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Familie Musterwolf

In unserem menschlichen Alltagsleben taucht der Begriff „Leitwolf“ mit schöner Regelmäßigkeit auf. „Der Leitwolf“, das ist schon seit Langem ein Synonym für einen dominierenden Mann – ob als CEO eines DAX-Konzerns, als Anführer einer militärischen Spezialeinheit, als Kapitän der Fußballmannschaft von Bayern München oder als charismatischer Vorsitzender eines Kegelclubs. Der Leitwolf bestimmt, wohin die Reise geht. Alle anderen müssen sich ein- bzw. unterordnen.

Leitwolf ist ein Begriff, der suggeriert, dass Wölfe in strengen hierarchischen Strukturen leben: Geführt wird das Wolfsrudel vom Leitwolf, einem Rudeldominator, der oft auch Alpha-Wolf genannt wird und dann geht es in der Hierarchie entsprechend des griechischen Alphabets weiter nach unten: Beta-Wolf, Gamma-Wolf bis hin zum Omega-Wolf, einem bedauernswerten Tier, das auf der untersten Sprosse der Hierarchieleiter steht, bei der Futterverteilung oft leer ausgeht, allen, die in der Rangordnung über ihm stehen, als Prügelknabe dient und auch in Sachen Sex regelmäßig zu kurz kommt.

So weit so gut. Doch jetzt kommt ein großes „Aber“: Wölfe sind überhaupt nicht so – zumindest nicht in der freien Natur. Der Mythos vom Leitwolf und der streng hierarchischen Rudelstruktur beruht auf früheren Beobachtungen von Wölfen, die in Gefangenschaft leben. Bis vor wenigen Jahren stammten jegliche Erkenntnisse bezüglich des Soziallebens der Wölfe von sogenannten Gehegewölfen. Die schwieriger zu erlangenden Kenntnisse über das Verhalten von frei lebenden Wölfen lagen lange Zeit so gut wie nicht vor.

Hierarchische Strukturen, wie man sie etwa von Schimpansen, Gorillas oder, um ein heimisches Beispiel zu nennen, vom Hühnerhof kennt, entstehen im Wolfsrudel nur in Zoos und Wildparks. Also dort, wo viele Wölfe oft völlig unterschiedlicher Herkunft gezwungen sind, auf engstem Raum zusammenzuleben, und dank Gitter oder Zaun nicht abwandern und ein eigenes Revier suchen können, um innerartlichen Konflikten zu entgehen. Wölfe in Gefangenschaft sind daher gezwungen, sich zu arrangieren. Klar, dass hier ein hohes Stresslevel und Aggressionspotenzial entstehen, die letztendlich zu einer streng linearen Hierarchie von Alpha-Wolf bis Omega-Wolf führen. Die stärksten Tiere geben den Ton an – keine guten Voraussetzungen für eine friedliche Wohngemeinschaft.

Neuere Erkenntnisse dank moderner Technik, etwa mit Minisendern ausgerüstete Halsbänder oder gut versteckte Wildkameras, zeigen jedoch, dass in der freien Natur eine andere Rudelstruktur besteht.

Zu einem in Freiheit lebenden Wolfsrudel gehören in der Regel Vater, Mutter und die Kinder. Will heißen, Wölfe leben im Prinzip in einer ähnlichen Familienstruktur wie wir Menschen, sozusagen die „Kleinfamilie Wolf“. Die wahren Leitwölfe im Rudel sind dabei die Elterntiere, die im Regelfall ein Leben lang zusammenbleiben. Damit gehören Wölfe zu den wenigen Säugetierarten, die monogam leben.

Diese menschenähnliche Familienstruktur ist nach Ansicht einiger Wissenschaftler auch der Grund, warum wir Menschen uns auf den Hund als eines unserer Lieblingshaustiere kapriziert haben: Schließlich leben die Vorfahren von Bello und Co. nicht nur in menschenähnlichen Familienstrukturen, sondern haben durchaus auch ein vergleichbares Sozialverhalten.

In Einzelfällen kann es sein, dass nicht das klassische Wolfsehepaar, sondern ein Rüde und zwei Weibchen, eine sogenannte Ménage-à-trois, die Führungspositionen und damit auch die Fortpflanzung im Rudel übernehmen.

Die Rudel- bzw. Familiengröße liegt dabei durchschnittlich bei etwa 5 bis 12 Tieren, in Ausnahmefällen aber auch bei 30 Wölfen und mehr.

