Читать книгу Wie weit reicht dein Herz? - Mariella Loos - Страница 6
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ОглавлениеAls Marie den Hof erreichte, atmete sie tief ein und aus und drückte die Schultern nach hinten. Sie musste mit Georg reden. So schnell wie möglich. Sie ging durch den Innenhof auf den Stall zu und seufzte. Alles hier war so vertraut. Seit sie denken konnte, war sie hierhergekommen und hatte ihren besten Freund besucht. Georg und sie hatten gemeinsam die Stallarbeit erledigt. Manchmal waren sie einfach nur über die Wiesen gelaufen oder waren in den Bäumen gesessen und hatten die Füße baumeln lassen. Georg hatte so selbstverständlich zu ihrem Leben gehört, dass sie sich immer noch wunderte, wie blind sie gewesen war. Wann hatte sich ihre Freundschaft in Liebe verwandelt? Marie wusste es nicht. Und sie konnte jetzt auch nicht darüber nachdenken. Sie musste das Gespräch gut anpacken. Georg war ein liebenswerter und offener Mensch und ein wunderbarer Freund und Partner. Aber ausführliches Reden, gar über Probleme, war nicht seine Stärke.
Im Stall stieg ihr der heimelige Geruch nach Tieren und Heu in die Nase. Sie ging ein paar Schritte auf die Stallgasse zu.
Georg hatte sie noch nicht bemerkt. Er war mit dem Melken fertig und verteilte frisches Heu.
Marie versetzte es einen Stich in die Brust. Ihr Freund sah gut aus. Nicht so glatt und elegant wie die Männer in den Katalogen, die ihr in den Briefkasten flatterten. Georg war auf eine natürliche Weise schön. Sein Körper war von der harten Arbeit geformt. Er hatte breite Schultern und muskulöse Arme. Jetzt schwitzte er, und seine blonden Locken standen ihm wirr vom Kopf ab. Mit dem Handrücken fuhr er sich über die Stirn und schob eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Das sah unfassbar süß aus.
Plötzlich drehte Georg sich um und entdeckte sie. Er strahlte über das ganze Gesicht.
„Da bist du endlich.“ Er kam auf Marie zu und nahm sie in den Arm. Marie fühlte sich sofort wohl. Seine Wärme und seine Stärke gaben ihr Halt. Zu gern wäre sie einfach nur so stehen geblieben. Aber sie musste ihm etwas sagen.
„Dr. Schröder hat mich aufgehalten.“
Georg schob sie mit dem Arm ein Stück von sich und ließ den Blick über ihren Körper schweifen. „Dr. Schröder, ja?“ Er grinste. „Wenn ich der Arzt wäre, würde ich dich auch aufhalten. Ich kann mir denken, was er wollte.“
„Ach was“, erwiderte Marie. „Wir haben eine rein berufliche Beziehung.“
Georg küsste sie auf den Mund. „Dann passt’s ja.“ Er nahm die Heugabel wieder in die Hand. „Ich bin gleich fertig, dann gehen wir rein, einverstanden? Christl wartet schon.“
Marie zog die Mundwinkel auseinander. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt für das Gespräch. Sie würde heute Abend mit ihm reden. „Gut, ich muss noch kurz zu Boris.“
Boris, das Pferd, war Maries tierischer Freund. Georgs Familie hatte es von einem benachbarten Hof übernommen, der seinen Reitbetrieb eingestellt hatte. Der alte Boris war als unverkaufbar zurückgeblieben und wohnte seitdem in der Scheune. Marie kam täglich, um nach ihm zu sehen.
Als sie in die Box trat, schnaubte Boris erfreut. Sie tätschelte ihm den Hals, und er schaute sie dankbar an. Seine Augen waren trüb. Er war alt. In den letzten Wochen hatte ihn ein hartnäckiger Husten gequält. Marie machte sich Sorgen um ihn, sie spürte, dass das Tier nicht mehr richtig bei Kräften war. Aber jetzt hatte sie andere Probleme. Sie schob die Befürchtungen weg, fütterte ihr Pferd, schlenderte ins Haus und wusch sich die Hände.
