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I.
Оглавление„Tout est l’histoire.“
George Sand.
Histoire de ma vie. I. p. 268.
Im Oktober 1860 begann in der Landeshauptstadt B. die Schlussverhandlung im Prozess des Ziegelschlägers Martin Holub und seines Weibes Barbara Holub.
Die Leute waren gegen Ende Juni desselben Jahres mit zwei Kindern, einem dreizehnjährigen Knaben und einem zehnjährigen Mädchen aus ihrer Ortschaft Soleschau am Fusse des Hrad, einer der Höhen des Marsgebirges, im Pfarrdorfe Kunovic eingetroffen. Gleich am ersten Tage hatte der Mann seinen Akkord mit der Gutsverwaltung abgeschlossen, seinem Weib, seinem Jungen und einigen gedungenen Taglöhnern ihre Aufgabe zugewiesen und sich dann zum Schnaps ins Wirtshaus begeben. Bei der Einrichtung blieb es während der drei Monate, welche die Familie in Kunovic zubrachte. Das Weib und Pavel, der Junge, arbeiteten; der Mann hatte entweder einen Branntweinrausch oder war im Begriff, sich einen anzutrinken. Manchmal kam er zur gemeinschaftlichen Schlafstelle unter dem Dach des Schuppens getaumelt, und am nächsten Tag erschien dann die Familte zerbläut und hinkend an der Lehmgrube. Die Taglöhner, die nichts hören wollten von der auch ihnen zugemuteten Fügsamkeit unter die Hausordnung des Ziegelschlägers, wurden durch andere ersetzt, die gleichfalls „kehr-um-die-Hand“ verschwunden waren. Zuletzt traf man auf der Arbeitsstätte nur noch die Frau und ihre Kinder. Sie gross, kräftig, deutliche Spuren ehemaliger Schönheit auf dem sonnverbrannten Gesicht, der Bub plump und kurzhalsig, ein ungeleckter Bär, wie man ihn malt oder besser nicht malt. Das Mädchen nannte sich Milada und war ein feingliedriges, zierliches Geschöpf, aus dessen hellblauen Augen mehr Leben und Klugheit blitzte als aus den dunkeln Barbaras und Pavels zusammen. Die Kleine führte eine Art Kontrolle über die beiden und machte sich ihnen zugleich durch allerlei Handreichungen nützlich. Ohne das Kind würde auf der Ziegelstätte nie ein Wort gewechselt worden sein. Mutter und Sohn plagten sich vom grauenden Tag bis in die sinkende Nacht rastlos, finster und stumm. Lang ging es so fort, und zum Ärgernis der Frommen im Dorfe wurde nicht einmal an Sonn- und Feiertagen gerastet. Der Unfug kam dem Pfarrer zu Ohren und bewog ihn, Einsprache dagegen zu tun. Sie blieb unbeachtet. Infolgedessen begab sich der geistliche Herr am Nachmittag des Festes Mariä Himmelfahrt selbst an Ort und Stelle und befahl dem Weibe Holub, sofort von seiner den Feiertag entweihenden Beschäftigung abzulassen. Nun wollte das Unglück, dass Martin, der eben im Schuppen seinen jüngsten Rausch ausschlief, sehr zur Unzeit erwachte, sich erhob und hinzutrat. Gewahr werden, wie Pavel offenbar voll Zustimmung mit aufgesperrtem Mund und hangenden Armen der priesterlichen Vermahnung lauschte, und hinterrücks über ihn herfallen, war eins. Der Geistliche zögerte nicht, dem Knaben zu Hilfe zu eilen, entzog ihn auch der Misshandlung des Vaters, lenkte, aber dadurch dessen Zorn auf sich. Vor allen Zeugen, die das Geschrei Holubs herbeigelockt hatte, und deren Anzahl von Minute zu Minute wuchs, überschüttete ihn der Rasende mit Schimpfreden, sprang plötzlich auf ihn zu und hielt ihm die geballte Faust vors Gesicht. Der Pfarrer, keinen Augenblick ausser Fassung gebracht, wandte angeekelt den Kopf und gab mit seinem abwehrend in der Rechten erhobenen Stock dem Trunkenbold einen leichten Hieb auf den Scheitel. Martin stiess ein Geheul aus, warf sich nieder, krümmte sich wie ein Wurm und brüllte, er sei tot, mausetot geschlagen durch den geistlichen Herrn. Im Anfang antwortete ihm ein allgemeines Hohngelächter, doch war seine Sache zu schlecht, um nicht wenigstens einige Verteidiger zu finden.
