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„Bis morgen!“ Marie zuckte. Jahrelang hatte sie sich mit diesen Worten verabschiedet. Sie schaute über die Schulter nach hinten. In der Garderobe war niemand. Die anderen waren schon zum Hinterausgang raus. Zum Glück. Marie zögerte einen Moment, dann verließ auch sie die Garderobe und ging in den Gang zur hinteren Ausgangstür. Mit der rechten Schulter drückte sie gegen die Tür und schob gleichzeitig mit der Hand die Klinke nach oben. Die Tür öffnete sich behäbig und gerade weit genug, dass sie hindurchschlüpfen konnte. Schon lange war ihr nicht mehr aufgefallen, in welch schlechtem Zustand dieser Teil des Krankenhauses war. Sie hatte sich daran gewöhnt, im Winter die Heizung des Umkleideraums mit dem Schraubenschlüssel anzudrehen, einen Bogen um die ausgebeulte Stelle im Boden zu machen und sich einen Platz zu suchen, der weit genug von den zugigen Fenstern entfernt war.

Aber heute war es anders. Heute stach ihr der Verfall des Gebäudes direkt ins Auge. Sie blieb stehen und ließ den Blick an der Fassade nach oben wandern. Die Mauer war schmutzig grau, von den früher einmal weißen Fensterrahmen liefen braune Spuren an der Wand nach unten. Wie es auf dem Flachdach aussah, konnte Marie nicht feststellen. Aber sie konnte es sich bildhaft vorstellen.

„Wie ein kleiner Wald“, hatte der Assistenzarzt bei der letzten Betriebsfeier erzählt. Er und die neue Schwester waren oben gewesen. Was sie dort gemacht hatten, wollte Marie nicht wirklich wissen. Kurz darauf war der Arzt weg gewesen. Die Schwester schlurfte seitdem unzufrieden durch die Gänge des Krankenhauses.

Marie seufzte. Wie hatte sie nur über die Baufälligkeit hinwegsehen können? Ganz am Anfang, als sie ihre Stelle angetreten hatte, war es ihr schon aufgefallen. Das schönste im Landkreis war dieses Krankenhaus nicht gerade gewesen. Aber sie war so froh, als Krankenschwester arbeiten zu dürfen, dass es sie nicht gekümmert hatte. Eigentlich war es auch nicht wichtig. Entscheidend war der Zustand ihrer Arbeitsstätten. Der Operationssäle und Krankenzimmer. Die waren immer einwandfrei in Ordnung gewesen. Bis jetzt. Jetzt wurde der Betrieb des Hauses zu teuer. Marie hatte die Worte des Direktors noch im Ohr. Er hatte ehrlich verzweifelt geklungen, als er ihnen die schreckliche Nachricht eröffnete. Zum Ende des Monats würde man das Krankenhaus schließen. Endgültig und unwiderruflich. Schon vor Jahren waren die Hals-Nasen-Ohren-Station und die Geburtshilfe in die nächste größere Stadt umgezogen. Nur die Orthopädie war übrig geblieben. Dann waren immer weniger Patienten gekommen. Jetzt hatte der Eigentümer beschlossen, das Haus ein für alle Mal zu schließen.

Marie runzelte die Stirn. Eigentlich hätte sie es ahnen müssen. Die Kolleginnen hatten schon seit Monaten getuschelt. Aber sie hatte nicht zugehört. Das Gerede der anderen interessierte sie nicht. Viel lieber machte sie sich nach der Arbeit sofort auf den Weg nach Hause. Zu ihrem Häuschen. Zu Georg.

Auf einmal überkam sie eine prickelnde Wärme. Unglaublich, dass sie immer noch Schmetterlinge im Bauch hatte, wenn sie an Georg dachte! Und das, obwohl sie ihn praktisch seit ihrer Geburt kannte. Jahrelang waren sie beste Freunde gewesen. Dann, vor sechs Monaten, hatte sich alles geändert. Jetzt waren sie ein Paar. Nicht verheiratet, aber verliebt und zusammen. Wie blind sie beide doch gewesen waren! Sie hatte ihm sogar geholfen, eine Frau zu suchen, mit der er den Hof weiterführen konnte. Nur gut, dass das Ganze schiefgegangen war und sie rechtzeitig erkannt hatten, was sie füreinander empfanden.

