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Viel später lagen sie eng umschlungen unter der Decke. Marie schmiegte den Kopf an Georgs Brust und spürte seinen gleichmäßigen Atem, das ruhige Heben und Senken seiner Brust. Ihre Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt. Sie konnte die Bartstoppeln auf seinem Kinn sehen und die leichte Krümmung seiner Nase. Seine kurzen Locken wirkten weicher als sonst. Wie gerne wäre sie einfach nur liegen geblieben und hätte ihn betrachtet, bis sie einschlief und von ihm träumte.

Stattdessen schob sie seine Hand zur Seite und stand auf. Sie legte sich ihren Bademantel über und schloss die Haustür. Inzwischen war es kalt hier drinnen. Marie holte sich ein Glas Wasser aus der Küche und ging zurück ins Schlafzimmer.

Als hätte Georg bemerkt, dass sie das Zimmer betrat, öffnete er die Augen und schaute sie an. Direkt ins Herz. Er lächelte. Ohne auf die Bitte von Marie zu warten, stand er auf. Er zog sich Hose und Shirt an, nahm seine Freundin an der Hand und ging mit ihr nach nebenan ins Wohnzimmer.

Marie war sprachlos. Er schien zu wissen, was sie wollte.

Sie setzten sich nebeneinander auf die Couch, und Georg schob Marie eine Decke über die Beine. Dann schlang er ihr einen Arm um die Schulter.

„Also?“

Marie musterte ihn erstaunt. „Was meinst du?“

Georg schüttelte den Kopf. „Na schön, ich bin ein Mann und manchmal stehe ich auf der Leitung. Aber ich merke trotzdem, wenn meine Freundin etwas auf dem Herzen hat.“ Er strich Marie eine Haarsträhne aus dem Gesicht und legte seine Hand in ihren Nacken. „Was ist los?“

Marie zögerte. „Wollen wir nicht erst essen? Der Auflauf ist bestimmt schon ganz trocken.“

„Nein“, sagte Georg. „Ich will jetzt hören, was los ist.“

Marie hatte sich die Worte zurechtgelegt. Das ganze Wochenende hatte sie immer wieder in Gedanken durchgespielt, was sie Georg sagen wollte. Schließlich ging es nicht nur um die Schließung des Krankenhauses, sondern um vieles mehr, was im schlimmsten Fall ihre Beziehung gefährden konnte. Die ersten Worte kamen nur zögerlich aus ihrem Mund. Ihre Stimme war brüchig. „Ich hatte am Freitag ein Gespräch mit Dr. Schröder.“ Als Georg nicht antwortete, sprach sie weiter. „Die Klinik wird geschlossen.“

Georg lehnte sich mit dem Oberkörper nach vorne. „Was? Warum?“

Marie atmete vernehmlich aus. Der Anfang war gemacht. Die nächsten Sätze fielen ihr deutlich leichter. „Das ist schon lange im Busch. Es leben nicht mehr genug Leute hier oben. Die Betten sind teilweise tagelang nicht belegt. Das Haus zerfällt beim Hinschauen. Das Ganze wird einfach zu teuer. Ehrlich gesagt habe ich die Augen davor verschlossen, ich dachte, das wird schon wieder.“

Georg nahm ihre Hand. „Das dachte ich auch.“ Nachdenklich hielt er inne. Dann fragte er: „Wie lange noch?“

Marie biss sich auf die Unterlippe. „Nur noch eine Woche. Der Eigentümer ist bankrott. Damit kann das Haus sofort schließen. Und wir werden gekündigt.“

Georg blies Luft durch die Lippen. „Das ist eine Sauerei!“

Marie zuckte resigniert die Schulter. „Das ist normal. Die Klinikleitung hat wirklich alles versucht. Es geht einfach nicht mehr. Der Direktor war selber total verzweifelt, aber es gibt keinen Ausweg. Wir sind ab sofort entlassen.“

Einen Moment sagte keiner von ihnen ein Wort. Dann gab Marie sich einen Ruck.

