich bin einfach nur ein Sarkast. Also, Mathe? Nein, du hast recht. Ich sollte auf Entzug. Kräuter, das klingt doch toll. Also, ...“ Ich lese aus meinem Kräuterkundebuch vor: „Kräuter mit medizinischer Wirkung: A wie Ackerschachtelhalm, auch Zinnkraut genannt. Das Kraut fördert den Harndrang und ist somit ideal gegen Blasen- und Nierenerkrankungen aller Art … ist das abartig. Das sind definitiv zu viele Informationen über Körperteile, für die ich mich schäme. Ich glaube, ich mach doch mit Mathe weiter.“ Oh. Rückfall. Ich muss sogar über mich selbst lachen.

„Was machst du hier?“ Doktor Francis steht vor mir und hat die Arme vor seiner Brust verschränkt. Ich hab mich so erschrocken, dass ich fast vom Bett gefallen bin.

„Nichts, ich … war nur neugierig“, gestehe ich.

„Naja, du bist wenigstens ehrlich. Hast du jetzt genug gesehen?“ Er ist sauer. Ich nicke eingeschüchtert.

„Wie ist sein Name?“, will ich wissen, als ich mein Kräuterkundebuch aufhebe, das meinem Beinahe-Herzinfarkt zum Opfer gefallen ist.

„Nessaja.“

„Ist er ein Mensch?“, will ich wissen.

„Nein. Er gehört zu den Thaeis, ein Volk, das den Wald bewohnt.“

„Was ist mit ihm passiert?“

„Sein Stamm wurde von den Nova angegriffen. Wir gehen davon aus, dass er gebissen wurde. Er ist der letzte Überlebende. Manchmal wünsche ich mir, er würde nie wieder aufwachen, damit ich ihm nicht sagen muss, dass alle tot sind.“ Ziemlich erschrocken mustert er mich. Die Information ist ihm wohl rausgerutscht.

„Haben Sie’s schon mal mit einem Exorzismus versucht?“

Er legt die Stirn in Falten. „Was zum Teufel redest du da? Was soll das sein? Von der Heilmethode hab ich noch nie was gehört.“ Okay.

„Vergessen Sie’s einfach.“

Mit einem: „Komm, Melody“, ist er auch schon verschwunden. Ich beuge mich noch einmal über den Jungen. Ja genau, von meinem Starren wacht er bestimmt auf.

„Das tut mir sehr leid. Ich weiß, wie das ist, ganz allein zu sein.“ Eine Träne läuft mir über die Wange und fällt ihm auf den Arm. Sie verdampft zischend. Einer seiner Finger rührt sich zuckend. Wow, was war das? Okay, jetzt werd ich entweder schön langsam verrückt, oder … nein warte, ich bin verrückt. „DOKTOR FRANCIS“, brülle ich und mache meinem Geisteszustand alle Ehre.

Vollkommen aus dem Häuschen laufe ich zu ihm, kralle mir seinen Arm und ziehe ihn zurück zum Bett. „Er hat sich bewegt.“ Ungläubig sieht er mich an, untersucht ihn aber dann doch halbherzig – wahrscheinlich damit ich kein Theater mache und er mich bald von der Backe hat.

„Er ist noch im Koma. Du hast dich getäuscht Melody.“

„Nein, ich weiß, was ich gesehen habe. Er hat den Finger bewegt. Ich …“ Der Doktor scheint langsam die Geduld zu verlieren.

„Melody, hör zu, du siehst sicher einiges, was du nicht sehen solltest, also …“ „Was soll das denn heißen?“, falle ich ihm ins Wort.

„Ich will damit sagen, dass man manchmal den Bezug zur Realität verlieren kann, wenn …“ „Wenn man verrückt ist, wie ich es bin“, ergänze ich seine Worte.

„Das hab ich nicht gesagt.“

„Aber Sie haben es gedacht“, kontere ich. Sein Blick spricht Bände. So sieht also ein Medizinmann aus, den man gerade auf frischer Tat ertappt hat.

Enttäuscht stapfe ich davon.


Und Erdbeeren wachsen doch auf dem Mond

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