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3. Kapitel

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Von allen Mitgliedern des Präsidentenstabs war es der Justizminister, der den größten Einfluß auf Kennedy besaß. Christian Klee war als Sohn reicher Eltern geboren – in eine Familie hinein, deren Stammbaum bis auf die ersten Tage der Nation zurückging. Seine Treuhandfonds betrugen jetzt – dank der guten Ratschläge seines Paten Oliver Ollifant, des Orakels – über einhundert Millionen Dollar. Es hatte ihm nie an etwas gefehlt, und schließlich war sogar eine Zeit gekommen, da er sich auch nichts mehr wünschte. Er war zu intelligent, zu energiegeladen, um zu einem jener reichen Müßiggänger zu werden, die in Filme investieren, Frauen erobern, Drogen- und Alkoholmißbrauch treiben oder in eine religiöse Unduldsamkeit absinken. Zwei Männer, das Orakel und Francis Xavier Kennedy, hatten ihn schließlich in die Politik eingeführt.

Christian hatte Kennedy in Harvard kennengelernt – nicht als Kommilitone, sondern als Dozent. Kennedy war damals der jüngste Professor, der je in Harvard gelehrt hatte. Als Twen war er bereits ein Wunder. Christian erinnerte sich an seine Einführungsvorlesung. Kennedy hatte mit den Worten begonnen: »Jeder Bürger kennt die Erhabenheit des Gesetzes oder hat wenigstens davon gehört. Sie ist die dem Staat gegebene Befugnis, bestehende politische Organisationen zu kontrollieren, durch die die Zivilisation zu existieren vermag. Das ist die Wahrheit. Ohne die Grenzen, die uns das Recht setzt, wären wir allesamt verloren. Aber vergessen Sie bitte nie, daß das Recht auch viel Scheiße beinhaltet.«

Dann lächelte er den lauschenden Studenten zu. »Ich kann jedes Gesetz umgehen, das Sie aufstellen. Das Recht kann so gebeugt werden, daß es auch der übelsten Zivilisation dient. Die Reichen können dem Recht entwischen, und manchmal haben sogar die Armen Glück. Gewisse Anwälte behandeln das Recht wie Zuhälter ihre Huren. Richter verkaufen das Recht, Gerichtshöfe verraten es. All das ist wahr. Aber vergessen Sie nie, daß wir nichts Besseres haben. Es gibt keine andere Möglichkeit, einen Gesellschaftsvertrag mit unseren Mitmenschen zu schließen.«

Als Christian Klee die Harvard Law School abschloß, hatte er nicht die geringste Ahnung, was er mit seinem Leben anfangen sollte. Im Grunde hatte er für nichts Interesse. Er besaß über hundert Millionen Dollar, interessierte sich aber weder für Geld noch eigentlich für Jura. Er war romantisch wie die meisten jungen Männer. Er liebte Frauen, hatte ein paar flüchtige Affären, vermochte aber nicht jenen wahren Glauben an die Liebe aufzubringen, der zu leidenschaftlichen Bindungen führt. Verzweifelt suchte er nach einer Sache, der er sein Leben verschreiben konnte. An Kunst war er durchaus interessiert, besaß aber keine Neigung zur Kreativität, keine Begabung für Malerei, Musik oder Literatur. Sein gesicherter Platz in der Gesellschaft lähmte ihn. Dennoch war er weniger unglücklich als vielmehr verwirrt.

Vorübergehend hatte er natürlich auch Drogen probiert; die waren schließlich ebenso ein integraler Bestandteil der amerikanischen Kultur, wie früher des chinesischen Kaiserreichs. Dabei hatte er zum erstenmal einen verblüffenden Zug an sich entdeckt. Er konnte den Verlust der Selbstkontrolle nicht ertragen, den die Drogen bewirkten. Es störte ihn nicht, unglücklich zu sein, solange er die Kontrolle über seinen Verstand und seinen Körper behielt. Kontrollverlust war der absolute Tiefpunkt der Verzweiflung. Außerdem verschafften ihm die Drogen nicht einmal die Ekstase, die andere Menschen dabei empfanden. Deswegen hatte er mit zweiundzwanzig, als ihm praktisch die ganze Welt offenstand, das Gefühl, daß es für ihn nichts zu tun gab, was der Mühe wert gewesen wäre. Er hatte nicht einmal das Bedürfnis, das wohl ein jeder junge Mensch einmal hegt: den Wunsch, die Welt zu verbessern, in der er lebte.

