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IV.

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Pavel verlor kein Wort über sein Unglück. Als Vinska ihn schelmisch lachend fragte, wo seine Stiefel wären, führte er einen so derben Schlag nach ihr, dass sie schreiend davonlief. Auch die Erkundigungen seiner Schulkameraden fertigte er mit Püffen ab; die ärgsten erhielt Arnost, der ihn dafür beim Lehrer verklagte. Damit aber war nichts getan, denn es gehörte zu den Eigentümlichkeiten des letzteren, dass er gleich stocktaub wurde, wenn einer seiner Zöglinge sich über der andern beschwerte. Eine Woche verfloss, Pavel erschien nicht mehr in der Schule; er ging aus freien Stücken in die Fabrik und arbeitete dort von früh bis abends. Mehrmals schickte der Lehrer nach ihm, und da es vergeblich blieb, begab er sich endlich in eigener Person nach der Wohnung Virgils, um den Buben abzuholen. Das Weib des Hirten empfing ihn und verblüffte ihn, bevor er noch den Mund öffnen konnte, durch die lauten Ausbrüche ihres Jammers. Nach fünf Minuten war dem Lehrer, als ob er unter einer Traufe stände, aus der statt Regentropfen Schrotkörner auf ihn niederhagelten. Ihm wurde ganz wirr in seinem müden und schmerzenden Kopf.

Die Frau rief Gott und alle Heiligen zum Zeugen ihrer Leiden an. Nein, sie hatte nicht geahnt, was sie sich aufhalste, als sie darein gewilligt, das Kind des Gehenkten und der Zuchthäuslerin bei sich aufzunehmen. Viel war ihr im Leben schon begegnet, aber etwas so Schlechtes wie der Bub noch nie. Jedes Wort, aus seinem Munde ist Trug und Verleumdung. Erzählt er nicht, dass seine Pflegeeltern ihn abhalten in die Schule zu gehen, und dass sie den Wochenlohn einstecken, den er in der Fabrik verdient?

Von Entrüstung hingerissen, setzte sie hinzu, die bösen Augen weit geöffnet und bedeutungsvoll auf den Alten gerichtet:

„Redet er nicht noch ganz andren als uns armen Leuten, mit Respekt zu melden, grausige Dinge nach?“

Der Lehrer hatte sein Taschentuch gezogen und drückte es an den kahlen Scheitel. Er kannte die Gerüchte, die über ihn im Schwange waren, und es bildete den Zwiespalt in ihm, dass sie ihn manchmal verdrossen, und dass er sich ein anderes Mal einen Spass daraus machte, sie zu nähren. Heute war das erstere der Fall, er winkte abwehrend:

„Still, still! Halte Sie Ihr Maul.“

„O Jesus Maria, ich!“ rief das Weib, „ich red nicht! ich möcht mir lieber die Zunge abbeissen . . . Keinen Pfifferling sollten sich der Herr Lehrer mehr kümmern um den schlechten Buben, sag ich nur . . . Die schönen Stiefel! nicht zwei Tage hat er sie gehabt.“

„So, wo sind sie?“

Die Virgilova (wie sie im Ort genannt wurde) ergoss sich in einen neuen Redeschwall: Wo die Stiefel geblieben seien, müsse der Herr Lehrer den Juden fragen, dem der Bub sie vermauschelt habe. Der Jud’ werde freilich nichts davon wissen wollen, zeterte sie, und Habrecht völlig betäubt, hielt sich die Ohren zu und trat den Rückzug an. Nach einigen Schritten jedoch blieb er stehen, wandte sich und befahl der Frau, Pavel morgen ganz gewiss in die Schule zu schicken. Sie versprach, den Auftrag zu bestellen, und tat es, indem sie Pavel am Abend mitteilte, der Herr Lehrer sei dagewesen und liesse ihm sagen, nicht mehr unter die Augen sollte er ihm kommen.

Die Ermahnung war überflüssig, Pavel wich ohnehin dem Schulmeister auf hundert Schritte aus. Der Vinska hingegen lief er nach und gehorchte ihr wie ein knurriger Hund, der unzufrieden mit seinem Herrn, immer zum Aufruhr bereit ist und sich doch immer wieder unterwirft. Was sie wollte, geschah; er besorgte ihr Botengänge, er stahl für sie Holz aus dem Walde, Eier aus den Scheunen der Bauern; sie verstand, sich ihn völlig zu unterwerfen.

Indessen, was ihn auch beschäftigte, wohin er auch wanderte — Eines vergass er nicht, einen Umweg scheute er nie und niemals; Tag für Tag kam er ans Tor des Schlossgartens und spähte in den Hof hinein und starrte die Fenster des Hauses an. Anfangs mit sehnsüchtiger Hoffnung im Herzen, später, als ihm diese allmählich erloschen war, aus alter Gewohnheit.

