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2. Kapitel

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Am Morgen des Ostersonntags verließ Romeo mit seiner Gruppe von vier Männern und drei Frauen in voller Einsatzausrüstung den Kastenwagen. Sie tauchten in den Straßen um den Petersplatz unter und mischten sich unter die festlich herausgeputzte Menge, die Damen in frühlingsfrischen Pastellfarben und operettenhaft eleganten Kirchgangshüten, die schmucken Herren in seidigen, cremefarbenen Anzügen mit gelb gestickten Palmkreuzen auf den Revers. Die Kinder waren sogar noch feiner ausstaffiert, die kleinen Mädchen mit Handschuhen und Rüschenkleidern, die Jungen in marineblauen Kommunionsanzügen und roten Krawatten auf schneeweißen Hemden. Und überall in der Menge erteilten lächelnde Priester den Gläubigen freundlich-herablassend den Segen.

Romeo dagegen wirkte nicht wie ein fröhlicher Pilger, sondern wie ein sehr ernsthafter Zeuge der Auferstehung, die an diesem Ostermorgen gefeiert wurde. Er trug einen stumpfschwarzen Anzug, ein steif gestärktes weißes Hemd und eine reinweiße Krawatte, die sich kaum davon abhob. Seine schwarzen Schuhe hatten Gummisohlen. Jetzt knöpfte er seinen Kamelhaarmantel zu, um das Gewehr zu tarnen, das darunter in einer Spezialschlinge hing. Seit drei Monaten hatte er mit diesem Gewehr trainiert, bis seine Zielsicherheit tödlich war.

Die vier Männer aus seiner Gruppe waren als Kapuzinermönche verkleidet: Sie trugen lange, erdbraune Kutten mit dicken Tuchgürteln. Sie hatten sich eine Tonsur geschnitten, die sie jedoch mit einem Käppchen bedeckten. Unter den weiten Gewändern hatten sie Handgranaten und Faustfeuerwaffen versteckt.

Die drei Frauen, darunter Annee, hatten sich als Nonnen getarnt und trugen ebenfalls Waffen unter dem weiten, schwarzweißen Habit. Während die Menschen ihnen bereitwillig Platz machten, ging Annee mit den beiden anderen Nonnen voran, damit Romeo ihnen problemlos folgen konnte. Hinter Romeo kamen die vier Mönche der Gruppe, die die Umgebung im Auge behielten und jederzeit zum Eingreifen bereit waren, falls Romeo von der päpstlichen Wache angehalten werden sollte.

So gelangte Romeos Gruppe allmählich zum Petersplatz, ohne in der riesigen Menge, die sich dort sammelte, aufzufallen. Und schließlich blieben sie, dunklen Korken gleich, die auf einem Meer geblümter Seide tanzen, auf der gegenüberhegenden Seite des Platzes so stehen, daß ihnen die Marmorsäulen und Steinmauern im Rücken Schutz boten. Romeo hielt sich ein wenig abseits. Er wartete auf ein Signal von der anderen Platzseite, wo Yabril und seine Gruppe damit beschäftigt waren, kleine Heiligenfiguren an den Mauern zu befestigen.

Yabril und seine Gruppe von drei Männern und drei Frauen waren zwanglos in besonders weite Jacken gekleidet. Die Männer hatten Faustfeuerwaffen am Körper versteckt, die Frauen hantierten mit den Heiligenfiguren. Diese Figuren, kleine Christusstatuen, waren mit Sprengstoff gefüllt, der auf ein Funksignal hin gezündet werden sollte. An der Rückseite waren sie mit einem so starken Klebstoff bestrichen, daß sie sich nicht einmal durch das Gedränge der Menschen zufällig lösen konnten. Außerdem waren die Figuren wunderschön gestaltet: aus recht kostbar wirkender, weißer, bemalter Terrakotta, die um ein Drahtskelett herumgeformt war. Da sie wie Bestandteile der Osterdekorationen wirkten, galten sie als sakrosankt.

Nachdem alles erledigt war, führte Yabril seine Gruppe durch das Gewühl vom Petersplatz herunter zu seinem eigenen wartenden Kastenwagen. Einen der Männer schickte er zu Romeo, um ihm das Funkgerät zum Auslösen der Sprengsätze zu überbringen. Dann stieg Yabril mit seiner Gruppe in den Kastenwagen und machte sich auf den Weg zum römischen Flughafen. Papst Innozenz sollte erst drei Stunden später auf den Balkon hinaustreten. Sie hatten den Zeitplan perfekt eingehalten.

Im Kastenwagen, abgeschnitten von der Welt des österlichen Rom, dachte Yabril daran zurück, wie dieser ganze Plan entstanden war. Vor wenigen Jahren hatte Romeo bei einem gemeinsamen Auftrag erwähnt, der Papst verfüge über die beste Sicherheitstruppe von allen europäischen Herrschern. Yabril hatte nur gelacht und ihm geantwortet: »Wer will schon einen Papst umbringen? Das ist doch, als wollte man eine ungiftige Schlange töten. Eine nutzlose, alte Galionsfigur mit einem Dutzend nutzloser Greise, die darauf warten, seinen Platz einzunehmen. Verlobte Christi, ein Dutzend Marionetten mit roten Hüten. Was würde sich durch den Tod eines Papstes auf der Welt ändern? Ihn entführen – na ja, das könnte ich mir schon vorstellen; schließlich ist er der reichste Mann der Welt. Aber ihn umbringen wäre nicht mehr als eine in der Sonne dösende Eidechse töten.«

Romeo hatte ihm widersprochen, und seine Argumente faszinierten Yabril. Der Papst werde von Hunderten Millionen Katholiken auf der ganzen Welt verehrt. Und zweifellos sei der Papst ein Symbol für den Kapitalismus, von den christlichen Bourgeoisie-Staaten des Westens unterstützt. Der Papst sei einer der ganz großen Autoritäten im Bauwerk dieser Gesellschaft. Daraus folge, daß ein Attentat auf den Papst ein zutiefst erschütternder psychologischer Schlag für die Welt der Feinde sein würde. Ein Mord am Stellvertreter jenes Gottes auf Erden, an den sie nicht glaubten! Die Königsfamilien von Rußland und Frankreich seien ermordet worden, weil auch sie aus gottgegebener Macht regierten, und diese Morde hätten die Menschheit ein großes Stück weitergebracht. Gott sei ein betrügerischer Trick der Reichen, ein Schwindel für die Armen, und der Papst ein irdischer Statthalter dieser teuflischen Macht. Aber auch das war nur die eine Hälfte der Idee. Yabril erweiterte das Konzept. Nun entwickelte das Unternehmen eine Großartigkeit, die Romeo erschauern ließ und Yabril mit staunender Bewunderung für sich selbst erfüllte.

Romeo war allerdings trotz all seines Geredes und seiner großen Opferbereitschaft nicht das, was Yabril unter einem echten Revolutionär verstand. Yabril hatte die Geschichte der italienischen Terroristen gründlich studiert. Sie waren ausgezeichnet darin, Staatsoberhäupter zu ermorden; sie hatten andächtig die Russen studiert, die nach zahlreichen Versuchen ihren Zaren schließlich doch noch ermordeten, ja, sie hatten von den Russen sogar diesen Namen übernommen, den Yabril verabscheute: Christen der Gewalt.

Einmal hatte Yabril Romeos Eltern kennengelernt: Der Vater ein Taugenichts, ein Parasit an der Menschheit. Ausgestattet mit Chauffeur, Kammerdiener und einem riesigen lammähnlichen Hund, den er als Köder benutzte, um die Damen auf den Boulevards anzumachen. Aber ein Mann mit perfekten Manieren. Es war unmöglich, ihn nicht zu mögen, solange man nicht sein Sohn war.

Und die Mutter? Auch bloß so eine Schönheit des kapitalistischen Systems, nach Geld und Juwelen gierend, eine fromme Katholikin. Wunderschön gekleidet, Zofen im Schlepptau, schritt sie jeden Morgen zur Messe. Um nach getaner Buße für den Rest des Tages ausschließlich ihrem Vergnügen nachzugehen. Genau wie ihr Ehemann war sie genußsüchtig, treulos und ihrem einzigen Sohn Romeo ergeben.

Und nun sollte diese glückliche Familie endlich ihre Strafe bekommen. Der Vater ein Malteserritter, die Mutter täglich in Kommunikation mit Christus und ihr Sohn der Mörder eines Papstes. Welch eine Bosheit, dachte Yabril. Armer Romeo, du wirst eine schlimme Woche erleben, wenn ich dich verrate.

Bis auf die allerletzte Wendung, die Yabril hinzugefügt hatte, kannte Romeo den gesamten Plan. »Genau wie Schach«, erklärte Romeo. »Schach dem König, Schach dem König und schachmatt. Hervorragend!«

Yabril sah auf seine Uhr; noch fünfzehn Minuten. Der Kastenwagen fuhr in gemäßigtem Tempo auf der Autostraße in Richtung Flughafen.

Es wurde Zeit. Er sammelte alle Waffen und Granaten der Gruppe ein und packte sie in einen Koffer. Als der Wagen vor dem Flughafengebäude hielt, stieg Yabril als erster aus. Die übrigen Gruppenmitglieder sollten an einem anderen Eingang abgesetzt werden. Langsam schlenderte Yabril mit dem Koffer durch den Terminal und hielt aufmerksam Ausschau nach getarnten Sicherheitspolizisten. Kurz bevor er den Kontrollpunkt erreichte, betrat er einen Souvenir- und Blumenladen. An einem Haken an der Innenseite der Tür hing ein Schild mit der rot-grünen Aufschrift »Geschlossen«. Es war das verabredete Zeichen dafür, daß er ungefährdet eintreten konnte, und hielt potentielle Kunden fern.

Die Verkäuferin im Laden war eine Wasserstoffblondine mit dickem Make-up und eher gewöhnlichen Zügen, aber mit einer angenehmen, einladenden Stimme und einer üppigen Figur, die durch das schlichte Wollkleid mit dem eng gezogenen Gürtel vorteilhaft betont wurde.

»Tut mir leid«, sagte sie zu Yabril, »aber Sie sehen ja an dem Schild, daß wir geschlossen haben. Heute ist schließlich Ostersonntag.« Aber ihr Ton war freundlich und keineswegs abweisend. Außerdem lächelte sie besonders zuvorkommend.

Yabril antwortete mit seinem Codesatz, der sein Erkennungszeichen war. »Christus ist zwar auferstanden, ich aber muß trotzdem meinen Geschäften nachgehen.«

Sie streckte die Hand aus und nahm ihm der Koffer ab.

»Kommt die Maschine pünktlich?« erkundigte sich Yabril.

»Ja«, sagte die Frau. »Sie haben eine Stunde Zeit. Gibt es irgendwelche Änderungen?«

»Nein«, entgegnete Yabril. »Aber vergessen Sie nicht, daß jetzt alles von Ihnen abhängt.« Damit ging er hinaus. Er hatte die Frau noch nie zuvor gesehen und würde sie auch nie wiedersehen, und sie hatte ausschließlich von dieser einen Phase des Unternehmens Kenntnis. Er warf einen Blick auf die Abflugtafel. Ja, die Maschine würde pünktlich starten.