Er konsultierte seinen Patenonkel, das Orakel, damals ein »junger« Mann von fünfundsiebzig Jahren, der dennoch eine unendliche Lebenslust besaß, der drei Geliebte nicht zur Ruhe kommen ließ, der die Finger in jedem geschäftlichen Unternehmen hatte und mindestens einmal pro Woche mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten konferierte. Das Orakel besaß das Geheimnis des Lebens.

»Such dir das Sinnloseste aus, was du dir vorstellen kannst, und das tust du dann einige Jahre lang. Irgend etwas, woran du nicht mal im Traum denken würdest, was du absolut nicht ausstehen kannst. Dennoch aber etwas, das dich wenigstens körperlich und geistig fördert. Lern einen Teil der Welt kennen, von dem du überzeugt bist, daß du ihn niemals zum Bestandteil deines Lebens machen wirst. Vergeude deine Zeit nicht. Lerne. So bin ich in die Politik gekommen. Und – meine Freunde würde das wirklich überraschen – ich hatte absolut kein Interesse an Geld. Tu etwas, das du verabscheust. In drei bis vier Jahren werden dann mehr Dinge möglich sein, und was möglich ist, wird attraktiver.«

Am folgenden Tag bewarb sich Christian um einen Platz in West Point und verbrachte die nächsten vier Jahre damit, sich zum Offizier der US-Army ausbilden zu lassen. Das Orakel war zuerst überrascht gewesen, zeigte sich dann jedoch erfreut. »Genau das richtige«, sagte er. »Du wirst niemals ein Soldat werden. Aber du wirst Geschmack an der Selbstbeherrschung finden.«

Nach den vier Jahren West Point blieb Christian noch weitere vier Jahre in der Army und unterzog sich einer Ausbildung bei den Special Assault Brigades, wo er sich zum Experten für bewaffneten und unbewaffneten Nahkampf entwickelte. Das Bewußtsein, daß sein Körper allen Anforderungen genügen konnte, die er an ihn stellte, verlieh ihm das Gefühl, unangreifbar zu sein.

Mit dreißig Jahren nahm er den Abschied und wechselte zum Führungsstab der CIA über. Er wurde zum Spezialisten für Geheimaktionen und verbrachte die folgenden vier Jahre im europäischen Raum. Von dort ging er für sechs Jahre in den Mittleren Osten und arbeitete sich weit in der Einsatz-Abteilung der Agency empor, bis ihm eine Bombe den Fuß abriß. Dies war eine weitere Herausforderung für ihn. Er lernte, zuerst mit einer Prothese und dann mit einem künstlichen Fuß so geschickt umzugehen, daß er auch nicht andeutungsweise hinkte. Seine Karriere im aktiven Einsatz aber war damit beendet, er kehrte nach Hause zurück und trat in eine angesehene Anwaltskanzlei ein.

Dann verliebte er sich zum erstenmal und heiratete ein Mädchen, das für ihn die Erfüllung aller Jugendträume war. Sie war intelligent, sie war geistreich, sie war sehr hübsch und überaus leidenschaftlich. Während der folgenden fünf Jahre führte er eine glückliche Ehe, wurde zum stolzen Vater zweier Kinder und war zufrieden in dem politischen Labyrinth, durch das ihn mit sicherer Hand das Orakel führte. Endlich war er, wie er meinte, ein Mann, der seinen Platz im Leben gefunden hatte. Dann aber schlug das Schicksal zu. Seine Frau verliebte sich in einen anderen und reichte die Scheidung ein.

Christian Klee war fassungslos; dann wurde er wütend. Er war doch glücklich, wieso war seine Frau es nicht auch? Was hatte sie so verändert? Er war stets liebevoll und höflich zu ihr gewesen, hatte ihr jeden Wunsch erfüllt. Gewiß, er war vollauf mit seiner Arbeit beschäftigt gewesen, mit dem Aufbau seiner Karriere. Aber er war reich, und es fehlte ihr an nichts. In seiner Wut nahm er sich vor, all ihre Forderungen abzulehnen und um das Sorgerecht für die Kinder zu kämpfen, ihr das Haus zu verweigern, das sie sich so sehnlichst wünschte, und die finanzielle Unterstützung, die einer geschiedenen Frau zusteht, so gering wie nur möglich zu halten. Vor allem schmerzte es ihn, daß sie mit ihrem neuen Ehemann in ihrer beider Haus wohnen wollte. Na schön, es war eine palastartige Villa, aber was war mit jenen geheiligten Erinnerungen, die sie beide mit diesem Haus verbanden? Und er war ihr immer ein treuer Ehemann gewesen.

