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II.

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An den Vorstand der Gemeinde Soleschau trat nun die Frage heran: Was geschieht mit den Kindern der Verurteilten? Verwandte, die verpflichtet werden könnten, für sie zu sorgen, haben sie nicht, und aus Liebhaberei wird sich niemand dazu verstehen.

In seiner Ratlosigkeit verfügte sich der Bürgermeister mit Pavel und Milada nach dem Schlosse und liess die Gutsfrau bitten, ihm eine Audienz zu gewähren.

Sobald die alte Dame erfuhr, um was es sich handelte, kam sie in den Hof geeilt, so rasch ihre Beine, von denen eines merklich kürzer als das andere war, es ihr erlaubten. Das scharf geschnittene Gesicht vorgestreckt, die Brille auf der Adlernase, die Ellbogen weit zurückgeschoben, humpelte sie auf die Gruppe zu, die ihrer am Tor wartete. Der Bürgermeister, ein stattlicher Mann in den besten Jahren, zog den Hut und machte einen umfänglichen Kratzfuss.

„Was will Er?“ sprach die Schlossfrau, indem sie ihn mit trüben Augen anblinzelte. „Ich weiss, was Er will; aber da wird nichts daraus! um die Kinder der Strolche, die unsern braven Pfarrer erschlagen haben, kümmr’ ich mich nicht . . . Da ist ja der Bub. Wie er ausschaut! Ich kenn ihn; er hat mir Kirschen gestohlen. Hat Er nicht?“ wendete sie sich an Pavel, der braunrot wurde und vor Unbehagen zu schielen begann.

„Warum antwortet Er nicht? warum nimmt Er die Mütze nicht ab?“

„Weil er keine hat“, entschuldigte der Bürgermeister.

„So? was sitzt ihm denn da auf dem Kopf?“

„Struppiges Haar, freiherrliche Gnaden.“

Ein helles Lachen erscholl, verstummte aber sofort, als die Greisin den dürren Zeigefinger drohend gegen die erhob, die es ausgestossen hatte.

„Und da ist das Mädel. Komm her.“

Milada näherte sich vertrauensvoll, und der Blick, den die Gutsfrau auf dem freundlichen Gesicht des Kindes ruhen liess, verlor immer mehr von seiner Strenge. Er glitt über die kleine Gestalt und über die Lumpen, von denen sie umhangen war, und heftete sich auf die schlanken Füsschen, die der Staub grau gefärbt hatte.

Einer der plötzlichen Stimmungswechsel, denen die alte Dame unterworfen war, trat ein.

„Allenfalls das Mädel,“ begann sie von neuem, „will ich der Gemeinde abnehmen. Obwohl ich wirklich nicht weiss, wie ich dazu komme, etwas zu tun für die Gemeinde. Aber das weiss ich, das Kind geht zu Grunde bei euch, und wie kommt das Kind dazu, bei euch zu Grunde zu gehen?“

Der Bürgermeister wollte sich eine bescheidene Erwiderung erlauben.

„Red Er lieber nicht,“ fiel die Gutsfrau ihm ins Wort, „ich weiss alles. Die Kinder, für welche die Gemeinde das Schulgeld bezahlen soll, können mit zwölf Jahren das A vom Z nicht unterscheiden.“ —

Sie schüttelte unwillig den Kopf, sah wieder auf Miladas Füsse nieder und setzte hinzu: „Und die Kinder, für welche die Gemeinde das Schuhwerk zu bestreiten hat, laufen alle barfuss. Ich kenn euch,“ wies sie die abermalige Einsprache zurück, die der Bürgermeister erheben wollte, „ich hab es lang aufgegeben, an euren Einrichtungen etwas ändern zu wollen. Nehmt den Buben nur mit und sorgt für ihn nach eurer Weise; der verdient’s wohl, ein Gemeindekind zu sein. Das Mädel kann gleich da bleiben.“

Der Bürgermeister gehorchte ihrem entlassenden Wink, hocherfreut, die Hälfte der neuen, seinem Dorfe zugefallenen Last losgeworden zu sein. Pavel folgte ihm bis ans Ende des Hofes. Dort blieb er stehen und sah sich nach der Schwester um. Es war schon eine Dienerin herbeigeeilt, der die gnädige Frau Anordnungen in bezug auf Milada erteilte.