Marie war so in Gedanken, dass sie ihn erst hörte, als er fast bei ihr war. Sie drehte sich um. Die Sonne war dabei, hinter den Berggipfeln zu versinken, und beleuchtete die Gestalt von hinten, sodass Marie nur die graue Silhouette ausmachen konnte. Als sie den Arzt erkannte, blinzelte sie erstaunt.

„Frau Weber, bitte warten Sie.“ Er lief die letzten Schritte auf sie zu und blieb abrupt vor ihr stehen. Marie spürte, dass er ein paar Zentimeter zu dicht an sie herangekommen war. Seit ihrer Kindheit hatte sie ein gutes Gespür für die richtige Distanz. Sie mochte es nicht, wenn andere Menschen ihre unsichtbare Grenze überschritten. Wenn sie ihr zu nahe kamen. Das durften nur sehr wenige, sehr vertraute Personen. Marie zwang sich, nicht unwillkürlich einen großen Schritt nach hinten zu machen. Sei nicht albern, sagte sie in Gedanken zu sich selbst.

Der Chefarzt stemmte die Hände lässig in die Hüften und strahlte Marie an. Er war kein bisschen außer Atem. Er schien ausreichend Sport zu treiben und – wie die leichte Bräune in seinem Gesicht erahnen ließ – sich gerne in der Natur aufzuhalten.

Marie mochte ihn. Er war deutlich älter als die anderen Ärzte und arbeitete als Anästhesist an der Klinik, seit sie hier angefangen hatte. Auch wenn sie sich nie viel miteinander unterhalten hatten, waren sie sich beruflich sehr vertraut. Ohne viele Worte ahnte Marie immer im Voraus, was er im OP brauchte, und sie wusste, dass er ihre reibungslose Zusammenarbeit schätzte.

Es war ungewohnt, ihn hier draußen zu treffen. Auch er schien das zu merken. Er wirkte befangen. Als müsse er außerhalb der alles bestimmenden Klinikregeln erst nachdenken, wie er mit Marie sprechen sollte.

„Es tut mir leid, dass ich Sie so überfalle.“

Marie sagte nichts.

„Haben Sie ein paar Minuten Zeit?“

Marie dachte nach. Allerdings nur einen klitzekleinen Moment, in dem sie bedauerte, dass sie nicht sofort nach Hause zu Georg konnte. Dann sagte sie: „Natürlich.“ Als der Arzt erleichtert nickte, schob sie hinterher: „Gerne.“

***

Auf seinem Hof mit Blick über das Tal stand Georg mit dem Rücken an die Stallwand gelehnt. Er beobachtete seine Mutter Christl, die vom Haus aus auf ihn zukam. Georg grinste. Auch wenn seine Freundin Marie ihm mangelnde emotionale Intelligenz bescheinigte – seine Mutter durchschaute er ganz gut. Sie hatte zwei Gläser und eine Wasserkanne in der Hand und ließ den Blick über den Hof wandern. Noch hatte sie ihn nicht entdeckt.

Er ging ein paar Schritte auf sie zu. „Suchst du mich?“

Christl stoppte. Sie wirkte ertappt. „Nein. Ja. Also nicht direkt.“ Sie machte eine kurze Pause, dann lachte sie. „Na gut, du weißt sowieso, was ich will. Nur kurz, ja?“

Georg lächelte und nickte. Dann setzte er sich auf die Bank an der Hauswand und wartete, bis Christl neben ihm Platz genommen hatte.

Früher waren sie selten zusammen hier gesessen. Sie waren immerzu beschäftigt. Georg mit den Tieren und den Arbeiten rund um den Hof. Christl mit dem Haus, dem Garten und der Küche. Doch seit dem Tod von Georgs Vater Max sprachen sie viel miteinander. Christl hatte ihm ins Gewissen geredet und ihm die Augen geöffnet, was seine Gefühle betraf. Ihr hatte er es zu verdanken, dass er jetzt mit Marie zusammen war.