Die Frau war eines der wenigen weiblichen Mitglieder der Hundert. Sie war vor drei Jahren als Eigentümerin in diesen Laden gesetzt worden und hatte während dieser Zeit voll Umsicht und mit großer Verführungskunst gewisse Kontakte zu Angehörigen des Bodenpersonals von Fluggesellschaften und der Sicherheitspolizei aufgenommen. Ihre Gewohnheit, den Scanner an den Kontrolleingängen zu umgehen, indem sie Fluggästen Pakete in die Maschine nachtrug, hatte sie mit großer Geschicklichkeit eingeführt. Sie tat es oft, aber nicht allzu oft. Im dritten Jahr begann sie ein Verhältnis mit einem der bewaffneten Wachtposten, der sie durch den Eingang ohne Scanner hereinwinkte. Auch an diesem Tag war ihr Liebhaber zur Wache eingeteilt worden; da sie ihm Lunch und eine Siesta im Hinterzimmer ihres Ladens versprochen hatte, hatte er sich freiwillig zum Dienst am Ostersonntag gemeldet.

Nachdem sie den Tisch im Hinterzimmer zum Lunch gedeckt hatte, leerte sie den Koffer und verpackte die Waffen in fröhlich bunte Gucci-Geschenkschachteln. Die Schachteln steckte sie in eine Tragtasche aus violettem Papier und wartete bis zwanzig Minuten vor Abflugzeit. Dann nahm sie die Tragtasche, weil sie so schwer war und sie fürchtete, das Papier könnte zerreißen, in beide Arme und lief schwerfällig damit zu dem Eingang ohne Scanner hinüber. Ihr Liebhaber, der Wachdienst hatte, winkte sie galant durch. Dafür schenkte sie ihm ein strahlend verliebtes und um Entschuldigung bittendes Lächeln. Als sie an Bord der Maschine kam, wurde sie von der Stewardeß erkannt, die sie mit einem lachenden: »Schon wieder mal, Livia?« begrüßte. Livia ging langsam durch die Touristenklasse, bis sie Yabril entdeckte, der mit den drei Männern und drei Frauen seiner Gruppe zusammensaß. Eine der Frauen streckte ihr beide Arme entgegen, um ihr das schwere Paket abzunehmen.

Livia ließ die Tragtasche in die erhobenen Arme gleiten, um die Maschine sofort wieder zu verlassen. In ihren Laden zurückgekehrt, traf sie noch letzte Vorbereitungen für den bevorstehenden Lunch im Hinterzimmer.

Faenzi, der Sicherheitsbeamte, mit dem sie verabredet war, gehörte zu jener prachtvollen Gattung italienischer Männer, die ausschließlich dazu geschaffen scheint, den Frauen möglichst viel Freude zu bereiten. Daß er gut aussah, zählte zu seinen geringsten Vorzügen. Weit wichtiger war, daß er einer von den gutmütigen Männern war, die mit der Anzahl ihrer Talente und der Spannweite ihrer Ambitionen ganz außerordentlich zufrieden sind. Livia hatte ihn fast sofort entdeckt, als er am ersten Arbeitstag seinen Dienst auf dem Flughafen antrat.

Faenzi trug seine Flughafenuniform so stolz wie ein napoleonischer Feldmarschall, sein Schnurrbart war so zierlich und fein wie das Näschen einer Soubrette. Man sah deutlich, daß er von der Bedeutung seines Dienstes, seiner Pflicht gegenüber dem Staat fest überzeugt war. Vorübergehende Frauen betrachtete er mit liebevollen und wohlwollenden Blicken; sie standen unter seinem Schutz. Livia hatte sofort die passende Beute in ihm gewittert. Anfangs behandelte er sie mit betont kindlicher Höflichkeit, der sie jedoch mit ständig wiederholten Schmeicheleien, mit einigen hübschen Geschenken, die auf versteckten Reichtum hinwiesen, und dann sogar kleinen Imbissen am späten Abend in ihrer Boutique ein Ende machte. Inzwischen liebte er sie oder war ihr zumindest so ergeben wie ein Hund seiner nachsichtigen Herrin. Von ihr holte er sich seine Belohnungen.

Und Livia hatte ihre Freude an ihm. Er war ein wundervoller, fröhlicher Liebhaber mit kaum einem ernsthaften Gedanken im hübschen Kopf. Im Bett zog sie ihn bei weitem den finsteren, von Schuldgefühlen und Gewissensbissen geplagten jungen Revolutionären vor, die sie gelegentlich zu sich ins Bett holte, nur weil sie politische Genossen waren.

Er wurde ihr Hätschelkind, das sie liebevoll Zonzi nannte. Als er die Boutique betrat und die Tür hinter sich verschloß, ging sie ihm mit rückhaltloser Zuneigung und offenem Begehren entgegen; dabei hatte sie ein schlechtes Gewissen. Der arme Zonzi! Sobald die Männer der italienischen Anti-Terror-Abteilung sämtlichen erreichbaren Spuren nachgingen, würde ihnen auffallen, daß sie von der Bildfläche verschwunden war. Und Zonzi hatte ganz zweifellos mit seiner Eroberung geprahlt, denn schließlich war sie eine ältere, erfahrene Frau, deren Ehre nicht mehr geschützt werden mußte. Ihr Verhältnis würde ans Licht kommen. Armer Zonzi! Dieser Lunch würde seine letzte glückliche Stunde sein.

Sie liebten sich – rasch und geübt, was sie, froh und begeistert, was ihn betraf. Livia dachte, welch eine Ironie es doch sei, daß dies ein Akt war, den sie aus vollen Zügen genoß und der dennoch ihren Zielen als Revolutionärin diente. Zonzi würde für seinen Stolz und seine Anmaßung, für seine herablassende Liebe zu einer älteren Frau bestraft werden; sie selbst würde einen taktischen und strategischen Sieg erringen. Und dennoch, der arme Zonzi! Wie schön er in seiner Nacktheit war, die olivbraune Haut, die großen Rehaugen und das pechschwarze Haar, der hübsche Schnurrbart, Penis und Hoden so fest wie Bronze. »Ach, Zonzi, Zonzi«, flüsterte sie an seinen Lenden, »vergiß niemals, daß ich dich liebe.« Das war zwar gelogen, würde aber vielleicht sein vernichtetes Ego wieder aufrichten können, wenn er seine Gefängnisstrafe absaß.

Sie verwöhnte ihn mit einer köstlichen Mahlzeit und einer erstklassigen Flasche Wein, dann liebten sie sich abermals. Zonzi kleidete sich an, küßte sie zum Abschied und strahlte, in der festen Überzeugung, so viel Glück durchaus verdient zu haben. Nachdem er fort war, sah sie sich aufmerksam im Laden um. Sie suchte all ihre Habseligkeiten sowie einige zusätzliche Kleidungsstücke zusammen und verstaute sie, ihren Anweisungen entsprechend, in Yabrils Koffer. Nicht die geringste Spur von Yabril sollte zurückbleiben. Zuletzt wischte sie noch alle erkennbaren Fingerabdrücke ab, die sie in der Boutique zurückgelassen hatte, allerdings recht oberflächlich, denn sie würde vermutlich doch nicht alle erwischen. Dann trug sie den Koffer hinaus, verschloß den Laden und verließ den Terminal. Draußen, im hellen Ostersonnenschein, wurde sie von einer Genossin ihrer eigenen Gruppe mit einem Wagen erwartet. Sie stieg ein, gab der Fahrerin einen flüchtigen Begrüßungskuß und sagte fast bedauernd: »Gott sei Dank, das ist vorbei!« Die andere entgegnete: »Ist gar nicht so schlecht gelaufen. Wir haben Geld mit der Boutique verdient.«

Yabril und seine Leute saßen in der Touristenklasse, weil Theresa Kennedy, Tochter des Präsidenten der Vereinigten Staaten, mit ihrem Sicherheitsteam, bestehend aus sechs Secret-Service-Beamten, in der ersten Klasse reiste. Yabril wollte vermeiden, daß die Männer die Übergabe der Geschenkpakete mit den Waffen beobachteten. Außerdem wußte er, daß Theresa Kennedy erst kurz vor dem Start an Bord der Maschine gehen und die Sicherheitsbeamten die Maschine ebenfalls nicht vorzeitig betreten würden, weil man nie wußte, ob Theresa Kennedy es sich nicht noch anders überlegen würde, und weil sie, wie Yabril vermutete, bequem und nachlässig geworden waren.

Die Maschine, ein Jumbo-Jet, war spärlich besetzt. In Italien reisten nicht viele Leute am Ostersonntag, und Yabril fragte sich, warum ausgerechnet die Tochter des Präsidenten etwas Derartiges tun mußte. Schließlich war sie römisch-katholisch, auch wenn sie sich inzwischen zur neuen Religion der linken Liberalen, dieser verächtlichsten aller politischen Gruppierungen, bekannte. Doch die geringe Zahl der Passagiere paßte in seine Pläne; nur einhundert Geiseln waren leichter unter Kontrolle zu halten.

Eine Stunde später, als die Maschine in der Luft war, rutschte Yabril tief in seinen Sitz, während die Frauen das Gucci-Papier von den Waffen rissen. Die drei Männer der Gruppe dienten als Sichtblenden, indem sie sich über die Rücklehnen beugten und sich mit den Frauen unterhielten. Da in ihrer näheren Umgebung keine weiteren Passagiere saßen, bildeten sie einen kleinen, intimen Kreis. Die Frauen reichten Yabril die in Geschenkpapier gewickelten Granaten, die er sich rasch an den Körper hängte. Die drei Männer bekamen die kleinen Faustfeuerwaffen und versteckten sie in ihren Jacken. Yabril nahm sich ebenfalls einen kleinen Revolver, dann bewaffneten sich auch die Frauen.

Als alle fertig waren, hielt Yabril eine Stewardeß an, die durch den Mittelgang kam. Sie sah die Granaten und den Revolver, noch ehe Yabril ihr seine Befehle zuzischte und sie bei der Hand packte. Der Ausdruck des Entsetzens auf ihrem Gesicht, dann des Staunens und schließlich der Angst war ihm vertraut. Lächelnd hielt er ihre schweißfeuchte Hand. Zwei seiner Männer postierten sich so, daß sie die Touristenklasse beherrschten. Yabril betrat, mit der Stewardeß noch an der Hand, die erste Klasse. Die Secret-Service-Beamten entdeckten ihn sofort, registrierten die Granaten, sahen die Schußwaffen. Yabril lächelte ihnen zu. »Bitte, behalten Sie Platz, Gentlemen«, sagte er. Die Präsidententochter wandte langsam den Kopf und blickte Yabril direkt in die Augen. Ihre Miene wurde gespannt, aber nicht ängstlich. Die hat Courage, dachte Yabril, und sie ist hübsch. Eigentlich schade. Er wartete, bis die drei Frauen der Gruppe ihre Posten in der ersten Klasse eingenommen hatten, und befahl dann der Stewardeß, die Tür zum Cockpit zu öffnen. Dabei hatte er das Gefühl, das Hirn eines riesigen Wals zu betreten und damit den übrigen Körper hilflos zu machen.