In der Schar der Neugierigen, die den am Boden Liegenden umdrängte, erhoben sich Stimmen zu seinen Gunsten, erfuhren Widerspruch und gaben ihn in einer Weise zurück, die gar bald Tätlichkeiten wachrief. Die Autorität des Pfarrers genügte gerade noch, um die Krakehler zu zwingen, den Platz zu räumen. Sie zogen ins Wirtshaus und liessen dort den vom geistlichen Herrn Erschlagenen so lange hochleben, bis ein Trupp Bauernbursche dem wüsten Treiben des Gesindels ein Ende zu machen suchte. Da kam es zu einer Prügelei, wie sie in Kunovic seit der letzten grossen Hochzeit nicht mehr stattgefunden hatte. Die Ortspolizei gönnte dem Sturm volle Freiheit sich auszutoben, und hatte zum Lohn für diese mit Vorsicht gemischte Klugheit am nächsten Morgen das ganze Dorf auf ihrer Seite. Die allgemeine Meinung war, in der Sache gebe es nur einen Schuldigen — den Ziegelschläger, und man solle keine Umstände mit ihm machen. Zur Lösung des Akkords verstand die Gutsverwaltung sich gern, Martin hätte ihn ohnedies unter keiner Bedingung einhalten können; so fleissig Weib und sind auch waren, zu hexen vermochten sie doch nicht. Holub wurde abgefertigt und entlassen. Von dem Gelde, das ihm ausser den bereits erhobenen Vorschüssen noch zukam, sah er keinen Kreuzer; darauf hatte der Wirt Beschlag gelegt.
Nach einem vergeblichen Versuch, sich sein vermeintliches Recht zu verschaffen, blieb dem Gesellen nichts übrig, als seiner Wege zu gehen. Der Auszug der Ziegelschläger fand statt. An der Spitze schritt das Oberhaupt der Familie in knapp anliegender ausgefranster Leinwandhose, in zerrissener blauer Barchentjacke. Er hatte den durchlöcherten Hut schief aufgesetzt; sein rotes, betrunkenes Gesicht war gedunsen; seine Lippen stiessen Flüche hervor gegen den Pfaffen und die Pfaffenknechte, die ihn um seinen redlichen Broterwerb gebracht.
Ein paar Schritte hinter ihm kam die Frau. Sie hatte die Stirn verbunden und schien sich selbst kaum schleppen zu können, schleppte aber doch ein Wägelchen, in dem sich Werkzeug und einiger Hausrat befand, und Milada in eine Decke eingehüllt lag. Frank? Zerbläut? Man konnte das letztere wohl vermuten, denn vor der Abreise hatte Martin noch entsetzlich gegen die Seinen gewütet. Pavel schloss den Zug. Mit beiden Armen gegen die Rückseite des Wagens gestemmt, schob er ihn kräftig vorwärts und half auch mit dem tief gesenkten Kopfe nach, so oft Leute des Weges kamen, die den Auswandernden entweder mit einem Blick des Mitleids folgten, oder einen Trumpf auf Holubs wilde Schimpfreden setzten.
Einige Tage später, an einem stürmischen grauen Septembermorgen, fand der Kirchendiener, als er, sich ins Pfarrhaus begebend, um dort die Kirchenschlüssel zu holen, an der Sakristei vorüberkam, die Tür nur angelehnt. Ganz erstaunt und erst nicht wissend, was er davon denken sollte, trat er ein, sah die Schränke offen, die Messgewänder auf den Boden zerstreut und der goldenen Borten beraubt. Er griff sich an den Kopf, schritt weiter in die Kirche, fand dort das Tabernakel erbrochen und leer.
Ein Zittern befiel ihn. „Diebe!“ stiess er hervor, „Diebe!“ und er meinte, es fasse ihn einer am Genick und wusste nicht, wie er aus der Kirche und über den Weg zur Pfarrei gekommen . . . .