Wieder war er zum Orakel gegangen, um ihm seinen Kummer und seinen Schmerz anzuvertrauen. Zu seinem Erstaunen jedoch zeigte das Orakel nicht das geringste Mitgefühl. »Du warst ihr treu, na schön. Aber wie kommst du darauf, daß deine Frau dir ebenfalls treu sein muß? Warum soll sie das sein, wenn du sie nicht mehr interessierst? Treulosigkeit ist die präventive Maßnahme des vorsichtigen Mannes, der weiß, daß seine Frau ihm ohne jeden moralischen Grund Haus und Kinder wegnehmen kann. Diesen Vertrag hast du mit deiner Eheschließung akzeptiert, nun mußt du ihn auch einhalten.« Dann hatte ihm das Orakel ins Gesicht gelacht. »Deine Frau hatte ganz recht, dich zu verlassen«, erklärte er. »Sie hat dich durchschaut, obwohl ich zugeben muß, daß du eine recht gute schauspielerische Leistung geboten hast. Sie wußte, daß du nie wirklich glücklich warst. Aber glaube mir, so ist es am besten. Jetzt bist du in der Lage, deine wirkliche Position im Leben einzunehmen. Du hast dir alles aus dem Weg geräumt, Frau und Kinder wären ja doch nur ein Hindernis. Im Grunde deines Wesens bist du ein Mann, der allein leben muß, um große Dinge zu vollbringen. Das weiß ich, weil ich genauso war. Ehefrauen können gefährlich werden für Männer mit echten Ambitionen; Kinder sind der Nährboden von Tragödien. Benutze deinen gesunden Menschenverstand, verwerte deine Ausbildung als Jurist. Gib ihr alles, was sie will, es wird dein Vermögen kaum merklich ankratzen. Deine Kinder sind noch klein; sie werden dich vergessen. Sieh’s doch mal so: Jetzt bist du frei und kannst souverän über dein Leben bestimmen.«

Und genauso war es gekommen.

Justizminister Christian Klee verließ also am Ostersonntag das Weiße Haus, um Oliver Ollifant zu besuchen, seinen Rat zu erbitten und ihm mitzuteilen, daß Präsident Kennedy die Feier seines einhundertsten Geburtstags aufgeschoben hatte.

Das Orakel lebte auf einem eingezäunten Besitz, der mit einer teuren Überwachungsanlage ausgerüstet war; sein Sicherheitssystem hatte im vergangenen Jahr fünf vorwitzige Einbrecher erwischt. Zu seinem zahlreichen Dienstpersonal gehörten ein Friseur, ein Kammerdiener, ein Koch und mehrere weibliche Dienstboten. Denn immer noch holten sich viele bedeutende Herren bei ihm Rat, die er mit erstklassigen Essen bewirten und zuweilen auch über Nacht unterbringen mußte.

Christian freute sich auf den Besuch bei seinem Patenonkel. Er genoß die Gesellschaft des alten Mannes, seine Erzählungen von blutigen Kämpfen auf den Schlachtfeldern der Finanz, den Strategien von Männern gegenüber ihren Vätern, Müttern, Ehefrauen und Geliebten, und seine Ratschläge, wie man sich gegen die Regierung verteidigte, deren Macht so gewaltig, deren Justiz so blind, deren Gesetze so trügerisch und deren freie Wahlen so korrumpierend waren. Nicht etwa, daß das Orakel ein professioneller Zyniker war – er war lediglich mit einem klaren Blick begabt. Und er behauptete, daß man ein glückliches, erfolgreiches Leben führen und dennoch gewisse ethische Werte berücksichtigen konnte, auf denen die wahre Zivilisation beruht. Das Orakel verstand wahrhaftig zu brillieren.