Als Theresa Kennedy Yabril sah, verkrampfte sich ihr Körper plötzlich unter dem Übelkeit erregenden Gefühl eines unbewußten Erkennens: Er war der Dämon, vor dem man sie gewarnt hatte. Seine schmalen, dunklen Züge verrieten Grausamkeit, der schwere, brutale Unterkiefer machte das Gesicht zur Fratze aus einem Alptraum. Die Granaten, die er an seiner Jacke befestigt hatte und in der Hand trug, sahen aus wie fette grüne Kröten. Dann erblickte sie die drei in dunkle Hosen und weiße Jacken gekleideten Frauen mit den gedrungenen, stahlblauen Schußwaffen in der Hand.

Nach jener ersten, animalischen Angst war Theresa Kennedys zweite Reaktion das Schuldgefühl eines ungehorsamen Kindes. Verdammt, sie hatte ihren Vater in Schwierigkeiten gebracht, jetzt würde sie ihre Security-Leute nie wieder loswerden! Sie sah, wie Yabril, die Stewardeß an der Hand, auf die Cockpittür zuging. Sie wandte den Kopf, um zum Chef ihrer Schutzmannschaft hinüberzusehen, aber der ließ den Blick nicht von den bewaffneten Frauen.

In diesem Moment kam einer von Yabrils Männern mit einer Granate in der Hand in die erste Klasse. Eine der Frauen zwang eine weitere Stewardeß, das Intercom-Mikro zu nehmen. Die Stimme, die über die Lautsprecher kam, zitterte nur ganz leicht. »Alle Passagiere bitte die Sitzgurte schließen! Unsere Maschine ist von einer revolutionären Gruppe gekapert worden. Bitte bewahren Sie Ruhe, und warten Sie weitere Instruktionen ab. Stehen Sie nicht auf. Greifen Sie nicht nach Ihrem Handgepäck. Verlassen Sie unter gar keinen Umständen Ihren Platz. Bitte bewahren Sie Ruhe. Bewahren Sie Ruhe!«

Im Cockpit sah der Pilot die Stewardeß hereinkommen und sagte aufgeregt zu ihr: »He, im Radio wurde eben gemeldet, daß jemand auf den Papst geschossen hat.« Dann entdeckte er Yabril, der hinter der Stewardeß hereinkam, und öffnete den Mund zu einem lautlosen, überraschten »O«.

Worte, gefroren wie in einem Cartoon, dachte Yabril, als er die Hand mit der Granate erhob. Doch der Pilot hatte gesagt: »Auf den Papst geschossen.« Hatte Romeo ihn etwa verfehlt? War sein Plan gescheitert? Wie dem auch sei, Yabril hatte keine Wahl. Er gab dem Piloten den Befehl, Kurs auf den arabischen Staat Sherhaben zu nehmen.

Auf dem Petersplatz ließen sich Romeo und seine Gruppe von dem Menschenmeer bis zu einer von Steinmauern begrenzten Ecke treiben, wo sie eine mörderische Insel bildeten. Annee stand mit unter der Nonnentracht gezücktem Revolver unmittelbar vor Romeo. Sie hatte die Aufgabe, ihn zu decken, ihm Zeit für seinen Schuß zu verschaffen. Die anderen Mitglieder der Gruppe, ebenfalls in Ordensgewändern, bildeten einen Kreis um die beiden, eine Umgrenzung, in deren Schutz ihm genügend Bewegungsspielraum blieb. Bis der Papst kam, mußten sie noch drei Stunden warten.

Romeo lehnte sich an die Mauer, schloß die Augen vor der österlichen Morgensonne und rekapitulierte rasch alle Schritte ihres Einsatzes. Sobald der Papst erschien, würde er dem Genossen zu seiner Linken auf die Schulter tippen. Dieser löste sodann das Funksignal aus, durch das die Heiligenfiguren an der gegenüberliegenden Mauer des Platzes gesprengt wurden. Im Augenblick der Explosion würde er das Gewehr hochreißen und abdrücken. Das Timing mußte haargenau stimmen, damit sein Schuß wie ein Widerhall der anderen Entladungen klang. Dann würde er das Gewehr fallen lassen, Mönche und Nonnen würden einen Kreis um ihn bilden, und alle würden mit den anderen Menschen zusammen fliehen. Da die Figurinen zugleich Rauchbomben waren, würde der Petersplatz in dichte Qualmwolken gehüllt sein. In dem Chaos würde es zur Panik kommen, in deren Schutz sie unbemerkt entkommen konnten. Die Zuschauer in ihrer unmittelbaren Nähe konnten zwar gefährlich werden, weil sie womöglich etwas bemerkten, würden jedoch durch die fliehenden Menschenmassen bald von ihnen getrennt werden. Und jene, die töricht genug waren, neugierig zu sein und lästig zu werden, würden sie einfach niederschießen.

Romeo spürte den kalten Schweiß auf seiner Brust. Die Menge der zahllosen, mit Blumen winkenden Menschen wurde zu einem Meer aus Weiß und Purpur, Pink und Rot. Er staunte über diesen Jubel, diesen Glauben an die Auferstehung, diese ekstatische Hoffnung, dem Tode zum Trotz. Als er sich die Hände an der Außenseite seiner Jacke abwischte, spürte er das Gewicht des Gewehrs in der Schlinge. Seine Beine begannen zu schmerzen und taub zu werden. Um die langen Stunden zu überstehen, die er noch warten mußte, bis der Papst auf dem Balkon erschien, versuchte er seinen Geist aus dem Körper hinaus und in die Vergangenheit wandern zu lassen.

Längst vergessene Szenen der Kindheit stiegen vor seinem inneren Auge auf. Von einem romantischen Priester auf die Kommunion vorbereitet, wußte er, daß sich stets ein Kardinal mit rotem Hut vom Tod des Papstes überzeugte, indem er ihn mit einem Silberhammer auf die Stirn klopfte. Geschah das wirklich noch immer so? Dann würde es diesmal ein sehr blutiger Hammer werden. Aber wie groß war so ein Hammer? Wie ein Spielzeug? Schwer und groß genug, um einen Nagel damit einzuschlagen? Mit Sicherheit aber würde er eine kostbare Antiquität aus der Renaissance sein, juwelenbesetzt, ein echtes Kunstwerk. Wie dem auch sei, vom Kopf des Papstes würde kaum noch genug übrig sein, um mit dem Hammer darauf zu klopfen, denn das Gewehr unter seinem Mantel war mit Explosivgeschossen geladen. Und Romeo war sicher, daß er sein Ziel nicht verfehlen würde. Daß er Linkshänder war, empfand er als Vorteil; als Linkshänder war man überall erfolgreich – im Sport, in der Liebe und nach allen Regeln des Aberglaubens auch beim Morden.

Während des Wartens wunderte sich Romeo darüber, daß er überhaupt nicht das Gefühl hatte, ein Sakrileg zu begehen, denn schließlich war er streng katholisch erzogen worden, noch dazu in einer Stadt, in der jede Straße und jedes Bauwerk an die Anfänge des Christentums erinnerten. Selbst jetzt vermeinte er noch die Kuppeldächer der Gotteshäuser wie Marmorscheiben vor dem Himmel zu sehen, die tiefen, tröstenden und dennoch einschüchternden Glocken der Kirchen zu hören. Auf diesem riesigen, heiligen Platz sah er die Statuen der Märtyrer, atmete er die Luft, die bis zum Ersticken vom Geruch der zahllosen Frühlingsblumen erfüllt war, mit denen jene winkten, die aufrichtig an Christus glaubten.

Der überwältigende Duft der Millionen Blüten, der ihn umfing, erinnerte ihn an seine Eltern und die schweren Parfüms, die sie stets trugen, um den Geruch ihrer verwöhnten und verhätschelten mediterranen Körper zu überdecken.

Und dann begannen die Menschen in ihrem Osterstaat endlich zu rufen: »Papa, Papa, Papa!« Im limonenfarbenen Licht des jungen Frühlings verlangte die Menge unter den Steinengeln unablässig nach dem Segen des Papstes. Nach einer Weile erschienen zwei Kardinäle in roten Roben und breiteten die Arme zum Segen aus. Und dann stand Papst Innozenz auf seinem Balkon.

Er war ein sehr alter Mann, gekleidet in ein Gewand aus glitzerndem Weiß mit einem Goldkreuz auf der Brust und gestickten Kreuzen auf dem wollenen Pallium. Auf dem Kopf trug er ein weißes Käppchen, an den Füßen die traditionell flachen, offenen roten Schuhe mit gestickten Goldkreuzen auf den Spitzen. Als er die Hände hob, um die Menge zu grüßen, glitzerte am Ringfinger seiner rechten Hand der päpstliche Fischerring von St. Peter.

Die Gläubigen warfen Blumen in die Luft, die Stimmen dröhnten wie ein riesiger Motor der Ekstase, der Balkon waberte in der Sonne, als werde er gleich unter dem Blumenregen zusammenbrechen.

In diesem Moment verspürte Romeo die Ehrfurcht, die diese Symbole ihm in der Jugend stets eingeflößt hatten, und dann war er plötzlich von einer Begeisterung erfüllt, die sein ganzes Ich in pure Seligkeit, übermächtigen Stolz emporhob. Erregt tippte er seinem Genossen auf die Schulter, damit dieser das Signal auslöste.

Als Antwort auf die »Papa«-Rufe der Menge hob der Papst die Arme in den weißen Ärmeln, um die Menschen zu segnen, die Osterzeit, die Auferstehung Christi zu preisen und die Steinengel zu grüßen, die von den Mauern ringsum herabblickten. Romeo riß das Gewehr unter dem Mantel hervor, und die beiden Mönche aus seiner Gruppe, die vor ihm standen, knieten nieder, um ihm freies Schußfeld zu schaffen. Annee postierte sich so vor ihn, daß er den Gewehrlauf auf ihre Schulter stützen konnte. Der Genosse hinter ihm gab das Funksignal, das die mit Sprengstoff gefüllten Figurinen auf der anderen Seite des Platzes in die Luft jagte.

Die Explosionen erschütterten den Platz in seinen Grundfesten; eine hellrote Wolke stieg in die Luft, der Duft der Blumen ging unter im Gestank verbrannten Fleisches. Im selben Moment drückte Romeo ab. Die Explosionen auf der anderen Seite des Platzes verwandelten den Willkommensjubel der Gläubigen in das schrille Kreischen ganzer Schwärme von Möwen.