„Da ist noch etwas.“ Kurze Pause, dann: „Dr. Schröder hat mir ein Angebot gemacht. Es handelt sich um eine Stelle in dem neuen Kinderkrankenhaus.“

„Was für ein neues Krankenhaus?“, fragte Georg.

„In Höchertshausen, da, wo früher die Schule war, wird eine Spezialklinik für Kinderchirurgie gebaut“, erwiderte Marie. „Vor allem für schwierige Fälle, Missbildungen und komplizierte Operationen. Der Bau beginnt erst, eröffnet wird das Haus frühestens in einem Jahr.“

Georg rückte ein Stück zur Seite und schaute Marie erwartungsvoll an. „Und?“

„Und er hat mir angeboten, die OP-Leitung zu übernehmen. Er wird Chefanästhesist und medizinischer Leiter, also hat er bei der Besetzung das entscheidende Wort.“

Georg lehnte sich zu Marie und nahm sie in den Arm. „Wow, herzlichen Glückwunsch! Das ist doch toll. Nach Höchertshausen brauchst du höchstens eine halbe Stunde. Und bis dahin …“

Marie unterbrach ihn. „Halt, ich bin noch nicht fertig.“ Sie drückte ihn sanft, aber entschieden weg und stand auf. Nachdem sie ein paar Schritte durchs Zimmer gelaufen war, blieb sie vor der Couch stehen und stemmte die Hände in die Seiten. „Dr. Schröder hat eine Bedingung.“

Jetzt war es raus. Es gab kein Zurück mehr. Marie schaute Georg in die Augen, um zu beobachten, wie er auf ihre nächsten Worte reagieren würde. „Bis es so weit ist, geht er nach Afrika. Mit Ärzte ohne Grenzen. Und ich soll mit.“

Georg blieb der Mund offen stehen. „Was? Du hast hoffentlich nicht zugesagt?“

„Nein. Aber ich habe auch nicht abgesagt.“ Georg rührte sich nicht und starrte sie an. Marie hatte damit gerechnet, dass er die Nachricht schlecht aufnehmen würde. Das blanke Entsetzen in seinem Blick erschreckte sie dennoch. Sie setzte sich wieder und griff nach seiner Hand. „Ich hatte nicht erwartet, dass du das so schlimm finden würdest. Ich …“

„Ist das dein Ernst?“ unterbrach Georg sie. „Du dachtest, dass ich es gut finde, wenn du mir nichts, dir nichts ein Jahr lang nach Afrika auswandern willst? Was hast du denn erwartet? Dass ich sage: Kein Problem, viel Spaß?“

Marie lehnte sich nach vorne und stützte den Kopf auf die Hände. „Nein, natürlich nicht. Ich weiß selber, dass das viel zu schnell geht. Mir gefällt es auch nicht. Aber ich habe keine Ahnung, was ich machen soll. Die Anstellung in der Kinderklinik ist eine Riesengelegenheit. Eine andere Möglichkeit habe ich nicht. Du weißt genauso gut wie ich, dass es hier in der Umgebung keine Krankenhäuser mehr gibt. Ich kann unmöglich jeden Tag stundenlang pendeln. Und Ärzte ohne Grenzen ist eine tolle Organisation. Die helfen …“

Erneut schnitt Georg ihr das Wort ab. „Moment! Du kannst nicht stundenlang pendeln. Aber du könntest …“ Er brachte den Satz nicht zu Ende. Ließ die Schultern hängen und richtete den Blick ins Leere.

Marie drückte den Rücken durch. „Ich kann was? Bei dir einziehen? Hausfrau werden? Bäuerin und Mutter?“

Georg antwortete nicht. Stattdessen stand er auf und trat zum Fenster. Ein paar Sekunden schaute er in die Dämmerung vor dem Haus. Dann drehte er sich um und stellte sich vor Marie auf. „Das wollte ich nicht sagen. Ich meinte, du kannst in die nächste große Stadt ziehen, und wir sehen uns am Wochenende. Vielleicht könntest du ja auch mit dem Arzt sprechen. Möglicherweise könntest du in der Klinik arbeiten, ohne vorher ein Jahr in Afrika zu verbringen.“ Sein Blick wurde jetzt traurig, und er wandte sich ab, um sich nach draußen zu begeben.

