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III.

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Was Pavel im Schlosse gewollt, erfuhr niemand, aber die Hartnäckigkeit, mit der er jede Auskunft verweigerte, bewies deutlich genug, dass er die schlechtesten Absichten gehabt haben musste. Einbrechen wahrscheinlich oder Feuer anlegen, dem Kerl ist alles zuzutrauen. So sprach die öffentliche Meinung, und die mit Elternrechten ausgestattete Gemeinde beschloss Havels exemplarische Züchtigung durch den Herrn Lehrer Habrecht in Gegenwart der sämtlichen Schuljugend.

Der Lehrer, ein kränklicher, nervöser Mann, verstand sich äusserst ungern zur Ausübung des ihm zugemuteten Strafgerichts. Seine Ansicht war, dass solche vor einem jugendlichen Publikum vorgenommene Exekution dem selten nützt, an dem sie vollzogen wird, und denen, die ihr zusehen, immer schadet. „Dieses Vieh wird durch den Anblick ein noch ärgeres Vieh,“ äusserte er, viel zu derb für einen Pädagogen. Man hatte, wenn auch nicht ganz überzeugt, seine Einwendung oft gelten lassen, dieses Mal fruchtete sie nichts.

An dem Tage, der zur Bestrafung des nächtlichen Einschleichers bestimmt war, übernahm ihn denn der Lehrer seufzend aus den Händen der Schergen und führte ihn am Schopfe bis zur Tür der Schulstube. Hier blieb er stehen, hob den gesenkten Kopf des Knaben in die Höhe und sagte:

„Schau mich an, was schaust denn immer auf den Boden, schlechter Bub!“

Nicht liebreich waren diese Worte! und doch, woran lag es denn, dass sie dem Pavel ordentlich wohltaten, und dass sogar die Art, in der der Herr Lehrer ihn dabei an den Haaren zauste, etwas Vertrauen Einflössendes hatte und wie eine Herzstärkung wirkte?

„Fürcht dich, du Bosnickel, du Trotznickel! fürcht dich!“ fuhr jener fort, machte schreckliche Augen und schwang mit äusserst bezeichnender Gebärde den dürren Arm in der Luft. Und Pavel, aus dem seit drei Tagen kein Wort herauszubringen gewesen, der seit drei Tagen keinem Menschen ins Gesicht geschaut hatte, richtete seinen scheuen Blick blinzelnd auf den Lehrer und sprach mit einem halben Lächeln:

„Ich fürcht mich aber doch nicht.“

Aus der Schulstube hatte es früher herausgesummt wie aus einem Bienenkorbe, dann war das Summen in wüsten Lärm übergegangen, und jetzt wurde da drinnen gerauft um die besten Plätze zum bevorstehenden Schauspiel. Der Lehrer brummte unwillig vor sich hin und schüttelte Pavel von neuem:

„Wenn du dich schon nicht fürchtest, so schrei, schrei was du kannst, rat ich dir!“ sagte er, öffnete die Tür und trat ein. Sogleich wurde es still in der Stube, nur einzelne unwillkürliche Ausrufe befriedigter Erwartung liessen sich hören; freundschaftlich rückte man aneinander in den Bänken, die rührendste Eintracht herrschte. Der Lehrer stellte Pavel neben das Katheder und sah sich nach der Rute um. Da er sie eine Weile nicht fand oder nicht zu finden schien, rief eine Stimme: „Dort im Fenster steht sie, im Winkel.“ Die Stimme kam aus einer der letzten Reihen und gehörte dem Arnost, dem Sohne des Häuslers, bei dem Virgil zur Miete wohnte. Pavel ballte die Faust gegen ihn, was zu einem Gemurmel der Entrüstung Anlass gab. Mehr als hundert Augen richteten sich schadenfroh und gehässig auf den braunen zerlumpten Jungen. In ihm kochte die Galle, und so klar er zu denken vermochte, so klar dachte er: „Was hab ich euch getan? warum seid ihr meine Feinde?“