Das Orakel empfing Christian in seiner persönlichen Suite im ersten Stock, die aus einem kleinen Schlafzimmer und einem riesigen, blau gekachelten Badezimmer bestand, mit einem Jacuzzi und einer Dusche samt Marmorbank und in die Wände integrierten Handgriffen. Darüber hinaus gab es ein Herrenzimmer mit eindrucksvollem Kamin, eine Bibliothek und ein gemütliches Wohnzimmer mit fröhlich bunter Sitzgarnitur aus Sofa und Armsesseln.

Das Orakel saß im Wohnzimmer in seinem speziell für ihn konzipierten motorisierten Rollstuhl. Neben ihm stand ein Tischchen, ihm gegenüber ein Sessel und ein zum English Tea gedeckter Tisch. Christian nahm dem Orakel gegenüber im Sessel Platz und bediente sich mit Tee und einem von den winzigen Sandwiches. Wie immer freute sich Christian über die äußere Erscheinung des Orakels, die Intensität in seinem Blick, die bei einem Hundertjährigen so erstaunlich wirkte. Und er fand es durchaus logisch, daß sich das Orakel vom häßlichen Fünfundsechzigjährigen zu einem äußerst beeindruckenden Greis entwickelt hatte. Die Gesichtshaut wirkte ebenso pergamentähnlich wie die über dem kahlen Schädel mit den nikotindunklen Leberflecken. Hände mit Leopardenhaut ragten aus den Ärmeln seines erstklassig geschnittenen Anzugs, denn auch das hohe Alter hatte nichts an seiner eitlen Eleganz ändern können. Der Hals, an dem eine locker gebundene Seidenkrawatte hing, war schuppig und von Falten durchzogen, der Rücken breit, gebogen wie Glas. Der Oberkörper verengte sich zu einer winzigen Brust, die Taille hätte man mit den Fingern umspannen können, die Beine glichen Spinnwebfäden. Doch die Gesichtszüge waren noch nicht vom nahenden Tod gezeichnet.

Während der ersten Minuten sahen sie sich über die Teetassen hinweg lächelnd an; Christian schenkte dem Orakel ein.

Das Orakel sprach als erster: »Ich nehme an, du bist gekommen, um meine Geburtstagsfeier abzusagen. Ich habe mit meinen Sekretären das Fernsehprogramm gesehen und ihnen gleich gesagt, daß die Party verschoben wird.« Seine Stimme war nur noch das dumpfe Schnarren abgenutzter Stimmbänder.

»Ja«, bestätigte Christian. »Aber nur für einen Monat. Meinst du, du könntest so lange durchhalten?« Er lächelte.

»Aber sicher«, antwortete das Orakel. »Dieser Mist kommt über jeden Fernsehkanal. Ich rate dir gut, mein Junge, kauf dir Aktien von Fernsehsendern. Die machen ein Vermögen, mit dieser und sämtlichen folgenden Tragödien. Das sind die Krokodile unserer Gesellschaft.« Er hielt einen Augenblick inne; dann fuhr er etwas ruhiger fort: »Wie erträgt dein geliebter Präsident das alles?«

»Ich bewundere diesen Mann mehr denn je«, erklärte Christian. »Noch nie habe ich einen Menschen in seiner Position gesehen, der eine so furchtbare Tragödie so gefaßt aufnimmt. Seit dem Tod seiner Frau ist er wesentlich stärker geworden.«

»Wenn das Schlimmste, was geschehen kann, dir tatsächlich zustößt, und du erträgst es, bist du der stärkste Mensch auf der Welt«, entgegnete das Orakel ironisch. »Was im Grunde vielleicht gar nicht so gut ist.« Er unterbrach sich einen Moment, um einen Schluck Tee zu trinken; seine farblosen Lippen schlössen sich zu einem bleichen, weißen Strich, der in der nikotinbraunen Gesichtshaut wie ein Kratzer wirkte. Dann sagte er: »Wenn du meinst, daß du dadurch nicht gegen deinen Amtseid oder die Loyalität zum Präsidenten verstößt, könntest du mir vielleicht mitteilen, welche Maßnahmen ergriffen werden.«

Wie Christian nur allzu gut wußte, war es dies, wofür der alte Mann lebte: im Zentrum des engsten Machtkreises zu sein. »Francis macht sich große Sorgen, weil die Entführer noch immer keine Forderungen gestellt haben. Es sind inzwischen zehn Stunden vergangen«, sagte Christian. »Er hält die Lage für kritisch.«

»Das ist sie«, bestätigte das Orakel.