Eines schönen Mat-Nachmittags fand er, als er an seinen Beobachtungsposten trat, zu seiner höchsten Überraschung das Gartentor offen. Unter den Säulen der Einfahrt stand die Equipage der Frau Baronin, eine geschlossene Kalesche mit dicken Fliegenschimmeln bespannt. Die Dienerschaft drängte sich grüssend und knixend um den Wagen, auf dem ein Koffer aufgebunden war. Nun flog der Schlag Krachend zu, der Lakai sprang zum Kutscher auf den Bock, der schwere Kasten schwankte auf den Schneckenfedern, das Gefährt setzte sich in Bewegung. In kurzem Trabe umkreiste es den Hof, bog ganz langsam um die Ecke am Torpfeiler und rollte der Strasse zu. Pavel hatte einen Blick in das Innere des Wagens geworfen und war zurückgefahren wie geblendet. Er presste das Gesicht an die Mauer, er schloss die Augen und sah dennoch wieder — sah mit den geschlossenen klar und deutlich, was er eben mit seinen offenen Augen gesehen: — die Frau Baronin war nicht allein in ihrem wunderbaren Wagen; neben ihr sass ein kleines Fräulein, in schönen Kleidern, mit einem Hütchen auf dem Kopfe, und hatte wohlbekannte, hatte die Züge Miladas, aber so runde und rosige Wangen, wie seine Schwester nie gehabt.

Plötzlich richtete der Bursche sich empor und sprang in tollen Sätzen den Wagen nach. Der hatte abermals eine Wendung gemacht und glitt mit eingelegtem Radschuh im Schritt der dicken Schimmel den Abhang des Schlossbergs hinab. Pavel lief quer über das grüne Feld, lief der Kalesche voraus und erwartete sie, am Wegrain aufgestellt, pochenden Herzens. Sie kam quietschend und rasselnd heran, und der Junge streckte sich, guckte und erblickte abermals die liebliche Erscheinung von vorhin. Und jetzt war auch er gesehen worden, ein Freudenjauchzen drang an sein Ohr, die Stimme Miladas rief: „Pavel, Pavel!“ . . . Mit solchem Ungestüm warf das kleine Mädchen sich ans Fenster, dass die Scheibe klirrte und in Stücke brach. Sogleich hielt die Karrosse, und der Bediente schickte sich an, vom Bock zu steigen. Hastig befahl die Baronin: „Sitzen bleiben! vorwärts, jagt den Buben fort!“ Die Peitsche knallte um Pavels Kopf, und drinnen im Wagen erscholl lautes Jammergeschrei . . . Dazwischen liess ernster, liebevoller Zuspruch sich vernehmen. — Pavel sah, dass die alte Dame das Kind an sich gezogen hatte, und dass es in ihren Armen weinte. Dieses Weinen ging ihm durch Mark und Bein, dieses Weinen musste aufhören, dem musste er ein Ende machen.

Da stiess er auf einmal einen Jauchzer aus, wie er dem Übermütigsten nicht besser gelungen wäre, und begann in gehöriger Entfernung von der Kutscherpeitsche bärenplump und emsig Räder und Purzelbäume zu schlagen. Wenn der Atem ihm auszugehen drohte, stand er still, lachte zu der Kleinen hinüber, machte Zeichen und schnitt Gesichter, bis sie endlich in ein fröhliches Gelächter ausbrach. Ach, wie hüpfte ihm das Herz im Leibe, als er einmal wieder ihr liebes Lachen vernahm!

Die Entfernung zwischen ihm und dem Wagen wuchs und wuchs.