„Baden,“ hiess es, „die Lumpen verbrennen, Kleider aussuchen aus dem Vorrat für Weihnachten.“

„Bekommt sie auch etwas zu essen?“ fuhr es Pavel durch den Sinn. Sie ist gewiss hungrig. Seitdem er dachte, war es seine wichtigste Obliegenheit gewesen, das Kind vor Hunger zu schützen. Kleider haben ist schon gut, baden auch nicht übel, besonders in grosser Gesellschaft in der Pferdeschwemme. — Wie oft hatte Pavel die Kleine hingetragen und sie im Wasser plätschern lassen mit Händen und Füssen! — Aber die Hauptsache bleibt doch — nicht hungern.

„Sag, dass du hungrig bist!“ rief der Junge seiner Schwester ermahnend zu.

„Jetzt ist der Kerl noch da! wirst dich trollen?“ hallte es vom Schlosse herüber.

Der Bürgermeister, der schon um die Ecke des Gartenzauns biegen wollte, kehrte um, fasste Pavel am Kragen und zog ihn mit sich fort.

Drei Tage dauerten die Beratungen der Gemeindevorstände über Pavels Schicksal. Endlich kam ihnen ein guter Gedanke, den sie sich beeilten auszuführen. Eine Deputation begab sich ins Schloss und stellte an die Frau Baronin das untertänigste Ansuchen: weil sie schon so dobrotiva (allergütigst) gewesen, sich der Tochter des unglücklichen Holub anzunehmen, möge sie sich nun auch seines Sohnes annehmen.

Der Bescheid, den die Väter des Dorfes erhielten, lautete hoffnungslos verneinend, und die Beratungen wurden wieder aufgenommen.

Was tun?

„Das in solchen Fällen Gewöhnliche,“ meinte der Bürgermeister; „der Bub geht von Haus zu Haus und findet jeden Tag bei einem andern Bauern Verköstigung und Unterstand.“

Alle Bauern lehnten ab. Keiner wünschte, den Sprössling der Raubmörder zum Hausgenossen der eigenen Sprösslinge zu machen, wenn auch nur einen Tag lang in vier oder fünf Wochen.

Zuletzt wurde man darüber einig: Der Junge bleibt, wo er ist — wo ja sein eigener Vater ihn hingegeben hat: bei dem Spitzbuben, dem Gemeindehirten.

Freilich, wenn die Gemeinde sich den Luxus eines Gewissens gestatten dürfte, würde es gegen dieses Auskunftsmittel protestieren. Der Hirt (er führte den klassischen Namen Virgil) und sein Weib gehörten samt den Häuslern, bei denen sie wohnten, zu den Verrufensten des Ortes. Er war ein Trunkenbold, sie, katzenfalsch und bösartig, hatte wiederholt wegen Kurpfuscherei vor Gericht gestanden, ohne sich dadurch in der Ausübung ihres dunkeln Gewerbes beirren zu lassen.

Ein anderes Kind diesen Leuten zu überliefern, wäre auch niemanden eingefallen; aber der Pavel, der sieht bei ihnen nichts Schlechtes, das er nicht schon zu Hause hundertmal gesehen hat.

So biss man denn in den sauren Apfel und bewilligte jährlich vier Metzen Korn zur Erhaltung Pavels. Der Hirt erhielt das Recht, ihn beim Austreiben und Hüten des Viehes zu verwenden, und versprach, darauf zu sehen, dass der Junge am Sonntag in die Kirche und im Winter so oft als möglich in die Schule komme.

Virgil bewohnte mit den Seinen ein Stübchen in der vorletzten Schaluppe am Ende des Dorfes. Es war eine Klafter lang und ebenso breit und hatte ein Fenster mit vier Scheiben, jede so gross wie ein halber Ziegelstein. Aufgemacht wurde es nie, weil der morsche Rahmen dabei in Stücke gegangen wäre. Unter dem Fenster stand eine Bank, auf der der Hirt schlief; der Bank gegenüber eine mit Stroh gefüllte Bettlade, in der Frau und Tochter schliefen. Den Zugang zur Stube bildete ein schmaler Flur, in dessen Tiefe sich der Herd befand. Er hätte zugleich als Ofen dienen sollen, erfüllte aber nur selten eine von beiden Bestimmungen, weil die Gelegenheiten, Holz zu stehlen, sich immer mehr verminderten. So diente er denn als Aufbewahrungsort für die mageren Vorräte an Getreide und Brot, für Virgils nie gereinigte Stiefel, seine Peitsche, seinen Knüttel, für ein schmutzfarbiges Durcheinander von alten Flaschen, henkellosen Körben, Töpfen und Scherben, würdig des Pinsels eines Realisten.