Habrecht gebot Stille und hielt eine Ansprache, in der er die Schuljugend auf eine merkwürdige Enttäuschung vorbereitete. „Ihr seid voll Vergnügen. Warum? wieso? Tun euch die Prügel wohl, die ein anderer kriegt? Passt auf! Weh tun werden sie euch! jeder von euch“ — seine Stimme senkte sich zu einem geheimnisvollen Geflüster, und er streckte den Zeigefinger langsam gegen das Auditorium aus: „Jeder, der dasitzt und vor Schadenfreude aus der Haut fahren möcht, wird bald vor Schmerz aus der Haut fahren mögen. Jeder, der herglotzt und zuschaut, wie ich meine Schläge austeile, wird sie mitspüren . . . mitspüren!“ wiederholte er seine unheimliche Prophezeiung, bei der ihm selbst zu gruseln schien. „Und jetzt gebt acht, was der Herr Lehrer kann!“

Alle Kinder schauderten vor dem Wunder, das sich an ihnen vollziehen sollte; nur noch von der Seite streiften zage Blicke den gefürchteten Mann, dessen Erscheinung in ihrer Länge und Magerkeit etwas Gespenstisches hatte. Die Buben stierten zu Boden, die Mädchen verdeckten die Augen mit den Schürzen.

Der Lehrer aber ging rasch ans Werk. Mit fabelhafter Geschwindigkeit liess er die Fuchtel um den Kopf des Delinquenten wirbeln und führte dann eine Anzahl Hiebe, die Pavel für die Einleitung zur eigentlichen Strafe hielt. Statt diese folgen zu lassen, hielt der Lehrer plötzlich inne und sprach: „Herrgott, da fällt mir jetzt die Brille herunter . . . Heb sie auf . . . Für die Strafe bedanken kannst du dich nach der Stunde.“

Pavel starrte ihn mit stumpfsinnigem Staunen an, er wartete noch auf die richtigen Wichse — da hörte er, dass er sie schon habe, und erhielt den Befehl, sich zu setzen — auf den letzten Platz in die letzte Bank.

Der Lehrer zog das Taschentuch, wischte sich den Schweiss von der Stirn, nahm umständlich eine Prise und begann den Unterricht.

Arnost, der so rot war wie ein Krebs, flüsterte seinem Nachbar zu: „Hast g’schaut?“ — „Ein bissel,“ antwortete der. — „Spürst was?“ — „Ich spür’s im Buckel.“ — „Mich brenntʼs am Ohr.“ — Ein neugieriges kleines Ding von einem Mädchen, das zufällig mit einem Auge an einen Riss in der Schürze geraten war und ihn zum Auslugen benützt hatte, gestand einigen Gefährtinnen, dass es meine, auf lauter Erbsen zu sitzen.

Nach beendigter Lehrstunde wollte Pavel sich mit den anderen davonmachen; aber der Schulmeister hielt ihn zurück, betrachtete ihn lange mit stechenden Blicken und fragte ihn endlich, ob er sich schäme.

Pavel antwortete leise: „Nein.“

„Nein? wieso nein? Hast aller Scham den Kopf abgebissen?“

Der Bursche verfiel wieder in das hartnäckige Schweigen, das der Lehrer an dem armseligsten und seltensten Besucher seiner Schule kannte. Bisher hatte er ihn laufen lassen, heute jedoch, als er ihn strafen sollte für eine unerwiesene Schuld, Mitleid mit ihm gefühlt. Um diese Regung tat’s ihm nun leid, und er fuhr giftig fort:

„Aufgewachsen in Schande, ja wirklich schon aufgewachsen, bald vierzehn Jahre — an die Schande gewöhnt, weiss nicht einmal mehr, wie sie tut!“

Nun sprach Pavel: „Weiss schon,“ und den Mund des Kindes verzerrte ein alternder Zug verbissener Bitterkeit. Er hatte nicht verstanden, was der Herr Lehrer früher gewollt mit seinen Schlägen, die beinahe nicht weh taten; dass er ihm jetzt den Jammer seines Lebens vorwarf, verstand er wohl.