Pavel lief und sprang nicht mehr; er schritt nur noch, und als er am grossen Berge angelangt war, erklommen die Schimmel eben dessen steilen Gipfel. Mühsam keuchte er die Höhe hinan, und oben brach er zusammen, mit hämmernden Schläfen, einen rötlichen Schein vor den glühenden Augen. Zu seinen Füssen breitete die sonnenbeglänzte Ebene sich aus, und dort in der Ferne lag die Stadt; einzelne ihrer Häuser schimmerten schneeweiss herüber, die vergoldeten Spitzen der Kirchtürme glitzerten wie Sterne am blauen Tageshimmel. In der Richtung gegen die Stadt schlängelte sich die Strasse durch die grünen Fluren, und auf der Strasse glitt ein schwarzer Punkt dahin, und diesen Punkt verfolgte Pavel so inbrünstig mit den Blicken, als ob das Heil seiner Seele davon abhinge, dass er ihm nicht entschwinde. Als es geschah, als die Schatten der Auen den kleinen Punkt aufnahmen und ihn nicht mehr zum Vorschein kommen liessen, streckte sich Pavel flach auf die Erde und blieb so regungslos liegen, wie ein Toter . . . Seine Schwester war ein Fräulein geworden und war fortgefahren in die Stadt. Wenn er jetzt ans Gartentor kam, mochte er nur vorübergehen; mit der Freude, nach der Kleinen auszulugen, war es nun nichts mehr. Herb und trostlos fiel der Gedanke an den Verlust seines einzigen Glückes dem Jungen auf die Seele. Gern hätte er geweint, aber er konnte nicht; er wäre auch gern gestorben, gleich hier auf dem Fleck. Er hatte oft seine Existenz verwünschen gehört, von seinem eigenen Vater wie von fremden Menschen, und nie, ohne innerste Entrüstung dabei zu empfinden; jetzt sehnte er sich selbst nach dem Tod: und wenn es einmal so weit gekommen ist mit einem Menschen, kann auch das Ende nicht mehr ferne sein, meinte er. Und steht es einem nicht frei, es zu beschleunigen? Es gibt allerlei Mittel. Man hält zum Beispiel den Atem an, das ist keine Kunst; es handelt sich nur darum, dass es lange genug geschieht. Pavel unternimmt den Versuch mit verzweifelter Entschlossenheit, und wie er dabei den Kopf in die Erde wühlt, regt sich etwas in seiner Nähe, und er vernimmt ein leises Geräusch, wie es durch das Aufspreizen kleiner Flügel hervorgebracht wird. Er schaut . . .

Wenige Schritte von ihm sitzt ein Rebhuhn auf dem Neste und hält die Augen in unaussprechlicher Angst auf einen Feind gerichtet, der sich schräg durch die jungen Halme anschleicht. Unhörbar, bedrohlich, grau — eine Katze ist’s. Pavel sieht sie jetzt ganz nah dem Neste stehen; sie leckt den lippenlosen Mund, Krümmt sich wie ein Bogen und schickt sich an zum Sprung auf ihre Beute. Ein Flügelschlag, und der Vogel wäre der Gefahr entrückt; aber er rührt sich nicht. Pavel hatte über der Besorgnis um das Dasein des kleinen Wesens alle seine Selbstmordgedanken vergessen: — So flieg’, du dummes Tier! dachte er. Aber statt zu entfliehen, duckte sich das Rebhuhn, suchte sein Nest noch fester zu umschliessen, und verfolgte mit den dunklen Äuglein jede Bewegung der Angreiferin. Pavel hatte eine Scholle vom Boden gelöst, sprang plötzlich auf und schleuderte sie so wuchtig der Katze an den Kopf, dass sie sich um ihre eigene Achse drehte und geblendet und niesend davonsprang.

Der Bursche sah ihr nach; ihm war weh und wohl zu Mute. Er hatte einen grossen Schmerz erfahren und eine gute Tat getan. Unmittelbar nachdem er sich elend, verlassen und reif zum Sterben gefühlt, dämmerte etwas wie das Bewusstsein einer Macht in ihm auf . . . einer andern, einer höheren als der, die seine starken Arme und sein finsterer Trotz ihm oft verliehen. Was war das für eine Macht? Unklar tartchte diese Frage aus der lichtlosen Welt seiner Vorstellungen, und er verfiel in ein ihm bisher fremdes, mühevolles und doch süsses Nachsinnen.

Ein lauter Ruf: „Pavel, Pavel, komm’ her Pavel!“ weckte ihn.

Auf der Strasse stand der Herr Lehrer, den einer seiner beliebten Nachmittags-Spaziergänge bis hierher geführt hatte, und der seit einiger Zeit den Jungen beobachtete. Er trug einen Knotenstock in der Hand und versteckte ihn rasch hinter seinem Rücken, als Pavel sich näherte.

„Du Unglücksbub, was treibst du?“ fragte er. „Ich glaube, du nimmst Rebhühnernester aus?“

Pavel schwieg, wie er einem falschen Verdacht gegenüber immer pflegte, und der Schulmeister drohte ihm:

„Ärgere mich nicht, antworte . . . Antworte, rať ich dir!“

Und als der Bursche in seiner Stummheit verharrte, hob der Lehrer plötzlich den Stock und führte einen Schlag nach Pavel, dem dieser nicht auswich, und den er ohne Zucken hinnahm.

Im Herzen Habrechts regten sich sofort Mitleid und Reue.

„Pavel,“ sagte er sanft und traurig, „um Gotteswillen, ich hör’ nur Schlimmes von dir — du bist auf einem schlechten Weg; was soll aus dir werden?“

Diese Anrufung rührte den Buben nicht, im Gegenteil: eine tüchtige Dosis Geringschätzung mischte sich seinem Hasse gegen den alten Hexenmeister bei, der ihn betrogen hatte.

„Was soll aus dir werden?“ wiederholte der Lehrer.

Pavel streckte sich, stemmte die Hände in die Seiten und sagte:

„Ein Dieb.“

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Das Gemeindekind

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