Zwischen dem Gerümpel hatte Pavel eine Lagerstätte für Milada zurechtgemacht, auf der sie ruhte, zusammengerollt wie ein Kätzlein. Er streckte sich auf dem Boden, dicht neben dem Herde aus, und wenn die Kleine im Laufe der Nacht erwachte, griff sie gleich mit den Händen nach ihm, zupfte ihn an den Haaren und fragte: „Bist da, Pavlicek?“

Er brummte sie an: „Bin da, schlaf du nur“, biss sie wohl auch zum Spass in die Finger, und sie stiess zum Spass einen Schrei aus, und Virgil wetterte aus der Stube herüber: „Still, ihr Raubgesindel, ihr Galgenvögel!“

Bebend schwieg Milada, und Pavel erhob sich unhörbar auf seine Knie, streichelte das Kind und flüsterte ihm leise zu, bis es einschlief.

Als er zum erstenmal ohne die Schwester zur Ruhe gegangen war, hatte er gedacht: „Heut wird’s gut, heut weckt er mich wenigstens nicht auf, der Balg.“ Am frühesten Morgen aber befand er sich schon auf der Dorfstrasse und lief graden Weges zum Schlosse. Das stand mitten im Garten, der von einem Drahtgitter umgeben war; ein dichtes, immergrünes Fichtengebüsch verwehrte ringsum den Einblick in dieses Heiligtum. Pavel pflanzte sich am Tore auf, das dem des Hauses gegenüberlag, presste das Gesicht an die eisernen Stäbe und wartete. Sehr lange blieb alles still; plötzlich jedoch meinte Pavel, das Zuschlagen von Fenstern und Türen und verworrenes Geschrei zu hören, meinte auch die Stimme Miladas erkannt zu haben. Zugleich erbrauste ein heftiger Windstoss, schüttelte die toten Zweige von den Bäumen und trieb die dürren Blätter im rauschenden Tanze durch die Luft. Zwei Mägde kamen aus dem Dienertrakte zum Hause gelaufen; eine von ihnen wäre beinahe über den alten Pfau gestolpert, der im Hofe auf- und abstelzte. Er sprang mit einem so komischen Satz zur Seite, dass Pavel laut auflachen musste. Im Schlosse und in seiner Umgebung wurde es nun lebendig, es kamen auch Leute zum Gartentor; wer aber durch dieses ein- und ausging, sperrte es sorgsam hinter sich ab. Eine Vorsichtsmassregel, die ihrer Neuheit wegen manchem Vorübergehenden auffiel. — Das Gartentor absperren bei helllichtem Tage; was soll denn das heissen? Wird sich schwerlich lange halten, die unbequeme Einführung.

Aber sie hielt sich doch zum allgemeinen und missbilligen Erstaunen der Dorfbewohner, und nach und nach erfuhr man auch ihren Grund.

Dem Pavel wurde er durch Vinska, des hässlichen Hirten hübsche Tochter in folgender Weise mitgeteilt:

„Du Lump du, deine Schwester ist just so ein Lump wie du! Die Patruschka aus der herrschaftlichen Küche sagt, dass die gnädige Frau es mit deiner Schwester treibt, wie mit einem eigenen Kind, und deine Schwester will immer auf und davon. Darum wird das Schloss jetzt abgesperrt wie eine Geldtruhe. Wenn ich die gnädige Frau wäre, ich möcht solche Geschichten nicht machen; was ich tät, weiss ich . . . Deinen Vater hat man am Hals aufgehängt, deine Schwester würde ich an den Händen und Füssen binden und an die Wand hängen.“

Dieses Bild schwebte dem Pavel den ganzen Tag vor Augen, und nachts verschwamm es ihm mit einem andern, dessen er sich aus der Kindheit besann.

Da hatte er gesehen, wie der Heger ein gefangenes blutjunges Reh aus dem Walde getragen hatte. Die Läufe waren ihm mit einem Strick zusammengeschnürt, und an denen hing es am Stock über des Hegers Rücken. Pavel erinnerte sich, wie es den schlanken Hals gebogen, die Ohren gespitzt und das Haupt empor zu heben gesucht; er erinnerte sich der Verzweiflung, die dem seinen Geschöpf aus den Augen geschaut hatte.

Im Traume kamen ihm diese Augen nun vor — aber wie Miladas Augen.