„Weiss schon,“ wiederholte er in einem Tone, durch dessen erzwungene Keckheit unbewusst ein tiefer Schmerz drang.

Der Lehrer betrachtete ihn aufmerksam — er war das verkörperte Elend, der Bub! — Nicht durch die Schuld der Natur. Sie hatte es gut mit ihm gemeint und ihn kräftig und gesund angelegt; das zeigte die breite Brust, das zeigten die roten Lippen, die starken, gelblich schimmernden Zähne. Aber die wohlwollenden Absichten der Natur waren zu Schanden gemacht worden durch harte Arbeit, schlechte Nahrung, durch Verwahrlosung jeder Art. Wie der Junge dastand mit dem wilden braunen Haargestrüpp, das den stets gesenkten Kopf unverhältnismässig gross erscheinen liess, mit den eingefallenen Wangen, den vortretenden Backenknochen, die magere derbe Gestalt von einem mit Löchern besäten Rock aus grünem Sommerstoff umhangen, die Füsse mit Fetzen umwickelt, bot er einen Anblick abstossend und furchtbar traurig zugleich, weil das Bewusstsein seines kläglichen Zustandes ihm nicht ganz verloren gegangen schien. Lange schwieg der Lehrer, und auch Pavel, schwieg; aber immer verdrossener liess er die Unterlippe hängen und begann verstohlen nach der Tür zu sehen, wie einer, der eine Gelegenheit zu entwischen wahrzunehmen sucht.

Da sprach der Lehrer endlich: „Sei nicht so dumm. — Wenn du aus der Schule draussen bist, sollst du denken: wie kann ich hinein, und nicht, wenn du drin bist; wie kann ich hinaus?“

Pavel stutzte; das war nun wieder ganz unerklärlich und stimmte mit der weit verbreiteten Meinung überein, der Schulmeister vermöge die Gedanken der Menschen zu erraten.

„Geh jetzt,“ fuhr jener fort, „und komm morgen wieder und übermorgen auch, und wenn du acht Tage noch einander kommst, kriegst du von mir ein Paar ordentliche Stiefel.“

Stiefel? — wie die Kinder der Bauern haben? ordentliche Stiefel mit hohen Schäften? Unaufhörlich während des Heimwegs sprach Pavel die Worte: „ordentliche Stiefel“ vor sich hin, sie klangen märchenhaft. Er vergass darüber, dass er sich vorgenommen hatte, den Arnost zu prügeln, er stand am nächsten Morgen vor der Tür der Schule, bevor sie noch geöffnet war, und während der Stunde plagte er sich mit heissem Eifer und verachtete die Mühe, die das Lernen ihm machte. Er verachtete auch die drastischen Ermahnungen Virgils und seines Weibes, die ihn zwingen wollten, statt zum Vergnügen in die Schule, zur Arbeit in die Fabrik zu gehen. Freilich musste dies im geheimen geschehen; zu offenen Gewaltmassregeln zu greifen, um den Buben im Winter vom Schulbesuch abzuhalten, wagten sie nicht; das hätte gar zu auffällig gegen die seinetwegen mit der Gemeinde getroffene Übereinkunft verstossen.

Sieben Tage vergingen, und am Nachmittage des letzten kam Pavel nach Hause gerannt, in jeder Hand einen neuen Stiefel.

Vinska war allein, als er anlangte; sie beobachtete ihn, wie er das blanke Paar in den Winkel am Herd, sich selbst aber in einiger Entfernung davon aufstellte und in stille Bewunderung versank. Freude vermochten seine vergrämten Züge nicht auszudrücken, aber belebter als sonst erschienen sie, und es malte sich in ihnen ein plumpes Behagen.

Einmal trat er näher, hob einen der Stiefel in die Höhe, rieb ihn mit dem Ärmel, küsste ihn und stellte ihn wieder an seinen Platz.