„Ich wusste nicht, dass du es so schrecklich findest. Dass dich der Gedanke, bei mir zu sein, abstößt und du lieber nach Afrika fährst“, sagte er noch.

Marie lief Georg hinterher und wollte ihn umarmen. Als er das nicht zuließ, stellte sie sich ihm vor der Tür in den Weg. Sie fasste ihn am Oberarm. „So hab ich das nicht gemeint. Es stimmt nicht, dass ich nicht mit dir zusammen sein will. Im Gegenteil, das ist das Wichtigste für mich.“

Georg zog zweifelnd die Brauen nach oben, und Marie schob nach: „Ich will den Rest meines Lebens mit dir hier oben verbringen.“ Sie zog ihn zurück ins Wohnzimmer. Widerwillig ließ er es sich gefallen, dass sie ihn auf die Couch drückte. Sie setzte sich daneben.

„Sei bitte nicht beleidigt. Es tut mir leid. Ich wollte nur nicht schon wieder hören, dass ich bei dir einziehen soll. Das überfordert mich einfach. Ich will hierbleiben, in meinem Zuhause. Verstehst du das denn nicht? Natürlich ist es schön auf dem Hof, aber er ist nicht mein Zuhause.“

Georg zuckte die Schultern. „Und wie soll das mit uns dann in Zukunft werden?“

Auf diese Frage hatte Marie gewartet. „Ich hab eine Idee“, antwortete sie. „Aber du musst mir bis zum Ende zuhören und nicht gleich losschimpfen. Versprochen?“

„Versprochen.“

Marie lächelte. „Gut. Und dabei essen wir. Ich halt es nämlich nicht mehr aus vor Hunger. Komm.“

Sie saßen in der offenen Küche und stocherten in ihrem Essen herum. Die Lampe über dem Esstisch summte, die Dunkelheit draußen wurde immer dichter. Georg lauschte mit sichtbarem Unmut Maries Ausführungen.

„Das Krankenhaus, in dem ich mit Dr. Schröder arbeiten soll, liegt in Burkina Faso, in Westafrika. Wir sind irgendwo in der Mitte des Landes. In der Nähe der Hauptstadt. Burkina Faso ist eines der ärmsten Länder der Welt. Aber ich habe auch gehört, dass es sehr interessant sein soll. Die Menschen dort sind neugierig und aufgeschlossen. Vor allem Ausländern gegenüber.“

Georg verzog keine Miene und schaute unbehaglich zwischen Marie und seinem Teller hin und her.

Marie winkte mit ihrer Gabel, während sie weitersprach. „Dort sterben so viele Kinder wie in keinem anderen Land. Wenn ich nur daran denke, wie sehr die Leute dort leiden, wird mir ganz schlecht.“

Immer noch sagte Georg kein Wort.

„Deswegen finde ich die Idee, mitzugehen und mitzuhelfen, wirklich toll. Noch nie hatte ich das Gefühl, dass meine Arbeit so wichtig ist.“

„Marie.“ Schließlich unterbrach Georg sie doch. „Bitte hör auf. Ich weiß, dass du der ganzen Welt helfen willst. Und ich finde das sehr lieb von dir. Aber hier geht es darum, dass der Chefarzt ganz schnell jemanden braucht, der ihn nach Afrika begleitet.“

Marie schüttelte den Kopf. „Das stimmt nicht. So ist der nicht. Er will, dass ich dabei bin, weil wir gut zusammenarbeiten. Und außerdem …“, sie schob ihren Teller mit einem Ruck zur Seite, „… will ich mit. Ich will das machen, und ich muss das machen. Verstehst du?“

Georg griff nach ihrer Hand „Ja, tue ich. Ich finde aber, es gibt auch hier genug Kinder, die Hilfe brauchen.“

„Schon“, sagte Marie, „aber das ist nicht der Punkt.“

„Was ist denn der Punkt?“

Marie seufzte. Das Gespräch lief in die falsche Richtung. „Ich wollte dir erklären, warum es sich lohnt, nach Burkina Faso zu gehen. Abgesehen davon, dass ich nur dann die Stelle hier bekomme. Und jetzt hör zu.“

Georg seufzte ebenfalls und hob ergeben die Hände.