Auf dem Balkon schien sich der Körper des Papstes vom Boden zu heben, das weiße Käppchen flog hoch empor, drehte sich in den heftigen Wirbeln komprimierter Luft und sank als blutiger Fetzen auf die Menge hinab. Ein markerschütternder Schrei des Entsetzens, des Grauens und animalischer Wut erfüllte den Platz, als der Körper des Papstes über dem Balkongeländer zusammensank. Sein goldenes Kreuz pendelte hin und her, das Pallium war von tiefrotem Blut getränkt.

Staubwolken wälzten sich über den Platz. Marmorsplitter von zerschmetterten Engeln und Heiligen regneten herab. Eine furchtbare Stille brach herein; die Menschen erstarrten vor dem Anblick des ermordeten Papstes. Sie sahen deutlich, daß sein Kopf zerfetzt war. Dann setzte die Panik ein. Die Menschen flohen vom Petersplatz, trampelten die Schweizergardisten, die versuchten, die Ausgänge zu sperren, rücksichtslos nieder. Ihre bunten Renaissance-Uniformen wurden unter den Massen entsetzter Gläubiger begraben.

Romeo ließ das Gewehr fallen. Von seinem Kader bewaffneter Mönche und Nonnen umringt, ließ er sich vom Platz auf die Straße bringen. Er schien das Sehvermögen verloren zu haben, stolperte so blind dahin, daß Annee ihn am Arm packen und in den wartenden Lastwagen stoßen mußte. Um die Schreie nicht zu hören, hielt sich Romeo die Ohren zu; erst zitterte er unter Schock, doch dann ergriff ein Gefühl der Ekstase und des Erstaunens von ihm Besitz, als sei das Attentat nur ein Traum gewesen.

In dem Jumbo-Jet, der ursprünglich von Rom nach New York fliegen sollte, hatte Yabril mit seiner Gruppe das Kommando übernommen und alle Passagiere bis auf Theresa Kennedy aus der ersten Klasse entfernen lassen.

Theresa Kennedy war eher interessiert als verängstigt. Fasziniert beobachtete sie, wie mühelos die Hijacker ihre Secret-Service-Beamten einschüchterten, einfach indem sie ihnen die Sprengsätze zeigten, mit denen sie sich von oben bis unten so behängt hatten, daß ein einziger Schuß die ganze Maschine in die Luft gejagt hätte. Wie sie feststellte, waren die drei männlichen und drei weiblichen Terroristen überschlank, mit Gesichtern, die sich unter der Anspannung von Spitzenathleten verzerrten, während unterschiedliche Gefühle den Ausdruck ihrer Züge ständig veränderten. Ein Hijacker beförderte einen ihrer Beschützer mit einem kräftigen Stoß zur ersten Klasse hinaus und weiter durch den Mittelgang der Touristenklasse. Eine der Terroristinnen hielt sich mit gezücktem Revolver im Hintergrund. Als ein Secret-Service-Agent zögerte, den Platz an Theresa Kennedys Seite zu verlassen, hob die Frau ihre Waffe und setzte ihm den Lauf an den Kopf. In ihrem Blick stand unübersehbar der feste Wille, abzudrücken. Die Augen verengten sich, ihre Züge wurden verzerrt und der enorme Zug der Muskeln rings um den Mund bewirkte, daß ihre Lippen die Zähne entblößten. In diesem Moment stieß Theresa Kennedy ihren Beschützer von sich und schob sich selbst vor die Terroristin, die erleichtert lächelte und sie auf ihren Platz zurückwinkte.

Theresa Kennedy beobachtete, wie Yabril den Einsatz leitete. Er wirkte fast so distanziert wie ein Regisseur, der seinen Schauspielern zusieht, schien niemals einen Befehl zu geben, sondern nur Hinweise, Winke, Vorschläge. Wie sie feststellte, benutzte er seine Gruppe wie eine Schlinge, mit der er den Touristen-»Rumpf« in der Maschine vom Kopf trennte. Mit einem angedeuteten, beruhigenden Lächeln bedeutete er ihr, auf ihrem Platz zu bleiben. Es war eine Bewegung, wie sie ein Mann macht, wenn er sich um einen Menschen kümmert, der seiner Obhut anvertraut ist. Dann ging er ins Cockpit zum Piloten. Einer der Hijacker bewachte den Durchgang von der Touristenklasse zur ersten Klasse. Zwei Terroristinnen standen mit gezogenen Waffen Rücken an Rücken bei ihr in der Kabine. Eine Stewardeß bediente das Intercom-Telefon, um unter der Aufsicht des Hijackers Anweisungen an die Passagiere weiterzugeben. Sie alle wirkten viel zu klein, um einen so furchtbaren Terror zu verbreiten.

Im Cockpit erteilte Yabril dem Piloten die Erlaubnis, die Nachricht durchzugeben, daß seine Maschine gekapert worden sei, und den neuen Flugplan nach Sherhaben zu übermitteln. Die amerikanischen Behörden würden glauben, ihr einziges Problem seien Verhandlungen über die üblichen Forderungen arabischer Terroristen. Yabril blieb noch in der Kabine, um den Funkverkehr mitzuhören.

Solange sich die Maschine in der Luft befand, gab es nun nichts anderes mehr zu tun, als zu warten. Yabril träumte von Palästina, wie er es als Kind erlebt hatte, von seinem Zuhause, der grünen Oase in der Wüste, Vater und Mutter Engelsgestalten, dem wunderschönen Koran, der auf dem Schreibtisch des Vaters lag, stets griffbereit, um immer wieder den Glauben zu erneuern. Und wie alles endete, in toten, grauen Rauchwolken, im Feuer und Schwefel der Bomben, die vom Himmel fielen. Dann kamen die Israelis, und ihm schien, als habe er seine gesamte Kindheit in einem großen Gefangenenlager aus baufälligen Hütten verbracht, einer riesigen Siedlung, die nur von einem Gefühl zusammengehalten wurde: dem Haß auf die Juden. Dieselben Juden, die im Koran gepriesen wurden.

Auch daran erinnerte er sich: daß einige Lehrer an der Universität eine verpatzte Arbeit als Araber-Arbeit bezeichnet hatten. Yabril selbst hatte diesen Ausdruck einem Büchsenmacher gegenüber benutzt, der ihm defekte Waffen geliefert hatte. Oh, aber das Werk des heutigen Tages würde kein Mensch als Araber-Arbeit bezeichnen! Er hatte die Juden immer gehaßt. Nein, nicht die Juden – die Israelis. Er wußte noch, wie israelische Soldaten damals, als er höchstens vier oder fünf Jahre alt war, die Lagersiedlung überfielen, in der er zur Schule ging. Sie hatten die falsche Information – Araber-Arbeit – erhalten, daß sich in der Siedlung Terroristen versteckten. Sämtliche Bewohner hatten mit erhobenen Händen die Häuser verlassen und auf die Straße herauskommen müssen. Auch die Kinder in der langgestreckten, gelb gestrichenen Wellblechbaracke, die ein wenig außerhalb der Siedlung lag und ihnen als Schule diente. Yabril und die anderen kleinen Jungen und Mädchen seines Alters hatten sich jammernd, die kleinen Ärmchen mit den winzigen Händen hoch in die Luft gereckt, aneinandergedrängt und den Männern laut ihre Unterwerfung entgegengerufen, ihre furchtbare Angst hinausgeschrien. Und niemals würde Yabril vergessen, wie einer der jungen Israeli-Soldaten, dieser ganz neuen Rasse von Juden, blond wie ein Nazi, die Kinder mit einer Art Horror anstarrte, und wie diesem aus der Art geschlagenen Semiten die Tränen über die weiße Haut liefen. Der Israeli senkte die Waffe und schrie den Kindern zu, sie sollten aufhören, sollten die Hände herunternehmen, sie hätten nichts zu befürchten, so kleine Kinder brauchten keine Angst zu haben. Der Israeli sprach fast perfekt arabisch, und als die Kinder weiter mit hoch erhobenen Armen stehenblieben, ging der Soldat zu ihnen hinüber und versuchte, immer noch weinend, ihre Ärmchen herunterzuziehen. Diesen Soldaten vermochte Yabril nicht zu vergessen, und später faßte er den festen Entschluß, niemals im Leben so zu werden wie er, sich niemals von Mitleid besiegen zu lassen.

Jetzt sah er unter dem Flugzeug die arabische Wüste. Bald würden sie ihr Ziel erreicht haben und im Sultanat Sherhaben landen.

Sherhaben gehörte zu den kleinsten Ländern der Welt, besaß aber einen so immensen Ölreichtum, daß sein kamelreitender Sultan Hunderte von Kindern und Kindeskindern zeugte, die Mercedes fuhren und an den besten ausländischen Universitäten studierten. Der erste Sultan, dem riesige Industriekonzerne in Deutschland und den Vereinigten Staaten gehörten, war als reichster Mann der Welt gestorben. Und nur einer von den vielen Enkeln hatte die mörderischen Intrigen seiner Halbbrüder überlebt und sich zum gegenwärtigen Sultan gemacht: Maurobi.

Sultan Maurobi war ein militanter, fanatisch frommer Moslem, daher waren die Bürger von Sherhaben nicht nur reich, sondern mindestens ebenso fromm. Keine Frau durfte sich ohne Schleier blicken lassen, niemand durfte Geld gegen Zinsen verleihen, und in der ganzen durstigen Wüste gab es nicht einen einzigen Tropfen Alkohol, es sei denn in den ausländischen Botschaften.

Vor langer Zeit hatte Yabril dem Sultan geholfen, seine Macht zu etablieren und zu festigen, indem er vier der gefährlicheren Halbbrüder des Sultans umbrachte. Aufgrund dieser Dankesschuld und aus Haß auf die Großmächte hatte Maurobi sich bereit erklärt, Yabril bei seinem Plan zu helfen.

Die Maschine mit Yabril und den Geiseln an Bord landete und rollte langsam auf den kleinen, verglasten, hellgelb in der Wüstensonne schimmernden Terminal zu. Hinter dem Flugfeld erstreckte sich das endlose, mit zahllosen Bohrtürmen besetzte Meer aus Sand. Als die Maschine zum Stehen kam, erkannte Yabril, daß das Flugfeld von mindestens tausend Soldaten des Sultans umzingelt war.

Nunmehr begann der komplizierteste und befriedigendste Teil des Unternehmens – und der gefährlichste. Bis Romeo endgültig an Ort und Stelle war, mußte Yabril äußerst vorsichtig taktieren. Und wie bei einem Vabanquespiel die erhoffte Reaktion des Sultans auf seinen geheimen und letzten Schachzug abwarten. O nein, dies war gewiß keine Araber-Arbeit.

Wegen des Zeitunterschieds erreichte die erste Nachricht über das Attentat auf den Papst Francis Kennedy am Ostersonntag um sechs Uhr früh. Überbracht wurde sie ihm von Pressesekretär Matthew Gladyce, der im Weißen Haus Feiertagswache hatte. Auch Eugene Dazzy und Christian Klee waren bereits informiert und befanden sich im Weißen Haus.