Beide schwiegen eine Weile. Das Leuchten in den Augen des Orakels war erloschen, schien durch die Tränensäcke aus sterbender Haut erstickt worden zu sein.

»Ich bin sehr besorgt um Francis«, fuhr Christian fort. »Viel mehr kann er nicht ertragen. Im Moment würde er alles tun, um seine Tochter zurückzubekommen. Falls ihr jedoch irgend etwas zustoßen sollte... Er wäre fähig, ganz Sherhaben in die Luft zu jagen.«

»Daran werden sie ihn hindern«, sagte das Orakel. »Es wird zu einer äußerst gefährlichen Konfrontation kommen. Ich erinnere mich noch gut, wie Francis Kennedy als kleiner Junge mit seinen Cousins auf dem Grundstück des Weißen Hauses spielte. Selbst damals war ich schon erstaunt, wie er über die anderen Kinder dominierte.«

Das Orakel hielt inne, während Christian ihm heißen Tee nachschenkte, obwohl die Tasse noch mehr als halb voll war. Wie er wußte, konnte der Alte längst nichts mehr schmecken, das nicht glühend heiß oder eiskalt war.

»Wer wird ihn daran hindern?« erkundigte sich Christian.

»Das Kabinett, der Kongreß, sogar einige Mitglieder seines eigenen Stabes«, antwortete das Orakel. »Vielleicht sogar die Stabschefs. Die werden sich alle zusammentun.«

»Wenn der Präsident mir befiehlt, sie zu stoppen«, gab Christian zu bedenken, »werde ich ihm gehorchen.«

Die Augen des Orakels wurden auf einmal wieder sehr glänzend, sehr sichtbar. Nachdenklich sagte er: »Du bist in diesen letzten Jahren ein höchst gefährlicher Mann geworden, Christian. Aber nicht sehr originell. Im gesamten Verlauf der Menschheitsgeschichte hat es Männer gegeben, die man ›groß‹ nannte, die zwischen Gott und Vaterland wählen mußten. Und ein paar überaus fromme Männer haben das Vaterland dem lieben Gott vorgezogen, obwohl sie glaubten, deswegen ins ewige Höllenfeuer verdammt zu werden, aber sie hielten das für nobel. Nur, Christian, wir leben jetzt in einer Zeit, da wir uns entscheiden müssen, ob wir unser Leben für unser Land hingeben oder der Menschheit helfen wollen, weiterzuexistieren. Wir leben im Atomzeitalter. Das ist das neue, interessante Problem, ein Problem, vor das noch niemals zuvor ein einzelner gestellt wurde. In diesen Kategorien mußt du denken. Würdest du, wenn du zu deinem Präsidenten hältst, die Menschheit gefährden? Die Antwort darauf ist nicht so einfach wie Gott zu verleugnen.«

»Das spielt keine Rolle«, behauptete Christian. »Ich weiß, daß Francis besser ist als der Kongreß, der Socrates Club und die Terroristen.«

Das Orakel entgegnete: »Ich habe mich immer über deine überwältigende Loyalität Francis Kennedy gegenüber gewundert. Es gibt da ein paar widerliche Klatschtanten, die andeuten, daß es sich um eine schwule Beziehung handelt. Von deiner Seite. Nicht von seiner. Und das ist seltsam, denn du hast Frauen, er aber nicht, jedenfalls nicht seit dem Tod seiner Frau vor drei Jahren. Warum nur bringen die Menschen in seiner Umgebung dem Präsidenten eine so außergewöhnliche Verehrung entgegen, obwohl er als politischer Dummkopf gilt? All diese Reform- und Durchführungsgesetze, die er dem Kongreß, diesem Dinosaurier, zu schlucken gibt! Ich hätte dich für klüger gehalten, doch ich vermute, du wurdest überstimmt. Trotzdem ist mir deine übermäßige Zuneigung zu Kennedy ein Rätsel.«

»Er ist der Mann, der ich immer sein wollte«, erklärte Christian.

»So einfach ist das.«

»Dann wären wir beide, du und ich, nicht schon seit so vielen Jahren Freunde«, gab das Orakel zurück. »Ich habe nie viel von Francis Kennedy gehalten.«

»Er ist ganz einfach besser als die anderen«, erwiderte Christian.