In letzter Zeit war seine Mutter ruhiger geworden. Sie wuselte nicht mehr den ganzen Tag im Haus herum und versuchte, Unmengen von Essen auf den Tisch zu bekommen für Gäste, die sich doch nie einfanden. Stattdessen legte sie oft Pausen ein und nahm sich Zeit für lange Spaziergänge. Und sie suchte seine Nähe. Georg genoss das.

Christl schenkte ihnen ein und stellte Gläser und Karaffe auf den Boden. Dann bückte sie sich noch einmal, hob ihr Glas hoch und trank einen großen Schluck.

Georg musterte sie von der Seite. Er musste wieder grinsen. Unglaublich, wie gut er im Gesicht seiner Mutter lesen konnte. Das war nicht immer so gewesen. „Also. Was gibt es?“, fragte er.

Christl setzte eine überraschte Miene auf. „Warum? Was meinst du?“

Georg schüttelte den Kopf. „Du hast doch etwas auf dem Herzen, das hab ich schon gemerkt, als du aus dem Haus gekommen bist.“

Christl nahm noch einen Schluck und stellte das Glas zurück. „Also gut, dir kann ich nichts vormachen. Ich wollte etwas mit dir besprechen. Es geht um den Termin nächste Woche.“

Jetzt zog Georg erstaunt die Augenbrauen hoch. Was den Termin beim Notar anbelangte, war für ihn eigentlich alles klar. Er war der einzige Sohn, das Erbe würde also nach dem Tod seines Vaters an Christl übergehen und später an ihn. Georg wartete, bis seine Mutter weiterredete.

„Ich habe heute Vormittag beim Bäcker die Angelika getroffen. Ihre Tochter Lara arbeitet seit ein paar Monaten in der Kanzlei.“

Georg erinnerte sich vage an Lara. Sie war ein paar Jahre jünger als er.

Christl biss sich auf die Unterlippe und zögerte, bevor sie weiterredete. „Du wirst mich für dumm halten. Aber die Angelika hat mich ganz komisch angeschaut. Sie weiß irgendwas, da bin ich mir sicher.“

„Ach so!“ Georg musste sich beherrschen, um nicht zu lachen. „Und jetzt hast du Angst, dass uns beim Notar eine böse Überraschung erwartet, von der die Lara ihrer Mutter heimlich erzählt hat?“

Christl blieb ernst. „Ich weiß, das klingt kindisch.“ Der nächste Satz war trotzig. „Aber ich habe ein Gespür für solche Dinge. Irgendetwas stimmt nicht.“

Georg nahm einen tiefen Zug aus seinem Glas. „Kann schon sein. Vielleicht weiß Angelika wirklich etwas, das sie dir nicht sagen darf. Aber vielleicht hat sie auch nur überlegt, ob sie Brezen oder Semmeln fürs Abendessen kaufen soll.“ Er klopfte seiner Mutter aufmunternd auf die Schulter. „Der Termin ist reine Formsache. Das einzig Ungewisse ist die Farbe von dem Stift, mit dem wir unterschreiben. Du wirst sehen. Wir gehen rein, hören zehn Minuten zu, malen unsere Namen, und dann war es das.“

Christl zuckte mit den Schultern. „Wahrscheinlich hast du recht.“

Eine Weile lang redeten sie über Marie. Georg spürte, wie überglücklich Christl war, dass er und Marie endlich zusammengefunden hatten. Seine Mutter fand, dass sie perfekt zueinanderpassten. Und fragte wieder einmal, wann ihre zukünftige Schwiegertochter auf dem Hof einziehen würde.

„Ich will mich ja nicht einmischen“, sagte sie, „aber hier ist doch viel mehr Platz. Ich würd mich so freuen. Ich zieh unters Dach und ihr könnt euch im ganzen Haus ausbreiten.“

Georg lächelte. Auch er wünschte sich, dass Marie öfter bei ihm war. Aber er kannte seine Freundin gut genug, um zu wissen, dass er sie nicht bedrängen durfte.

„Irgendwann kommt sie bestimmt“, sagte er. „Jetzt muss ich los, die Kühe warten.“

Wie weit reicht dein Herz?

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