Francis Kennedy kam die Treppe aus seinen Wohnräumen herab und betrat das Oval Office, wo Dazzy und Christian auf ihn warteten. Beide blickten grimmig drein. Von den Straßen Washingtons drang das langgezogene Heulen der vielen Sirenen herüber. Kennedy nahm an seinem Schreibtisch Platz und sah Eugene Dazzy an, dem es als Stabschef oblag, ihm eine Zusammenfassung der Geschehnisse vorzutragen. Zu Kennedys Überraschung war es jedoch Christian, der als erster das Wort ergriff.

»Francis«, begann er, »der Papst ist tot. Aber wir haben eine Nachricht erhalten, die nicht weniger furchtbar ist. Die Maschine, in der Theresa sitzt, wurde entführt und befindet sich auf dem Flug nach Sherhaben.«

Francis Kennedy spürte, wie eine Woge von Übelkeit in ihm aufstieg. Dann hörte er Eugene Dazzy sagen: »Die Entführer haben alles unter Kontrolle; es hat keine Zwischenfälle in der Maschine gegeben. Sobald sie landet, werden wir verhandeln. Wir werden jede nur mögliche Unterstützung anfordern, es wird alles gut werden. Ich glaube, die wußten nicht mal, daß Theresa in der Maschine saß.«

»Arthur Wix und Otto Gray sind hierher unterwegs«, warf Christian ein. »Ebenso CIA, Verteidigung und Vizepräsident. Sie werden dich in einer halben Stunde im Cabinet Room erwarten.«

»Okay«, antwortete Kennedy und zwang sich zu einem Lächeln.

»Gibt es einen Zusammenhang?«

Wie er feststellte, war Christian nicht überrascht, Dazzy jedoch verstand seine Frage nicht. »Zwischen dem Papst und der Flugzeugentführung«, erklärte Kennedy. Und als keiner von beiden antwortete: »Geht ihr nur schon in den Cabinet Room voraus. Ich möchte ein paar Minuten allein sein.« Sie gingen.

Francis Kennedy selbst war für Attentäter fast unerreichbar, wußte aber, daß er seine Tochter nicht hundertprozentig schützen konnte. Dazu war sie zu selbständig; auf gar keinen Fall hätte sie geduldet, daß man ihr Beschränkungen auferlegte. Und es schien nie eine Gefahr zu bestehen. Er vermochte sich nicht zu erinnern, daß jemals die Tochter eines Staatsoberhauptes angegriffen worden war. Das wäre für jede Terroristen- oder Revolutionsgruppe sowohl politisch als auch, was die Public Relations betraf, äußerst heikel gewesen.

Nach der Amtseinsetzung des Vaters war Theresa eigene Wege gegangen. Um sich soweit wie möglich von ihrem Vater abzugrenzen, unterstützte sie radikale und feministische Gruppen. Er hatte sie niemals zu überreden versucht, ihr Verhalten zu ändern, der Öffentlichkeit ein falsches Bild von ihrer Persönlichkeit zu bieten. Es genügte, daß er sie liebte. Und wenn sie dem Weißen Haus einen kurzen Besuch abstattete, verstanden sie sich immer großartig, diskutierten über Politik und analysierten die zahlreichen Möglichkeiten der Macht.

Die konservative republikanische Presse, die berüchtigten Skandalblätter, hatten natürlich jede Gelegenheit genutzt und hofften, dem Präsidenten damit zu schaden. Theresa wurde fotografiert, wie sie mit Feministinnen marschierte, gegen Atomwaffen demonstrierte und einmal sogar für einen Staat Palästina auf die Straße ging. Dies wiederum würde nunmehr ironische Kolumnen in den Blättern auslösen. Seltsamerweise hatte die amerikanische Öffentlichkeit stets freundlich auf Theresa Kennedy reagiert, selbst als bekannt wurde, daß sie in Rom mit einem italienischen Radikalen zusammenlebte. Es gab Fotos von den beiden, wie sie durch die geschichtsträchtigen Straßen wanderten, sich küßten, Händchen hielten, auf dem Balkon ihrer gemeinsamen Wohnung standen. Der junge Italiener sah gut aus, Theresa Kennedy war hübsch mit ihrem blonden Haar, der milchweißen irischen Haut und den strahlenden Blauaugen der Kennedys. Und ihre fast schlaksige Kennedy-Figur wirkte in der lässigen italienischen Garderobe so attraktiv, daß sie dem Text unter den Fotos das Gift entzog.

Ein Pressefoto von ihr, wie sie ihren jungen italienischen Freund vor den Knüppeln der italienischen Polizei schützte, hatte in älteren Amerikanern atavistische Gefühle geweckt, Erinnerungen an jenen längst vergangenen, schrecklichen Tag in Dallas.

Darüber hinaus war sie auch noch schlagfertig. Während des Wahlkampfes war sie von Fernsehreportern gestellt und gefragt worden: »Sind Sie mit der Politik Ihres Vaters einverstanden?« Hätte sie ja gesagt, man hätte sie als Heuchlerin oder als Kind unter der Fuchtel ihres machtgierigen Vaters bezeichnet. Hätte sie nein gesagt, hätten die Schlagzeilen durchblicken lassen, daß sie ihren Vater bei seinem Kampf um die Präsidentschaft nicht unterstützte. Doch sie bewies die große politische Begabung aller Kennedys. »Gewiß, er ist mein Vater«, antwortete sie und umarmte ihn liebevoll. »Und ich weiß, daß er ein anständiger Mensch ist. Aber wenn er etwas tut, was ich nicht gut finde, werde ich ihm das genauso ins Gesicht schreien, wie ihr Reporter das immer tut.« Es kam auf dem Bildschirm großartig an. Ihr Vater liebte sie dafür. Und nun befand sie sich in Lebensgefahr.

Während er im Oval Office auf und ab ging, wurde Francis Kennedy klar, daß er den Hijackern alles geben würde, was sie verlangten. Das würde er ihnen mitteilen, ganz gleich, was seine Berater sagten. Zum Teufel mit dem politischen Gleichgewicht in der Welt oder den anderen Argumenten. Dies war eine Gelegenheit, da er seine ganze Macht einsetzen würde, koste es, was es wolle. Plötzlich fühlte er sich ein wenig benommen und mußte sich vor banger Furcht auf der Schreibtisch stützen. Schließlich entdeckte er jedoch zu seiner Überraschung, daß das, was er empfand, eindeutig Wut auf seine Tochter war.

Wenn sie nur in seiner Nähe geblieben wäre, wenn sie sich nur wie eine liebende Tochter verhalten und mit ihm im Weißen Haus gelebt hätte, wenn sie nur weniger radikal gewesen wäre – nichts von alledem wäre geschehen. Und warum mußte sie sich einen ausländischen Liebhaber nehmen, einen radikalen Studenten, der den Entführern womöglich die entscheidenden Tips gegeben hatte? Dann mußte er über sich selber lachen. Er verhielt sich genau wie ein erzürnter Vater, der von seinem Kind verlangte, daß es ihm so wenig Sorgen wie möglich machte. Er liebte sie, und er würde sie retten. Dies wenigstens war ein Feind, den er bekämpfen konnte, ganz anders als der lange, qualvolle Tod seiner Frau.

Eugene Dazzy kam herein und berichtete ihm, es sei soweit, er werde im Cabinet Room erwartet.

Als Kennedy eintrat, erhoben sich alle Anwesenden von ihren Plätzen. Er bedeutete ihnen, sich wieder zu setzen, aber sie umringten ihn, wollten ihm ihr Mitgefühl ausdrücken. Kennedy begab sich an die Stirnseite des langen, ovalen Tisches und nahm in dem Sessel in der Nähe des Kamins Platz.

Zwei weiße Kronleuchter hellten das satte Braun der Tischplatte auf, überglänzten das Schwarz der Ledersessel, je sechs auf jeder Seite des Tisches, und der weiteren Sessel entlang der Rückwand. Neben den beiden Fenstern, die auf den Rosengarten hinausgingen, standen zwei Fahnen in ihren Ständern, die gestreifte Flagge der Vereinigten Staaten und die Präsidentenflagge mit hellen Sternen auf tiefblauem Grund.

Die Mitglieder von Kennedys persönlichem Stab nahmen in den Sesseln neben ihm Platz und legten ihre Informationsblätter und Memoranden vor sich auf den Tisch. Weiter unten saßen die Kabinettssekretäre sowie der Chef der CIA, und am anderen Ende des Tisches der Vorsitzende der Stabschefs, ein Army-General in voller Uniform, deren Farben sich bunt von dem Beerdigungs-Schwarz der anderen Herren abhoben. Helen DuPray, Vizepräsidentin und einzige Frau im Raum, saß Kennedy gegenüber am unteren Ende des Tisches. Sie trug ein elegantes dunkelblaues Kostüm mit schneeweißer Seidenbluse. Der Ausdruck in ihrem attraktiven Gesicht war streng. Der Duft des Rosengartens füllte den Raum, drang durch die schweren Gardinen und Vorhänge herein, die vor den Glasscheiben der Türen hingen. Der aquamarinblaue Teppich unter den Vorhängen reflektierte grünes Licht in den Raum.

Theodore Tappey, der CIA-Chef, übernahm die Berichterstattung. Tappey, der weder auffallend wirkte noch politischen Ehrgeiz besaß, war früher FBI-Direktor gewesen. Und hatte die CIA-Regeln niemals mit riskanten, illegalen oder machtbildenden Einfällen strapaziert. Bei Kennedys persönlichem Stab, vor allem aber bei Christian Klee, genoß er großes Ansehen.

»In den wenigen Stunden, die wir bisher hatten, konnten wir einige Fakten erhärten«, begann Tappey. »Das Attentat auf den Papst wurde von einer rein italienischen Gruppe verübt. Theresas Maschine wurde von einem gemischten Team entführt, deren Anführer ein Araber mit Namen Yabril ist. Die Tatsache, daß sich beide Zwischenfälle am selben Tag ereigneten und ihren Ursprung in derselben Großstadt nahmen, scheint Zufall zu sein. Dem wir natürlich immer mißtrauen.«

»Zu diesem Zeitpunkt ist das Attentat auf den Papst zweitrangig«, entgegnete Kennedy leise. »Unsere Hauptsorge gilt der Flugzeugentführung. Sind inzwischen Forderungen gestellt worden?«

»Nein«, antwortete Tappey rasch und fest. »Und das an sich ist schon bedenklich.«

»Setzen Sie Ihre Vermittler auf die Verhandlungen an und unterrichten Sie mich über jeden Schritt persönlich«, befahl Kennedy. Dann wandte er sich an den Außenminister und erkundigte sich:

»Welche Regierungen werden uns helfen?«

»Alle«, antwortete der Minister. »Die anderen arabischen Staaten sind empört; sie finden den Gedanken, daß Ihre Tochter als Geisel genommen wurde, abscheulich. Er verletzt ihr Ehrgefühl, und außerdem denken sie dabei an ihren eigenen Brauch der Blutrache. Ihrer Ansicht nach kann nichts Gutes daraus entstehen. Frankreich unterhält gute Beziehungen zum Sultan und hat sich erboten, für uns Beobachter hinzuschicken. Großbritannien und Israel können nicht helfen, da man ihnen nicht vertraut. Doch bis die Entführer ihre Forderungen stellen, hängen wir sozusagen in der Luft.«

Francis Kennedy wandte sich an Christian. »Was hältst du davon, Chris, daß sie keine Forderungen stellen?«

»Möglicherweise ist es noch zu früh«, gab Christian zurück. »Oder sie haben andere Trümpfe im Ärmel.«

Im Cabinet Room herrschte gespenstisches Schweigen; in dem Dunkel, das durch die vielen schweren Sessel entstand, ließen die weißen Lichtkegel an den Wänden die Gesichter der Menschen im Raum hellgrau erscheinen. Kennedy wartete darauf, daß sie etwas sagten, einer nach dem anderen, und schloß seine Gedanken aus, während sie von Optionen redeten, der Androhung von Sanktionen, der Androhung einer Seeblockade, dem Einfrieren des Sherhaben-Vermögens in den Vereinigten Staaten, von der Vermutung, die Hijacker wollten die Verhandlungen endlos hinauszögern, um möglichst viele Fernseh- und Zeitungsberichte auf der ganzen Welt für sich verbuchen zu können.