Aus der Stube erscholl ein Gelächter, Vinska trat auf die Schwelle, lehnte sich mit der Schulter an den Türpfosten (eine Tür gab es zwischen der Stube und dem Eingange nicht) und fragte:

„Wo hast die Stiefel gestohlen, du Spitzbub?“

Er sah sich nicht einmal nach ihr um, von antworten war gar keine Rede. Vinska jedoch wiederholte ihre Frage so oft, bis er sie anbellte:

„Gestohlen! ja just gestohlen!“

„Du Esel,“ murmelte sie, „siehst du? jetzt sagst du’s selbst.“

Der Blick ihrer begehrlichen grauen Augen wanderte abwechselnd von den Stiefeln zu den eigenen nackten, hübsch geformten Füssen. Pavel hatte sich auf die Erde gekauert neben sein neues köstliches Eigentum; es war ihm, als müsse er es beschützen gegen eine nahende Gefahr, und er machte sich gefasst, ihr zu begegnen. Vinska neigte den Kopf auf die Seite, lächelte den Burschen, der drohend zu ihr emporsah, plötzlich an und sprach mit einschmeichelnder Stimme:

„Geh, sag mir, woher hast sie?“

Er wusste nicht, wie ihm geschah. In dem Ton hatte er die Vinska vor kurzem zum Peter sprechen hören, der ihr Liebhaber war. Heisse Wellen wogten auch in seiner Brust, er verschlang seine reizende Hausgenossin mit den Augen und meinte, was ihn da mit ungeheurer Macht angepackt hatte, sei die Lust, auf sie loszustürzen und sie durchzuprügeln.

Dabei rührte er sich nicht, öffnete nur ganz willenlos die Lippen und sprach:

„Der Herr Lehrer hat sie mir gegeben.“

Vinska begann leise zu kichern. „O je — der! Wenn du sie von dem hast, dann hast du nichts.“

„Was — nichts?“

„Nun nichts! Wenn du morgen aufwachst, sind die Stiefel weg.“

„Weg? . . . Warum nicht gar!“

„Ja, ja! was der Lehrer schenkt, hält sich nicht über Nacht. Du weisst ja, dass er ein Hexenmeister ist.“

Pavel geriet in Eifer: „Ich weiss, dass er kein Hexenmeister ist.“

Das Mädchen warf verächtlich die Lippe auf. „Du Dummrian! Er war drei Tage tot und im Sarge. War er nicht? Und weiss nicht jedes Kind, dass einer, der drei Tage tot gewesen ist, in die Hölle hineingeschaut und dem Teufel, eine Menge abgelernt hat?“

Pavel starrte sie sprachlos an, ihm begann zu gruseln. Sie gähnte, drückte die Wange an die emporgezogene Schulter und sagte nach einem Weilchen so nachlässig, als ob sie eine ihr langweilig gewordene, hundertmal erzählte Geschichte wiederhole:

„Der alten blinden Marska, die im vorigen Jahr bei uns gestorben ist, hat er auch ein paar Schuhe geschenkt. Sie hat sie am Abend vors Bett gestellt, und wie sie am Morgen hineinfahren will, tritt sie statt in die Schuh auf eine Kröte, so gross wie eine Schüssel.“

Pavel schrie auf: „Das ist nicht wahr!“ Heiss und kalt wurde ihm vor Zorn und Angst, und plötzlich schossen Tränen ihm in die Augen.

Vinska streifte ihn mit einem Blick voll Geringschätzung und kehrte in die Stube zurück.

An dem Abend suchte Pavel sich des Schlafes zu erwehren, er wollte seinen Schatz bewachen, er betete auch ein Vaterunser nach dem andern, um die bösen Geister zu bannen. Trotzdem sank er endlich doch in Schlummer, und als er am nächsten Morgen erwachte, hatte Vinskas Prophezeiung sich erfüllt — die Stiefel waren verschwunden.

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Das Gemeindekind

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