Читать книгу Corpus Delicti von Juli Zeh: Reclam Lektüreschlüssel XL - Mario Leis - Страница 16
Mia Holl
ОглавлениеMia Holl hat ein historisches Vorbild: Maria Holl (1549–1634) wurde als Hexe in Nördlingen/Bayern angeklagt, gefoltert und freigesprochen.
Die 34-jährige Biologin Mia Holl – helle Augen, große Nase, weicher Mund, ledig, kinderlos – wohnt mit »Idealbiographie« (S. 19) in einem Wächterhaus. Sie erforscht als Wissenschaftlerin Mikroben. Mia Systemkonforme Mia Hollakzeptiert zunächst die Diktatur, in der sie lebt. Sie agiert rational und wägt bei jedem Problem das Für und Wider ab. Auch die Körperfixierung des Staates ist für sie zwingend logisch:
»›Die Naturwissenschaft‹, sagt Mia, ›hat die lange Ehe zwischen dem Menschen und dem Übermenschlichen geschieden. Die Seele, Spross dieser Verbindung, wurde zur Adoption freigegeben. Geblieben ist der Körper, den wir zum Zentrum aller Bemühungen machen. Der Körper ist uns Tempel und Altar, Götze und Opfer.‹« (S. 158)
Im Wächterhaus meidet Mia den Kontakt zu ihren Nachbarinnen und lebt lieber Einzelgängerin Miazurückgezogen in ihrer Dachgeschosswohnung: »An manchen Tagen horcht sie ins Treppenhaus, ob alles still ist, bevor sie die Wohnung verlässt. Sie braucht Zeit und Raum für sich selbst und ihre Gedanken. Nach der Arbeit geht sie nach Hause statt zur Gemeinschaftsaktivität.« (S. 146)
Als der wichtigste Mensch in ihrem Leben stirbt, ihr Bruder Moritz, verändert sie sich. Die eher durchschnittliche Frau trauert und versucht mitunter durch das TrauerarbeitSchreiben, den Suizid ihres Bruders Moritz zu verstehen: »Ich muss das aufschreiben. Ich muss ihn aufschreiben.« (S. 27) Ihr Lebenssinn besteht zunächst im Erinnern an den Verstorbenen: »Was wäre denn sonst meine Aufgabe in der Welt, wenn nicht, von ihm zu erzählen?« (S. 122) Zudem redet Mia mit ihrer imaginären Gesprächspartnerin, der idealen Geliebten. Dieses Phantasiewesen tröstet und provoziert sie, schließlich ist sie eine Stellvertreterin ihres Bruders, die den Auftrag hat, aus der Schwester eine gefühlsbetonte Frau zu machen, die sich obendrein gegen die METHODE wenden soll.
In der Öffentlichkeit stößt ihr bewusster Rückzug ins Private auf Skepsis, die Behörden sind beunruhigt. Mia treibt eine Weile lang keinen Sport und vernachlässigt ihre Pflichtabgaben, d. h. Schlaf- und Ernährungsbericht, Blutdruckmessung und Urintest. Damit macht sie sich strafbar und wird zur Außenseiterin, was sich als fatal erweisen wird. Sie wird als Entwicklung zur FreiheitskämpferinStaatsfeindin aufgebaut: »Von Zeit zu Zeit braucht die Macht ein Exempel, um ihre Stärke unter Beweis zu stellen. Besonders, wenn im Inneren der Glaube wackelt. Außenseiter eignen sich, weil sie nicht wissen, was sie wollen.« (S. 144)
Von den ersten Konsequenzen ihrer Straftaten unbeeindruckt, geht sie ihren eigenen Weg, um den Tod ihres Bruders zu verstehen. Vor Gericht entwickelt sich aus ihrem Bagatelldelikt eine Staatsangelegenheit. Von der »verbitterte[n], einsame[n] Rationalistin« (S. 114) entwickelt sie sich zu einer Freiheitskämpferin und Staatsfeindin – wie ihr Bruder es gewollt hätte.
Mia Mia wird verurteiltwird »zum Einfrieren auf unbestimmte Zeit verurteilt« (S. 10). Kurz vor der Vollstreckung des Urteils wird sie aber begnadigt – so kann sie später nicht als Märtyrerin verehrt werden. Mia bittet aber um Vollstreckung: »Das könnt ihr nicht machen! Ihr müsst mich hierbehalten!« (S. 264) Sie soll nun einer Gehirnwäsche unterzogen werden: »Unterbringung in einer Resozialisierungsanstalt. Medizinische Überwachung. Alltagstraining.« (S. 264)