Nach einer Weile wandte sich Francis Kennedy an Oddblood Gray und sagte kurz: »Setzen Sie für mich und meinen Stab eine Zusammenkunft mit den führenden Kongreßmitgliedern und den entsprechenden Ausschußvorsitzenden an.« Anschließend wandte er sich an Arthur Wix. »Sie lassen Ihre Nationale Sicherheit Pläne für den Fall ausarbeiten, daß die Sache größere Ausmaße annimmt.« Dann erhob sich Kennedy und sagte zu allen: »Helen, Gentlemen, ich muß Ihnen gestehen, daß ich nicht an Zufall glaube. Ich glaube nicht daran, daß der Papst der römisch-katholischen Kirche rein zufällig am selben Tag und in derselben Stadt ermordet werden kann, an dem und wo die Tochter des Präsidenten der Vereinigten Staaten entführt wird.«

Es wurde ein langer Ostersonntag. Das Weiße Haus füllte sich mit den Angehörigen der verschiedenen von CIA, Army und Navy und dem State Department eingerichteten Aktionsausschüsse. Sie alle erklärten einhellig, der verblüffendste Faktor sei, daß die Terroristen noch keine Forderungen für die Freilassung der Geiseln gestellt hätten.

Draußen auf den Straßen staute sich der Verkehr. Von allen Seiten strömten Presse- und Fernsehreporter nach Washington. Regierungsangestellte waren trotz des Osterfeiertags an ihre Schreibtische beordert worden. Und Christian Klee hatte tausend zusätzliche Männer von Secret Service und FBI angefordert, um das Weiße Haus doppelt und dreifach bewachen zu lassen.

Der Telefonverkehr im Weißen Haus nahm drastisch zu. Überall ging es zu wie in einem Tollhaus, Menschen hasteten hin und her, vom Weißen Haus ins Executive Office Building und zurück. Eugene Dazzy versuchte das Ganze irgendwie in den Griff zu kriegen.

Der Rest dieses Sonntags im Weißen Haus bestand aus Berichten, die Kennedy vom Lageraum erhielt – langen, ernsten Erwägungen aller Möglichkeiten, die ihnen offenstanden, Telefongesprächen zwischen ausländischen Staatsoberhäuptern und den Kabinettsmitgliedern der Vereinigten Staaten.

Am späten Sonntagabend nahm der Stab mit dem Präsidenten das Dinner ein und bereitete sich auf den folgenden Tag vor. Gemeinsam sahen sie sich die Nachrichten im Fernsehen an, die pausenlos über den Bildschirm liefen.

Endlich entschloß sich Kennedy, schlafen zu gehen. Ein Secret-Service-Beamter stieg vor dem Präsidenten die schmale Treppe zu seinen Privaträumen im dritten Stock des Weißen Hauses empor. Ein weiterer Secret-Service-Beamter folgte ihnen. Beide Männer wußten, daß Kennedy nicht gern die Fahrstühle des Weißen Hauses benutzte.

Die Treppe führte in einen Vorraum mit Telefonzentrale und zwei weiteren Secret-Service-Beamten. Erst wenn Kennedy diesen Vorraum durchquert hatte, befand er sich in seinen Privaträumen, wo nur seine persönlichen Angestellten um ihn waren: eine Haushälterin, ein Butler und ein Kammerdiener, der sich um die umfangreiche Garderobe des Präsidenten kümmerte.

Was Kennedy allerdings nicht wußte, war, daß diese persönlichen Dienstboten ebenfalls zum Secret Service gehörten. Das war von Christian Klee so arrangiert worden und gehörte zu seinem großangelegten Plan, den Präsidenten vor jedem persönlichen Schaden zu bewahren. Es war Bestandteil eines ausgeklügelten Schutzschildes, mit dem Christian Klee ihn unauffällig umgeben hatte.

Als Christian dem Sicherheitssystem diese besondere Nuance hinzufügte, hatte er sich seine Spezialtruppe aus Secret-Service-Männern und -Frauen persönlich vorgenommen. »Sie alle werden die verdammt noch mal besten Dienstboten der Welt werden, so gut, daß Sie anschließend sofort einen Job im Buckingham Palace annehmen könnten. Vergessen Sie niemals, daß Ihre erste Pflicht darin besteht, eventuelle Kugeln abzufangen, die auf den Präsidenten abgefeuert werden. Aber ebenso ist es Ihre Pflicht, das Privatleben des Präsidenten möglichst angenehm zu gestalten.«

Chef der Spezialtruppe war der Kammerdiener, der an diesem Abend Dienst hatte. Nach außen hin war er ein schwarzer Marine-Steward namens Jefferson im Rang eines Stabsbootsmannes. In Wirklichkeit gehörte er zu den obersten Rängen des Secret Service und hatte eine ausgezeichnete Nahkampfausbildung genossen. Er war ein geborener Athlet und auf dem College All-American-Footballer gewesen. Sein IQ betrug 160. Außerdem verfügte er über einen gewissen Humor, der es ihm erlaubte, ein ganz besonderes Vergnügen an der Rolle des perfekten Dieners zu empfinden.

Jetzt half er Kennedy aus dem Jackett, das er anschließend sorgfältig aufhängte. Er reichte ihm einen seidenen Hausmantel, hatte aber lernen müssen, daß sich der Präsident auf gar keinen Fall hineinhelfen lassen mochte. Als Kennedy auf die kleine Bar im Wohnzimmer der Suite zusteuerte, war Jefferson schon vor ihm da und mixte ihm einen Wodka mit Tonic und Eis. Dann sagte Jefferson zu ihm: »Mr. President, Ihr Bad ist eingelassen.«

Kennedy musterte ihn mit einem kleinen Lächeln. Jefferson war ein bißchen zu gut, um echt zu sein. »Bitte, stellen Sie alle Telefone ab«, sagte Kennedy. »Wenn ich gebraucht werde, können Sie mich persönlich wecken.«

Fast eine halbe Stunde lang blieb er im heißen Wasser liegen. Die Wanne war mit Jetstrahlen ausgerüstet, die ihm Rücken und Hüften massierten und die Müdigkeit aus seinen Muskeln vertrieben. Das Badewasser verströmte einen angenehm maskulinen Duft, und die Ablage rings um die Wanne war angefüllt mit Seifen, Linimenten und Zeitschriften. Sogar einen Plastikkorb mit einem Stoß Memos gab es darunter.

Als Kennedy aus der Wanne gestiegen war, zog er einen weißen Frotteemantel an, auf den in Rot-Weiß-Blau THE BOSS gestickt war: ein Geschenk von Jefferson persönlich, der überzeugt war, es passe zu seiner Rolle als Kammerdiener, seinem Herrn ein derartiges Geschenk zu machen. Francis Kennedy rieb sich den weißen, nahezu haarlosen Körper mit dem Mantel trocken und fand, er müsse endlich mal in den Süden fahren, um sich eine gesunde Bräune zuzulegen. Er war stets unzufrieden gewesen mit seiner bleichen Haut und der fehlenden Körperbehaarung.

Im Schlafzimmer hatte Jefferson die Vorhänge geschlossen, die Leselampe eingeschaltet und die Bettdecke zurückgeschlagen. Neben dem Bett stand ein kleiner fahrbarer Tisch mit Marmorplatte und ein bequemer Lehnsessel. Auf dem Tischchen lag eine wunderschöne bestickte hellrosa Decke, auf der ein dunkelblauer Krug mit heißer Schokolade stand. In einer hellblauen Tasse dampfte bereits eingeschenkte Schokolade. Das dazugehörige Silber war so blank poliert, daß es wie schweres Elfenbein wirkte. Außerdem gab es eine weiße Dose mit salzloser Butter und vier verschiedenfarbige Dosen mit unterschiedlichen Marmeladen – Grün für Apfel, Blau mit weißen Tupfen für Himbeer, Gelb für Orangen und Rot für Erdbeer.

»Sieht köstlich aus«, lobte Kennedy, und Jefferson verließ das Zimmer. Aus irgendeinem Grund wirkten diese kleinen Aufmerksamkeiten weit tröstlicher auf Kennedy, als er es für gut hielt. Er setzte sich in den Sessel, trank die Schokolade und versuchte einen Keks zu essen, brachte es aber nicht fertig. Also schob er das Tischchen von sich und stieg ins Bett. Er begab sich daran, einen Stoß Memos zu lesen, war aber zu erschöpft. Schließlich knipste er das Licht aus und versuchte zu schlafen.

Trotz der dämpfenden Vorhänge konnte er ganz schwach einen winzigen Rest des ungeheuren Lärms vernehmen, der draußen vor dem Weißen Haus immer stärker wurde. Die Medien der ganzen Welt versammelten sich hier, um vierundzwanzig Stunden am Tag Wache zu halten. Hunderte von Ü-Wagen, Fernsehkameras und Crews sowie ein Bataillon Marines als zusätzlicher Schutz.

Francis Kennedy wurde von einem Gefühl schlimmer Vorahnungen geplagt, das er bisher nur einmal erlebt hatte. Er ließ die Gedanken uneingeschränkt zu seiner Tochter Theresa wandern, die jetzt, von mordlustigen Männern umgeben, in jener Maschine schlief. Und das war kein unglücklicher Zufall. Das Schicksal hatte ihm zahlreiche Warnungen zukommen lassen. Seine beiden Onkels waren ermordet worden, als er noch ein Kind war. Und dann war vor drei Jahren seine Frau Catherine an Krebs gestorben.