Einmal rief er laut: „Bist da?“ richtete sich im Halbschlafe auf, wiederholte: „Bist da?“ tastete suchend umher und erwachte darüber völlig. Mit der Schnelligkeit des Blitzes, mit der Gewalt des Sturmes kam das verwaisende Gefühl der Trennung über ihn und warf ihn nieder. Der harte Junge brach in Tränen, in ein leidenschaftliches Schluchzen aus, weckte die Leute in der Stube, weckte die Häusler, seine Wandnachbarn mit seinem Geheul. Die ganze Gesellschaft kam herbei, bedrohte ihn, und da er taub blieb für jede, auch die nachdrücklichste Ermahnung, wurde er mit vereinten Kräften zur Tür hinausgeschleudert.

Das war eine tüchtige Abkühlung, selbst für den heissesten Schmerz. Pavel blieb eine Weile ganz ruhig und still auf der festgefrornen Erde liegen. Die ihm neue und grässliche Empfindung einer ungeheuren Sehnsucht verminderte sich allmählich, und eine alte, wohlbekannte trat an ihre Stelle: Trotz, kalter, wühlender Groll.

„Wartet,“ dachte er, „wartet, ich werde euch!“ . .

Der Entschluss, ein Ende zu machen, war gleich da; der Plan zu dessen Ausführung reifte langsam in Pavels schwerfälligem Kopf. Nachdem aber die grosse Anstrengung, ihn auszudenken, überstanden war, erschien dem Burschen alles übrige nur noch wie Spielerei. Er wollte ins Schloss eindringen, die Schwester entführen, mit ihr über die Berge in die Fremde gehen, sich als Arbeiter verdingen und nie wieder den Vorwurf hören, dass er der Sohn seiner Eltern sei.

Mit dem Bewusstsein eines Siegers erhob Pavel sich vom Boden und ging in weitem Bogen hinter den Häusern des Dorfes dem Schlossgarten zu. Die Pfeife des Nachtwächters warnte freundlich vor den Wegen, die zu vermeiden waren. Auf den Feldern lag harter, hoher Schnee, die Erde schimmerte lichter als der Himmel, an dem die bleiche Mondsichel immer wieder hinter treibendem Gewölk verschwand. Pavel gelangte ans Gartengitter, überkletterte es und liess sich von oben in die Fichten und dann von Zweig zu Zweig zu Boden fallen. Da befand er sich nun im Garten, wusste auch, in welcher Gegend desselben, in der dem Dorf entgegengesetzten, der besten, die er hätte wählen können, für jetzt sowohl, wie später zur Flucht. Von steigender Zuversicht erfüllt ging er vorwärts . . . immer gerade aus, und man musste zum Schlosse kommen. Was dann zu geschehen hätte, malte Pavel sich nicht deutlich aus; er ging, Milada zu befreien, das war ihm herrlich klar, und mochte alles übrige Zweifel und Ratlosigkeit sein, der Gedanke erleuchtete ihm die Seele, den hielt er fest. Dass er jämmerlich zu frieren begann in seinen elenden Kleidern, dass ihm die Glieder steif wurden, grämte ihn nicht; aber schlimm war’s, dass immer tiefere Finsternis einbrach, und Pavel alle Augenblicke an einen Baum anrannte und hinfiel. Wenn er auch das erste Mal gleich wieder auf die Beine sprang, beim zweitenmal schon kam die Versuchung: „Bleib ein wenig liegen, raste, schlafe!“ Trotzdem aber erhob er sich mit starker Willenskraft, tappte weiter und gelangte endlich ans vorgesetzte Ziel — ans Schloss. Hochauf schlug ihm das Herz, als er an die alte verwitterte Mauer griff. Weiss Gott, wie nahe er der Schwester ist; weiss Gott, ob sie nicht in dem Zimmer schläft, vor dessen Fenster er jetzt steht, das er zu erreichen vermag mit seinen Händen . . . Es könnte so gut sein — warum sollte es nicht? und leise, leise fängt er an zu pochen . . . Da vernimmt er dicht am Boden ein knurrendes Geräusch, auf kurzen Beinen kommt etwas herbeigeschlichen, und ehe er sich’s versieht, hat es ihn angesprungen und sucht ihn an der Kehle zu packen. Pavel unterdrückt einen Schrei; er würgt den Köter aus allen seinen Kräften. Aber der Köter ist stärker als er und wohlgeübt in der Kunst, einen Feind zu stellen. Das Geheul, das er dabei ausstiess, tat seine Wirkung, es rief Leute herbei. Sie kamen schlaftrunken und ganz erschrocken; als sie aber sahen, dass sie es nur mit einem Kinde zu tun hatten, wuchs ihnen sogleich der Mut. Pavel wurde umringt und überwältigt, obwohl er raste und sich zur Wehr setzte wie ein wildes Tier.

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Das Gemeindekind

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