„Burkina Faso ist zwar ein sehr armes Land, aber die Menschen tun etwas dagegen“, erklärte Marie eifrig. „Sie bauen Obst und Getreide an, und es gibt tolle Projekte mit neuen Anbauprodukten. Die Regierung unterstützt den Bau von Stauseen und Wasserkraftwerken.“

Georg verdrehte die Augen, hielt sich aber zurück.

„Das Krankenhaus, in dem wir arbeiten sollen, wird mit Solarenergie versorgt. Ist das nicht aufregend?“

„Ja, ja, und …?“

„Und ich dachte … also, wenn ich Dr. Schröder zusage, und … also, wenn du vielleicht auch …“

Georg stöhnte auf. „Das hab ich befürchtet. Du willst, dass ich mit dir nach Afrika gehe.“

Marie senkte das Kinn und schaute ihm von unten in die Augen. „Das wäre doch auch für dich eine Chance. Du könntest so viel erreichen.“

Als er nicht antwortete, redete sie schneller. „Du kannst dort Getreide anbauen oder etwas lernen über Mais oder Tierzucht oder bei dem Wasserprojekt mithelfen oder …“

Sie atmete laut aus. „Es ist nur ein Jahr. Wir könnten zusammenbleiben. Ich lerne in der Klinik, und du lernst alles, was du über alternative Landwirtschaft wissen musst. Danach kommen wir gemeinsam zurück. Dann kannst du endlich den Hof umbauen und in einen Biobetrieb verwandeln.“ Sie versuchte ein überzeugendes Lächeln. „Was sagst du?“

Georg stand auf. „Wann soll es denn losgehen?“

Marie biss sich auf die Unterlippe. Er hatte die entscheidende Frage gestellt, bevor sie es geschafft hatte, ihn mit dem Gedanken vertraut zu machen. Ihre Antwort kam zögerlich, leise. „In einer Woche.“

Georg zuckte zusammen. „Eine Woche? Das ist unmöglich! Ich kann auf keinen Fall hier weg. Der Hof braucht mich, meine Mutter braucht mich, die Tiere brauchen mich. Marie!“ Er fuhr sich nervös durch die Haare. „Morgen haben wir den Termin beim Notar, danach bleiben nur noch ein paar Tage Zeit. Das klappt auf keinen Fall!“

Marie schüttelte enttäuscht den Kopf. „Ich weiß. Ich hab auch keine Ahnung, wie das funktionieren soll. Aber wenn ich nicht mitgehe, ist meine Stelle weg. Das ist klar. Und wenn ich hierbleibe …“

Georg starrte sie an. Dann drehte er sich um und ging zur Tür. „Wenn du nicht hierbleiben willst, werde ich dir nicht im Weg stehen.“

Ohne ein weiteres Wort ließ er die Tür ins Schloss fallen.

Stunden später lag Marie wach auf ihrem Bett. In ihrem Kopf drehte es sich, und sie fand nicht in den Schlaf. Sie konnte keine Entscheidung treffen. Was hatte Georg gemeint mit „Ich stehe dir nicht im Weg“? Was würde passieren, wenn sie wegginge? Und was, wenn sie bliebe? Je mehr sie darüber nachdachte, desto deutlicher wurde ihr die Ausweglosigkeit ihrer Lage bewusst. Den Rest der Nacht wälzte sie sich unruhig in ihrem Bett und wachte am nächsten Morgen mit dröhnenden Kopfschmerzen auf.

Wie weit reicht dein Herz?

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