Seine erste große Niederlage erlebte Francis Kennedy, als Catherine sechs Monate, bevor ihr Mann die Präsidentschaftswahl gewann, den Knoten in ihrer Brust entdeckte. Nachdem der Krebs diagnostiziert worden war, erklärte sich Francis Kennedy spontan bereit, sich aus der Politik zurückzuziehen, aber sie verbot es ihm. Sie wollte unbedingt im Weißen Haus wohnen, erklärte sie ihm. Sie werde gesund werden, behauptete sie, und er glaubte ihr. Anfangs machten sie sich Sorgen darüber, daß sie eine Brust verlieren könne, deswegen erkundigte sich Francis Kennedy bei Krebsspezialisten aus der ganzen Welt, ob man den Knoten nicht operativ entfernen könne, ohne die Brust amputieren zu müssen. Schließlich ging er mit Catherine zu einem der berühmtesten Krebsspezialisten der Vereinigten Staaten. Nachdem der Arzt Catherines Krankengeschichte studiert hatte, riet er zur Entfernung der Brust. Er sagte – und diese Worte sollte Francis Kennedy niemals vergessen: »Es handelt sich um einen sehr aggressiven Krebszellenstamm.«

Im Juli, als er die Wahlen der Demokratischen Partei zum Präsidentschaftskandidaten gewann, hatte Catherine die Chemotherapie beendet, und die Ärzte schickten sie nach Hause. Sie befand sich im Remissionsstadium. Sie nahm zu, und ihre Knochen verschwanden wieder unter dem Fleisch.

Seine Frau ruhte viel und konnte das Haus nicht verlassen, war aber immer da, ihn zu begrüßen, wenn er nach Hause kam. Theresa kehrte in die Schule zurück, Francis Kennedy setzte seine politische Karriere fort und bewarb sich um die Präsidentschaft, richtete seinen Terminplan allerdings so ein, daß er alle paar Tage zu Catherine nach Hause fliegen konnte. Jedesmal, wenn er heimkehrte, schien sie wieder mehr Kraft zurückgewonnen zu haben, und diese Tage waren wunderbar, noch nie hatten sie sich so sehr geliebt. Er brachte ihr Geschenke mit, sie strickte ihm Schals und Handschuhe, und einmal gab sie den Pflegerinnen und Dienstboten den ganzen Tag frei, damit sie mit ihrem Mann allein im Haus war und sie ihm ein einfaches Essen zubereiten konnte. Sie würde wieder gesund werden.

Es war der glücklichste Augenblick seines Lebens, und nichts konnte sich daran messen. Francis Kennedy vergoß Freudentränen, so erleichtert war er darüber, daß sie endlich von Angst und Furcht befreit waren. Am nächsten Morgen ging er mit ihr, den Arm um ihre Taille gelegt, in den grünen Hügeln rings um das Haus spazieren. Wieder zu Hause, machte er ihr das Frühstück, und sie aß herzhaft, mehr als er sie jemals hatte essen sehen. Denn was ihre äußere Erscheinung betraf, so war sie schon immer sehr eitel gewesen, achtete darauf, daß sie in ihre neuen Kleider und Badeanzüge paßte und sich keine Fettpölsterchen bildeten. Nun aber wollte sie zunehmen. Wenn sie Arm in Arm spazierengingen, spürte er jeden Knochen in ihrem Körper.

Catherines Remissionsphase schenkte Francis Kennedy die Kraft, sich zum Gipfel der Macht emporzuschwingen und seinen Präsidentschaftswahlkampf fortzusetzen. Er riß alle Menschen mit: Er war geistreich, er war charmant, er war aufrichtig, er stellte den Kontakt mit seinen Wählern her, und die Wahlergebnisse zeigten, daß er meilenweit vorn lag. Er übertrumpfte seine Gegner bei Debatten, vernichtete sie mit seinen Strategien, entschlüpfte geschickt den Fallen der Medien, besiegte seine Feinde, band seine Verbündeten an sich. Alles war machbar, ließ sich zugunsten seines großen Zieles einsetzen. Sein Körper entwickelte eine enorme Energie, sein Verstand arbeitete mit unerhörter Präzision.

Und dann wurde er bei einem seiner Besuche zu Hause in schwärzeste Verzweiflung gestürzt: Catherine war wieder krank, sie war nicht da, ihn zu begrüßen. Und trotz all seiner Gaben und seiner Kraft vermochte er nichts dagegen zu tun.

Catherine war die perfekte Ehefrau für ihn gewesen. Kein außergewöhnlicher Mensch, aber sie hatte zu jenen Frauen gehört, denen die Kunst der Liebe anscheinend schon in die Wiege gelegt wird. Sie besaß eine offenbar angeborene Warmherzigkeit des Wesens und des Charakters, die außergewöhnlich war. Nie hörte er sie ein schlechtes Wort über einen anderen Menschen äußern, sie verzieh den Menschen ihre Fehler und fühlte sich niemals gekränkt oder ungerecht behandelt. Sie kannte keine Ressentiments.

Sie war in jeder Hinsicht liebenswert. Ihr Körper war geschmeidig, ihre Züge waren von einer ruhigen Schönheit, die in nahezu jedem Menschen Zuneigung weckte. Natürlich hatte sie auch Schwächen: Sie liebte schöne Kleider und war sogar ein wenig eitel. Aber darüber konnte man sich ungestraft ein bißchen lustig machen. Sie war geistreich, ohne verletzend oder bissig zu sein, und sie war nie deprimiert. Sie hatte eine erstklassige Ausbildung genossen und vor der Ehe als Journalistin gearbeitet, aber sie besaß noch andere Fähigkeiten. Sie war eine gute Amateurpianistin und Hobbymalerin. Sie hatte ihre Tochter gut erzogen, und die beiden liebten einander; sie zeigte Verständnis für ihren Mann und neidete ihm seine Erfolge nicht. Sie war eines jener Wesen, die es nur selten gibt: ein zufriedener, glücklicher Mensch. Und daher das Kostbarste in seinem Leben.

Es kam der Tag, da der Arzt Francis Kennedy auf dem Krankenhausflur anhielt und ihm offen und rückhaltlos erklärte, daß seine Frau sterben müsse, daß es in diesem Fall keine Berufung bei einem höheren Gericht, keine Wiederaufnahme des Verfahrens, keine mildernden Umstände gebe. Das Urteil über sie war endgültiger als über jeden Mörder.

Der Arzt erklärte es ihm. Die Knochen in Catherine Kennedys Körper seien porös, ihr Skelett werde einfach in sich zusammenbrechen. Im Gehirn hatten sich Tumoren gebildet, winzig noch, aber irreparabel wachsend. Und ihr Blut produzierte Gifte, die unausweichlich zum Tode führen würden.

Seiner Frau vermochte Francis Kennedy das nicht zu sagen, weil er selbst nicht daran glauben konnte. Er bediente sich all seiner Möglichkeiten, nahm mit all seinen einflußreichen Freunden Kontakt auf und befragte sogar das Orakel. Aber es gab nur eine einzige, winzige Hoffnung. In den Forschungslabors verschiedener medizinischer Zentren in den Vereinigten Staaten existierten Programme zur Erprobung neuer und gefährlicher Drogen, Experimentalprogramme ausschließlich für Menschen, die für unheilbar erklärt worden waren. Da diese neuen Drogen lebensgefährlich toxisch waren, wurden sie nur an Freiwilligen erprobt. Aber es gab so viele zum Tode Verurteilte, daß es für jede Planstelle in den Programmen hundert Freiwillige gab.

Also entschloß sich Francis Kennedy zu einem Schritt, den er normalerweise als unmoralisch verurteilt hätte: Er benutzte seine Macht, um seine Frau in diese Forschungsprogramme zu schleusen, setzte alle Beziehungen ein, damit Catherine diese tödlichen und doch lebensbewahrenden Gifte verabreicht werden konnten. Und er hatte Erfolg. Er verspürte neue Hoffnung. Einige Patienten waren in diesen Forschungszentren geheilt worden, warum also nicht auch seine Frau? Warum sollte er sie nicht retten können? Er hatte sein Leben lang gesiegt und würde auch diesmal wieder obsiegen.

Damit begann eine Zeit der Finsternis. Anfangs war es ein Forschungsprogramm in Houston, wo er sie in ein Krankenhaus brachte und während der Behandlung bei ihr blieb – einer Behandlung, die sie so sehr schwächte, daß sie hilflos ans Bett gefesselt war. Sie zwang ihn, sie allein zu lassen, damit er den Wahlkampf weiterführen konnte. Von Houston flog er nach Los Angeles, um seine Wahlreden zu halten – selbstsicher, geistreich, fröhlich. Am späten Abend flog er dann wieder nach Houston, um ein paar Stunden mit seiner Frau zu verbringen. Dann flog er zum nächsten Wahlkampftermin, um dort die Rolle des Gesetzgebers zu spielen. Die Behandlung in Houston schlug nicht an. In Boston schnitten sie ihr einen Tumor aus dem Gehirn, und die Operation verlief erfolgreich, obwohl die Tests ergaben, daß es ein bösartiger Tumor war. Bösartig waren auch die neuen Tumoren in ihrer Lunge. Wie die Röntgenaufnahmen ergaben, waren ihre Knochen noch poröser geworden. In einem anderen Bostoner Krankenhaus bewirkten dann neue Drogen und Versuche ein Wunder: Der neue Tumor im Gehirn hörte auf zu wachsen, die Tumoren in ihrer zweiten Brust schrumpften. Jeden Abend kam Francis Kennedy von seinen Wahlkampfplätzen aus herübergeflogen, um ein paar Stunden mit ihr zu verbringen, ihr vorzulesen, mit ihr zu scherzen. Manchmal kam Theresa Kennedy mit dem Flugzeug aus der Schule in Los Angeles, um die Mutter zu besuchen. Vater und Tochter dinierten zusammen, besuchten anschließend die Patientin in ihrem Krankenzimmer und saßen mit ihr im Dunkeln zusammen. Theresa erzählte lustige Geschichten aus der Schule. Francis Kennedy berichtete von seinen Erlebnissen während des Wahlkampfes um die Präsidentschaft. Catherine Kennedy lachte.

Natürlich erbot sich Francis Kennedy abermals, den Wahlkampf aufzugeben, um bei seiner Frau bleiben zu können. Natürlich wollte Theresa Kennedy die Schule verlassen, um sich ständig um ihre Mutter zu kümmern. Catherine Kennedy lehnte jedoch beide Angebote ab: Sie könne es nicht ertragen, wenn sie das täten; sie werde vermutlich lange krank sein; sie müßten ihr Leben weiterführen; nur das könne ihr Hoffnung geben, nur das ihr die Kraft verleihen, diese Qualen zu ertragen. In diesem Punkt ließ sie nicht mit sich reden. Sie drohte, das Krankenhaus zu verlassen und nach Hause zurückzukehren, wenn sie nicht weitermachten, als sei alles normal.

Während der Nacht, auf den langen Flügen zu seiner Frau, konnte Francis Kennedy über ihr Durchhaltevermögen nur staunen. Catherine Kennedy, deren Körper mit chemischen Giften vollgepumpt war, mit denen die Gifte ihres Körpers bekämpft werden sollten, klammerte sich fanatisch an ihren Glauben, daß sie gesund werden würde, und daß die beiden Menschen, die sie am meisten auf der Welt liebte, nicht mit ihr zusammen untergehen mußten.