»Ich kenne ihn jetzt seit mehr als zwanzig Jahren, und er ist der einzige Politiker, der seinen Wählern gegenüber ehrlich ist, er belügt sie nicht. Und er ist religiös, im Grunde wohl nicht aus wahrem Glauben, sondern aus einer Art Demut heraus.«

Das Orakel erwiderte ironisch: »Der Mann, den du mir beschreibst, wäre niemals zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt worden.« Er schien seinen Insektenkörper aufzublähen, die Hände mit der blank gespannten Haut spielten auf den Hebeln des Rollstuhls. Das Orakel lehnte sich zurück. In Kontrast zu dem dunklen Anzug, dem elfenbeinfarbenen Hemd und der schlichtblauen Krawatte wirkte das glasig-glänzende Gesicht wie aus Mahagoni geschnitzt. »Ich finde nicht, daß er Charme besitzt, aber wir haben uns nie verstanden. Und jetzt muß ich dich warnen, mein Junge. Jeder Mensch macht in seinem Leben Fehler, und zwar immer wieder. Das ist menschlich und nicht zu vermeiden. Der Trick besteht darin, niemals den Fehler zu machen, der einen vernichtet. Hüte dich vor deinem Freund Kennedy, der so wunderbar ist; vergiß nicht, daß das Böse oft dem guten Willen entspringt. Die nächsten Tage werden immens gefährlich sein. Also sei vorsichtig.«

»Der Charakter verändert sich nicht«, behauptete Christian zuversichtlich.

Das Orakel bewegte die Arme wie Vogelschwingen. »Tut er doch«, widersprach er Christian. »Der Schmerz verändert den Charakter. Das Leid verändert den Charakter. Liebe und Geld natürlich auch. Und die Zeit zerfrißt den Charakter. Ich möchte dir eine kleine Geschichte erzählen. Als ich fünfzig war, hatte ich eine Geliebte, die dreißig Jahre jünger war als ich. Sie hatte einen Bruder, der zehn Jahre älter war als sie, ungefähr dreißig. Ich war, wie bei allen meinen jüngeren Frauen, ihr Mentor. Mir lag ihr Wohlergehen am Herzen. Ihr Bruder war ein Wall-Street-Wunderkind und ein leichtsinniger Mensch, der später enorme Schwierigkeiten bekam. Da ich niemals eifersüchtig war, ging sie mit jungen Männern aus. An ihrem einundzwanzigsten Geburtstag jedoch gab ihr Bruder eine Party und engagierte als Gag einen männlichen Stripper, der vor ihr und ihren Freunden auftreten sollte. Es war alles absolut in Ordnung, sie machten kein Geheimnis daraus. Ich aber war mir ständig meiner Häßlichkeit bewußt, meines Mangels an körperlicher Anziehungskraft auf Frauen. Also fühlte ich mich gekränkt, und das war meiner nicht würdig. Wir blieben alle gute Freunde. Sie heiratete und machte Karriere; ich wandte mich jüngeren Geliebten zu. Zehn Jahre später geriet ihr Bruder, wie viele von diesen Wall-Street-Typen, in finanzielle Schwierigkeiten. Insider-Tips, krumme Sachen mit ihm anvertrauten Geldern. Sehr ernsthafte Schwierigkeiten, die ihm ein paar Jahre Gefängnis eintrugen und natürlich seine berufliche Karriere ruinierten. Ich war inzwischen sechzig geworden und immer noch mit beiden befreundet. Sie baten mich nicht um Hilfe; sie wußten wirklich nicht, wie groß mein Einfluß war. Ich hätte ihn retten können, rührte aber keinen Finger. Ich ließ ihn den Bach runtergehen. Und zehn Jahre später wurde mir klar, daß ich ihm nicht geholfen habe, weil er mir diesen dummen, kleinen Streich gespielt, weil er seiner Schwester den Körper eines so viel jüngeren Mannes als ich präsentiert hatte. Und es war nicht einmal sexuelle Eifersucht, es war die Beleidigung meiner Macht, oder der Macht, die ich zu besitzen glaubte. Ich habe oft darüber nachgedacht. Es ist eines der wenigen Dinge in meinem Leben, für die ich mich schäme. Mit dreißig oder siebzig hätte ich mich niemals einer so törichten Haltung schuldig gemacht. Warum also mit sechzig? Der Charakter verändert sich. Das ist der Triumph des Menschen – und seine Tragödie.«