Beim Abendessen plätscherte die Unterhaltung vor sich hin. Marie bemühte sich um einen fröhlichen Plauderton und um ein unverfängliches Gesprächsthema. Weder Georg noch Christl schienen Maries gedrückte Stimmung zu bemerken. Christl freute sich offenbar über die Gesellschaft und ließ sich das Essen schmecken. Danach verabschiedete sie sich und verschwand in ihr Zimmer.
Kurz darauf gingen Marie und Georg ins Wohnzimmer und machten es sich auf dem Sofa bequem. Marie legte ihren Kopf auf Georgs Brust. Er streichelte ihre Haare, und sie spürte seinen Herzschlag. Seine Nähe war schön. Warm und weich. Marie lief ein wohliger Schauer über den Rücken. Jetzt kann ich unmöglich mit ihm reden, dachte sie noch, dann schloss sie die Augen.
Sie musste eingeschlafen sein. Als Marie sich aufsetzte, war es draußen stockdunkel. Sie brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Aus dem Flur drang ein warmer Lichtschein durch den Spalt in der Tür.
„Ich muss los.“
Georg legte ihr den Arm um die Schulter. „Bleib doch hier“, murmelte er.
Marie seufzte. Zu oft schon hatten sie das besprochen. Georg wollte, dass sie bei ihm einzog. Doch sie liebte ihr Haus. Das urige Hüttchen am Berghang, in dem sie seit ihrer Kindheit wohnte. Erst mit ihren Eltern Gabriele und Werner, später alleine. Natürlich wäre sie gern öfter mit Georg zusammen. Aber auf seinem Hof wohnen kam für sie nicht infrage. Solange er das nicht einsah, wollte sie auch nicht bei ihm übernachten.
„Du kannst ja mit zu mir kommen“, schlug sie vor.
Georg schüttelte den Kopf. „Du weißt, dass das nicht geht. Ich muss morgen früh in den Stall. Und wenn etwas mit Christl ist, muss ich da sein.“
Das war Marie klar. Und sie fand, dass es auf Dauer so nicht weitergehen konnte.
Sie stand auf, betrat den Flur und schnappte sich ihre Jacke vom Haken.
Auch Georg erhob sich, folgte ihr und schlüpfte in seine Schuhe. Obwohl Marie immer wieder beteuerte, sie könne alleine gehen, wollte er sie begleiten.
Als sie nach draußen kamen, wehte ihnen ein kühler Luftstoß entgegen. Es war frisch, noch hatte der Frühling nicht richtig Fahrt aufgenommen. Marie hakte sich bei Georg unter. Wortlos stiegen sie den Berg hinab. Der Mond war fast voll und erhellte die Umgebung. Aber auch ohne das Licht hätten sie gewusst, wohin sie ihre Schritte lenken mussten.
Nachdem sie die Kehre im Wald genommen hatten, ging es wieder bergauf. Sie verließen den Weg und marschierten das letzte Stück zum Haus über die feuchte Wiese. Georg schlang seinen Arm um Maries Schulter und drückte sie fest an sich. Dann hielt er sie zurück und umarmte sie innig. Als er sie küsste, fuhr ein Prickeln durch Maries Körper. Nur mit Mühe konnte sie sich von Georg lösen.
Mit belegter Stimme sagte sie: „Willst du doch mit reinkommen?“
Sie sah Georg an, dass er mit sich kämpfte. „Besser nicht. Ich muss morgen wirklich sehr früh raus.“
Auch wenn Marie ihn gerne überredet hätte, war ein kleiner Teil von ihr erleichtert. So konnte sie das dringende Gespräch mit ihm verschieben. Morgen war Samstag, das war bestimmt ein guter Tag dafür, versuchte sie sich selber einzureden.
Mit einem letzten Kuss verabschiedeten sie sich. Dann kehrte Georg um, und Marie betrat ihr Haus.
Drinnen empfing sie der vertraute Geruch nach altem Holz, in den sich der Duft der frischen Blumen mischte, die sie am Morgen gepflückt und in die Vase gestellt hatte.
Sie zog sich aus, ließ die Kleidung auf den Boden fallen und sank in ihr Bett. Zum Glück war sie so müde, dass sie einschlief, ohne weiter nachdenken zu müssen.