Im Gegensatz zu in Gefangenschaft lebenden Wölfen gibt es bei Wolfsrudeln in der freien Natur keinen Streit um den Platz in der Hierarchie, Nahrung oder das Recht, sich fortzupflanzen. Entgegen früheren Mutmaßungen geht es im Wolfsrudel ausgesprochen friedlich zu. In freier Wildbahn vermeiden die „Meister im Konfliktlösen“ Streitigkeiten innerhalb des Rudels, wann immer dies möglich ist. Vielmehr leben die Wölfe im Rudel sehr harmonisch, fast könnte man sagen freundschaftlich-familiär zusammen. Gerade die jungen Wölfe genießen Narrenfreiheit und dürfen sich gegenüber den Eltern die eine oder andere Frechheit herausnehmen. Nur in Ausnahmefällen wird ein junger Wolf vom Vater oder von der Mutter zurechtgewiesen. Und wenn das geschieht, dann äußerst behutsam: Reicht ein ermahnendes Knurren nicht aus, legen Papa oder Mama Wolf einfach die eigene Schnauze über die des ungezogenen Sprösslings und drücken sie sanft nach unten. Das reicht zur Korrektur des kindlichen Fehlverhaltens vollständig aus.

Zudem behalten die Leittiere, sprich Wolfsrüde und Wolfsfähe, nach erfolgreicher Jagd die besten und nahrhaftesten Beuteteile nicht für sich. Auch rangniedere Tiere erhalten ihren gerechten Anteil. Kein Wunder, schließlich handelt es sich ja um die eigenen Kinder.

Auch die älteren Geschwister, sprich der Nachwuchs aus dem Vorjahr, leisten ihren Beitrag dazu, dass es ihren jüngeren Brüdern und Schwestern gut geht. Wenn Mama und Papa Wolf auf die Jagd gehen, passen die sogenannten „Jährlinge“ als eine Art familieneigener Babysitter darauf auf, dass die Welpen, gepackt von kindlicher Neugier und Entdeckerdrang, nicht irgendeinen gefährlichen Unsinn anstellen. Die geschwisterliche Fürsorge geht sogar so weit, dass die älteren Geschwister für ihre kleinen Schutzbefohlenen eine Art, wenn auch ziemlich unappetitliche „Babynahrung“ produzieren: Sie würgen einfach vorverdautes Futter hoch, das sie den Welpen verabreichen.

Die Sache mit dem Mond

Man kennt das oft noch aus den Gruselfilmen aus der Traumfabrik in Hollywood: Wölfe heulen den Mond an. Da sitzt ein riesiger Wolf, meist nur als Silhouette zu erkennen, vor einem prächtigen Vollmond, wirft den Kopf in den Nacken und lässt dabei ein Geheul ertönen, das derart schaurig klingt, dass es dem geneigten Zuschauer eiskalt den Rücken herunterläuft. Aber was hat ein Wolf mit dem Mond zu tun? Gar nichts, sagen die Experten. Dass Wölfe den Mond anheulen, ist ein Gerücht, das sich heute immer noch hartnäckig hält. Aber davon wird es auch nicht wahrer. Das Ganze beruht auf einer fehlerhaften Naturbeobachtung. Im Spätwinter, im Februar und März, heulen Wölfe, zumindest in Mitteleuropa, besonders häufig. Da beginnt nämlich ihre Paarungszeit. Geheult wird dabei, um neue Geschlechtspartner anzulocken oder um die Bindung mit alten Partnern zu festigen. Und da man dieses Geheule vor allem in mondhellen Nächten besonders gut beobachten konnte und Wölfe beim Heulen meist den Kopf in den Nacken werfen, um auf möglichst große Entfernung gehört zu werden, schloss man früher fälschlicherweise daraus, Wölfe würden den Mond anheulen.

In seltenen Fällen kommt es auch zu Adoptionen von jugendlichen Wölfen, die den Kontakt zum eigenen Rudel aus welchen Gründen auch immer verloren haben, in das eigene Rudel.

Meist im Alter von zwei Jahren, wenn sie geschlechtsreif sind und sich selbst ernähren können, verlassen die jungen Wölfe ihre Familie. Die jungen Wölfe und Wölfinnen suchen sich dann außerhalb des eigenen Territoriums einen Partner fürs Leben, mit dem sie ein eigenes Rudel gründen. Bei der Suche nach einem Geschlechtspartner und einem freien Territorium werden dabei oft gewaltige Strecken zurückgelegt. Das können im Extremfall mehrere Hundert Kilometer sein. Einige abgewanderte Jungwölfe fügen sich manchmal geradezu nahtlos in ein benachbartes Rudel ein und übernehmen dort die vakant gewordene Stelle eines getöteten Elternwolfes.