Schließlich schien der Alptraum ein Ende zu nehmen. Sie kam wieder in eine Remissionsphase. Francis Kennedy durfte sie nach Hause holen. Sie waren überall in den Vereinigten Staaten gewesen; in sieben verschiedenen Krankenhäusern mit ihren unterschiedlichen experimentellen Therapien hatte sie gelegen, und die Flut der Chemikalien schien ihre Wirkung getan zu haben. Francis Kennedy war überglücklich, weil er wieder einmal Erfolg gehabt zu haben schien. Er holte seine Frau nach Los Angeles zurück, und eines Abends, bevor er den Wahlkampf wiederaufnahm, ging er mit Catherine und Theresa essen. Es war ein zauberhafter Sommerabend, die weiche, laue Luft Kaliforniens streichelte ihre Haut. Dabei kam es jedoch zu einem merkwürdigen Zwischenfall: Als ein Kellner nur einen winzigen Tropfen Sauce auf den Ärmel von Catherine Kennedys neuem Kleid fallen ließ, brach sie in Tränen aus und fragte, als der Kellner fort war: »Warum mußte er mir das antun?« Es war ein völlig uncharakteristisches Verhalten für sie, die früher über so etwas nur gelacht hätte. Und Francis Kennedy beschlich ein seltsames Gefühl böser Vorahnungen. Sie hatte die Qualen so vieler Operationen ertragen, die Entfernung ihrer Brust, die Exzision ihres Gehirntumors, die Schmerzen der wachsenden Tumoren, und hatte weder geweint noch sich beklagt. Doch nun schien dieser Fleck auf ihrem Ärmel ihr beinah das Herz zu brechen. Sie war untröstlich.

Am Tag darauf mußte Francis Kennedy zum Wahlkampf nach New York fliegen. Am Morgen machte ihm Catherine das Frühstück. Sie strahlte und schien jetzt, da der feine Knochenbau ihres Gesichts nur noch von Haut bedeckt war, schöner denn je zu sein. Alle Zeitungen brachten Umfragen, die bewiesen, daß Francis Kennedy mit Abstand führte, daß er die Präsidentschaftswahl gewinnen würde. Catherine Kennedy las sie ihm laut vor. »O Francis«, sagte sie, »wir werden im Weißen Haus wohnen, und ich werde eigene Dienstboten haben. Und Theresa kann ihre Freundinnen übers Wochenende und für die Ferien einladen. Stell dir vor, wie glücklich wir sein werden! Und ich werde niemals wieder krank werden. Das verspreche ich dir. Du wirst Großes erreichen, Francis, das weiß ich genau.« Sie nahm ihn in die Arme und weinte vor Glück und Liebe. »Ich werde dir dabei helfen«, sagte Catherine. »Wir werden gemeinsam durch die vielen schönen Räume wandern, und ich werde dir helfen, deine Pläne zu schmieden. Du wirst der größte aller Präsidenten werden. Es wird mir gutgehen, Liebling, und ich werde sehr viel zu tun haben. Wir werden ja so glücklich sein! Wir werden gut sein. Wir haben Glück. Haben wir nicht großes Glück?«

Sie starb im Herbst, der Oktoberhimmel wurde ihr Leichentuch. Francis Kennedy stand zwischen den verblassenden grünen Hügeln und weinte. Silbrige Bäume säumten den Horizont, als er in tiefem Schmerz die Augen mit den Händen bedeckte, um die Welt ringsum auszuschließen. In diesem lichtlosen Moment fühlte er, wie ihm das Herz brach.

Und er hatte eine unersetzliche Energiequelle verloren. Zum erstenmal im Leben war seine überragende Intelligenz ohne Bedeutung, war sein Reichtum ohne Bedeutung. Er hatte seine Frau nicht vor dem Tod retten können, und alles andere wurde unwichtig.

Als er die Hände von den Augen nahm, mußte er mit unmenschlicher Willenskraft gegen dieses große Nichts ankämpfen. Er ordnete, was ihm von seiner Welt geblieben war, und sammelte Kraft für den Kampf gegen die Trauer. Es war nur noch ein knapper Monat bis zur Wahl, und so rüstete er sich für eine letzte Kraftprobe.

Ins Weiße Haus hielt er ohne seine Frau Einzug, allein mit seiner Tochter Theresa. Theresa, die sich Mühe gab, glücklich zu wirken, aber die ganze erste Nacht hindurch weinte, weil ihre Mutter nicht bei ihnen sein konnte.

Und nun, drei Jahre nach dem Tod seiner Frau, lag Francis Kennedy, Präsident der Vereinigten Staaten und einer der mächtigsten Männer auf Erden, allein im Bett, bangte um das Leben seiner Tochter und konnte nicht schlafen. Es war der Fluch der Mächtigen, niemals die Gnade dieser barmherzigen Zuflucht zu finden.

Da ruhiger Schlaf unmöglich war, versuchte er die furchtbare Angst zu verdrängen, die ihn am Schlafen hinderte. Die Entführer werden es nicht wagen, meiner Tochter etwas anzutun, redete er sich ein, Theresa wird heil und gesund nach Hause kommen. In diesem Fall war er nicht machtlos, brauchte er sich nicht auf die schwachen, fehlbaren Götter der Medizin zu verlassen, mußte er nicht die schrecklichen, unüberwindlichen Krebszellen bekämpfen. Nein. Das Leben seiner Tochter vermochte er zu retten. Er konnte die Macht seines Landes ausspielen, sich auf dessen Autorität berufen, sich weigern, den Papstmörder nach Italien zurückzuschicken. Alles lag in seiner Hand, und zum Glück kannte er politisch keine Skrupel. Seine Tochter war der einzige Mensch auf Erden, den er von Herzen liebte. Er würde sie retten!

Plötzlich aber drohte ihm vor Angst, einer Woge entsetzlicher Angst, das Herz stehenzubleiben, und er schaltete die Lampe über seinem Kopf ein. Er stand auf und setzte sich in den Sessel, zog das Marmortischchen heran und trank den Rest der kalt gewordenen Schokolade in seiner Tasse.

Er war überzeugt, die Maschine sei entführt worden, weil seine Tochter an Bord war. Die Entführung war gelungen, weil jede etablierte Macht einigen entschlossenen, skrupellosen und möglicherweise idealistischen Terroristen gegenüber hilflos war. Und dahinter stand der Gedanke, daß er, Francis Kennedy, als Präsident der Vereinigten Staaten das prominenteste Symbol einer etablierten Macht war. Durch seinen Wunsch, Präsident der Vereinigten Staaten zu werden, war also er, Francis Kennedy, dafür verantwortlich, daß seine Tochter in Gefahr geraten war.

Wieder hörte er die Worte des Arztes: »Es ist ein äußerst aggressiver Krebszellenstamm«, aber erst jetzt verstand er sie. Alles war gefährlicher, als es schien. Dies war eine Nacht zum Planen. Zum Planen einer Verteidigung. Er war mächtig genug, das Schicksal zu wenden. Und mit Sicherheit würde in dieser Nacht kein Schlaf in die mit so vielen Minen gespickten Kammern seiner Gedanken einziehen.

Was hatte er sich gewünscht? Den Namen Kennedy erfolgreicher zu machen? Aber er war nur ein Cousin. Wieder erinnerte er sich an Großonkel Joseph Kennedy, den legendären Schürzenjäger und Goldmacher, mit einem Verstand, so wach für den Augenblick, aber so blind für die Zukunft. Seine Erinnerungen an Old Joe waren liebevoll, obwohl der Alte, politisch gesehen, Francis Kennedys rechtsgerichteter Gegner gewesen wäre, hätte er jetzt noch gelebt. Doch Großonkel Joe hatte Francis Kennedy zu seinen Kindergeburtstagen Goldstücke geschenkt und einen Treuhandfonds für ihn eingerichtet, obwohl Francis nur ein armer Verwandter war. Welch ein selbstsüchtiges Leben dieser Mann doch geführt hatte, mit all den Hollywoodstars, die er gebumst, und seinen Söhnen, die er nach oben gehievt hatte! Auch wenn er ein politischer Dinosaurier gewesen war. Und welch ein tragisches Ende für ihn! Ein glückliches Leben bis fast zuletzt. Dann kamen die Attentate auf die beiden Söhne – so jung und schon so hoch gestiegen –, und der Alte war vernichtet. Es war ein letzter Schlag, der sein Gehirn endgültig zerstörte.

Den eigenen Sohn zum Präsidenten machen – durfte ein Vater so hoch greifen? Und hatte der alte König seine Söhne umsonst geopfert? Hatten die Götter ihn weniger für seinen Hochmut als vielmehr für seine Vergnügungen gestraft? Oder war alles nur Zufall? Jack und Robert, seine Söhne, so reich, so gutaussehend, so begabt – ermordet von unbedeutenden Nullen, die sich mit dem Mord an weit überlegenen Männern ins Buch der Geschichte eintrugen. Nein, nein, das konnte nicht Bestimmung sein, das war Zufall. So oft vermochten Banalitäten das Schicksal zu wenden, Winzigkeiten schwere Tragödien in unbedeutende Schrammen des Schicksals zu verwandeln.

Darum, beschloß Francis Kennedy, werde ich von nun an nichts mehr dem Schicksal überlassen. Mit Hilfe seiner eigenen Auffassung von Terror würde er seine Tochter sicher nach Hause holen. Er würde den Entführern alles geben, was sie forderten, und das mußte sie letztlich zufriedenstellen, obwohl die Vereinigten Staaten in den Augen der Welt gedemütigt würden. Ein geringer Preis für Theresas Leben.

Aber dennoch... Dennoch nagte da dieses seltsame Gefühl des Unheils an ihm. Warum brachte man den Mörder des Papstes mit der Entführung der Präsidententochter in Verbindung? Warum diese Verzögerung, bevor die Entführer ihre Forderungen bekanntgaben? Welche anderen roten Fäden gab es in diesem Labyrinth noch, die ausgelegt werden mußten? Und das alles von einem Mann, von dem er noch nie etwas gehört hatte, einem geheimnisvollen Araber namens Yabril und einem jungen Italiener, über dessen Identität noch nichts bekannt war.

Im Dunkel der Nacht bangte er um den Ausgang der gegebenen Situation, empfand eine vertraute, doch ständig unterdrückte Wut und Furcht. Deutlich erinnerte er sich an jenen schrecklichen Tag, da er als kleiner Junge mit seinen kleinen Cousins auf dem Rasen des Weißen Hauses spielte und zufällig die ersten, geflüsterten Nachrichten mithörte, sein Onkel Jack sei tot. Und an den langgezogenen, furchtbaren Schrei einer schmerzgequälten Frau.

Dann öffneten sich gnädig die Kammern seiner Gedanken, und die Sprengsätze der Erinnerungen entwichen. Er schlief in seinem Lehnsessel ein.

Der vierte Kennedy

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