Der Pfarrer pflegte seine Tür nicht zu versperren. „Was sollen die Leute bei mir suchen?“ meinte er; so brauchte der Sakristan nur aufzuklinken. Er tat es . . Schreck und Grauen! Im Flur lag die greise Magd des Pfarrers ausgestreckt, besinnungslos, voll Blut. Wie der scharfe Luftzug durch die offene Tür über sie hinbläst, regt sie sich, starrt den Kirchendiener an und deutet mit einer schwachen, aber furchtbar ausdrucksvollen Gebärde nach der Stube des geistlichen Herrn.
Der Sakristan, der dem Wahnsinn nahe ist, macht noch ein paar Schritte, schaut, stöhnt — und fällt auf die Kniee aus Entsetzen über das, was er sieht. — —
Eine Viertelstunde später weiss das ganze Dorf: der geistliche Herr ist heute Nacht überfallen und, offenbar im Kampf um die Kirchenschlüssel, ermordet worden, im schweren Kampf, das sieht man, darauf deutet alles hin.
Über den Urheber der grässlichen Tat ist niemand in Zweifel. Auch wenn die Aussagen der Magd nicht wären, wüsste jeder: der Martin Holub hat’s getan. In Soleschau wird zuerst auf ihn gefahndet. Er war vor kurzem da, hat seine Kinder beim Gemeindehirten in Kost gegeben und ist mit seinem Weibe wieder abgezogen.
Nach kaum einer Woche wurde das Paar in einer Diebesherberge an der Grenze entdeckt, in demselben Moment, in dem Holub einen Teil der in Stücke gebrochenen Monstranz aus der Kirche von Kunovic an einen Hausierer verhandeln wollte. Der Strolch konnte erst nach heftigem Widerstand festgenommen werden. Die Frau hatte sich mit stumpfer Gleichgültigkeit in ihr Schicksal gefügt. Bald darauf traten beide in B. vor ihre Richter.
Die Amtshandlung, durch keinen Zwischenfall gestört, ging rasch vorwärts. Von Anfang an behauptete Martin Holub, nicht er, sondern sein Weib habe das Verbrechen ausgeheckt und ausgeführt, und so oft die Unwahrscheinlichkeit dieser Behauptung ihm dargetan wurde, so oft wiederholte er sie. Dabei verrannte er sich in sein eigenes grob gesponnenes Lügennetz und gab das widrige, hundertmal dagewesene Schauspiel des ruchlosen Wichtes, der zum Selbstankläger wird, indem er sich zu verteidigen sucht.
Merkwürdig hingegen war das Verhalten der Frau.
Die Gleichförmigkeit ihrer Aussagen erinnerte an das bekannte: Non mi ricordo; sie lauteten unveränderlich:
„Wie der Mann sagt. Was der Mann sagt.“
In seiner Anwesenheit stand sie regungslos, kaum atmend, den Angstschweiss auf der Stirn, die Augen mit todesbanger Frage auf ihn gerichtet. War er nicht im Saale, konnte sie ihn nicht sehen, so vermutete sie ihn doch in der Nähe; ihr scheuer Blick irrte suchend umher und heftete sich plötzlich mit grauenhafter Starrheit ins Leere. Das Aufklinken einer Tür, das leiseste Geräusch machte sie zittern und beben, und erschaudernd wiederholte sie ihr Sprüchlein:
„Wie der Mann sagt. Was der Mann sagt.“
Vergeblich wurde ihr zugerufen: „Du unterschreibst dein Todesurteil!“ — es machte keinen Eindruck auf sie, schreckte sie nicht. Sie fürchtete nicht die Richter, nicht den Tod, sie fürchtete „den Mann“.
Und auf diese an Wahnsinn grenzende Angst vor ihrem Herrn und Peiniger berief sich ihr Anwalt und forderte in einer glänzenden Verteidigungsrede, in Anbetracht der zu Tage liegenden Unzurechnungsfähigkeit seiner Klientin, deren Lossprechung. Die Lossprechung nun konnte ihr nicht erteilt werden, aber verhältnismässig mild war die Busse, die der Mitschuldigen an einem schweren Verbrechen auferlegt wurde. Das Verdikt lautete: „Tod durch den Strang für den Mann, zehnjähriger schwerer Kerker für die Frau.“
Barbara Holub trat ihre Strafe sogleich an. An Martin Holub wurde nach der gesetzlich bestimmten Frist das Urteil vollzogen.
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