Junge männliche Wölfe, die noch keine feste Partnerin finden und kein Territorium erobern konnten, nähern sich in der Paarungszeit oft vorsichtig etablierten Rudeln und versuchen, sich mit den Töchtern des dort herrschenden Elternpaares zu paaren. Das Ganze ist jedoch im Regelfall eine Art One-Night-Stand. Nach einem Erfolg ihrer Bemühungen gehen diese sogenannten „Casanova-Wölfe“ mit ihrer Kurzzeitpartnerin keine feste Bindung ein, sondern verlassen sie wieder.

Die Größe des ursprünglichen Rudels bleibt jedoch fast immer identisch. Die Abwanderung der geschlechtsreifen Jungwölfe wird in den allermeisten Fällen durch den Wurf einer vergleichbaren Zahl neuer Welpen kompensiert.

Jedes Wolfsrudel, sprich jede Wolfsfamilie, beansprucht für sich ein klar abgegrenztes Territorium. Ein Revier, das das Rudel gegenüber anderen Wolfsrudeln, aber auch Einzelgängern vehement verteidigt. Die Größe des Territoriums hängt dabei stark von der Anzahl der zur Verfügung stehenden Beutetiere ab. In Landstrichen mit vielen Elchen, Rentieren, Hirschen, Rehen oder Wildschweinen sind die Wolfsreviere eher klein. Bei einer geringen Dichte an Beutetieren, zum Beispiel in einigen Gegenden Alaskas, können die Reviere jedoch riesig sein: Ist ein Wolfsrevier in Polen im Schnitt um die 200 Quadratkilometer groß, wurden in Alaska Reviere von über 6000 Quadratkilometern ermittelt. Mit der Wahl der Reviergröße wird sichergestellt, dass für alle Rudelmitglieder ausreichend Futter vorhanden ist.

In der Nähe von menschlichen Siedlungen, wie einige Vorfälle neueren Datums zeigen, erbeuten Wölfe auch Schafe und sogar Kälber. Sind keine großen Beutetiere verfügbar, wird auch auf Kleinsäuger, Vögel und sogar Frösche zurückgegriffen. Und gibt es gar keine Beutetiere, verschmäht ein hungriger Wolf auch kein Aas oder Abfälle.

Wölfe markieren dabei ihre Reviere regelmäßig durch Duftmarken aus Urin und Kot. Eine weitere Markierung erfolgt oft auf akustischem Weg: Das Rudel heult lautstark gemeinsam. Ein Geheul, das in der russischen Tundra noch auf eine Entfernung von 16 Kilometern zu hören ist. Oft regt das Revierverteidigungsgeheul eines Wolfsrudels das benachbarte Rudel an, ebenfalls ihr Revier akustisch zu verteidigen. Dabei unterscheidet sich das Geheul der einzelnen Rudelmitglieder deutlich in Tonlage und Lautstärke. Will heißen, man kann oft einzelne Wölfe an ihrem Geheul erkennen.

Das Rudel durchstreift mit schöner Regelmäßigkeit sein gesamtes Revier, schließlich gilt es, gerade an den Grenzen des eigenen Territoriums, Präsenz zu zeigen.

Beobachtungen haben gezeigt, dass Wölfe im Schnitt bei diesen Territoriumskontrollwanderungen rund alle 240 Meter eine Markierung absetzen. Lassen sich Wölfe eines benachbarten Rudels von Duftmarken und vom Geheul der Revierinhaber nicht abschrecken und dringen in das „feindliche“ Revier ein, werden sie von den dort heimischen Wölfen im Regelfall sofort attackiert. Wenn es um die Verteidigung von Familie und Revier geht, verstehen Wölfe überhaupt keinen Spaß. Aus diesem Grund enden diese innerartlichen Kämpfe oft tödlich. Nach dem Menschen ist daher der Wolf der größte Feind des Wolfes.

Die Wölfe eines Rudels pflegen übrigens häufig einen engen Körperkontakt miteinander, der vor allem zum Austausch von Informationen dient. Mithilfe der mit sensiblen Tasthaaren ausgestatteten Schnauze, durch Einsatz der Pfoten, Lecken mit der Zunge oder Anstupsen mit der Nase teilen sich Wölfe all das mit, was im sozialen Miteinander im Wolfsleben wichtig ist. Wissenschaftler sprechen hier von einer sogenannten „taktilen Sprache“ – also Kommunikation durch Berührung.

Darüber hinaus arbeiten Wölfe mit einer ausgeprägten Körpersprache. So kann man zum Beispiel im Rudel immer wieder Beschwichtigungsgesten, wie etwa eine geduckte Körperhaltung oder eine eingezogene Rute, beobachten. Auf der anderen Seite sind oft regelrechte Begrüßungszeremonielle zwischen Eltern und Welpen zu sehen, bei denen man sich zärtlich gegenseitig die Schnauze leckt.

Das Familienleben der Tiere

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