Christian ging zu dem Cognac über, den das Orakel für ihn bereitgestellt hatte. Er war köstlich und sehr teuer. Das Orakel bot nur das Beste. Christian genoß den Cognac, obwohl er sich ihn selbst niemals kaufte; als Sohn reicher Eltern hatte er immer das Gefühl, es nicht verdient zu haben, sich so viel leisten zu können. »Ich kenne dich nun mein Leben lang«, sagte er, »über fünfundvierzig Jahre. Aber du hast dich nie verändert. Nächste Woche wirst du hundert. Und du bist immer noch der große Mann, für den ich dich stets gehalten habe.«

Das Orakel schüttelte den Kopf. »Du kennst mich nur als älteren Menschen, von sechzig bis hundert. Das bedeutet nichts. Bis dahin ist nicht nur das Gift verspritzt, sondern auch die Kraft, es zu verspritzen. Es ist kein Verdienst, im Alter tugendhaft zu sein, wie dieser alte Windhund Tolstoi sagt.« Er hielt inne und stieß einen Seufzer aus. »Was ist denn nun mit dieser großen Geburtstagsfeier für mich? Dein Freund Kennedy hat mich noch nie gemocht, deswegen weiß ich, daß du es warst, der den Vorschlag mit dem Rosengarten des Weißen Hauses und dem großen Medienereignis gemacht hat. Schiebt er nun diese Krisensituation vor, um sich davor zu drücken?«

»Nein, nein«, versicherte Christian, »er schätzt dein Lebenswerk hoch ein, er möchte dich aufrichtig ehren, Oliver. Du warst und bist ein großer Mann. Warte nur noch ein kleines Weilchen. Verdammt, was sind ein paar Monate nach hundert Jahren?« Er hielt inne. »Aber weil du Francis nicht magst, und wenn es dir lieber ist, lassen wir einfach die großen Pläne für deine Geburtstagsfeier fallen, die Massenberichte der Medien, deinen Namen in allen Zeitungen und im Fernsehen. Ich werde dir jetzt gleich eine kleine, private Party ausrichten, dann haben wir’s hinter uns.« Mit seinem Lächeln bewies er dem Orakel, daß er einen Scherz machte. Zuweilen nahm ihn der Alte allzu wörtlich.

»Nein, danke«, gab das Orakel zurück. »Ich will etwas haben, worauf ich mich freuen kann: eine Geburtstagsfeier, ausgerichtet vom Präsidenten der Vereinigten Staaten. Aber eines sage ich dir: Dein Kennedy, der ist gerissen. Er weiß, daß mein Name immer noch etwas bedeutet. Die Publicity wird seinem Image förderlich sein. Dein Francis Kennedy ist nicht weniger geschickt als sein Onkel Jack. Bobby dagegen, der hätte mich in seine Karten sehen lassen.«

»Von deinen Zeitgenossen ist keiner mehr übrig«, sagte Christian, »zu deinen Protegés gehören jedoch einige der größten Männer und Frauen im Land, und die freuen sich darauf, dir diese Ehre erweisen zu dürfen. Unter anderem der Präsident. Er hat nicht vergessen, daß du ihm auf die Beine geholfen hast. Er hat sogar deine Kumpels aus dem Socrates Club eingeladen, und die haßt er wirklich. Es wird deine schönste Geburtstagsfeier werden.«

»Und meine letzte«, ergänzte das Orakel. »Ich hänge nur noch an meinen Scheißfingernägeln.«

Christian lachte. Bis er neunzig wurde, hatte das Orakel nie unanständige Ausdrücke gebraucht, doch nun benutzte er sie so unschuldig wie ein Kind.

»Das wäre also erledigt«, stellte das Orakel fest. »Und nun möchte ich dir etwas über große Männer erzählen, Kennedy und mich eingeschlossen. Zum Schluß vernichten die sich nämlich selbst, zusammen mit den Menschen ihrer Umgebung. Nun glaub nur ja nicht, daß ich zugebe, dein Kennedy sei ein großer Mann. Denn was hat er schließlich Bemerkenswertes getan, außer der Tatsache, daß er Präsident der Vereinigten Staaten geworden ist? Und das ist nur der Trick eines Illusionisten. Weißt du übrigens, daß man im Showbusineß den Magier vom künstlerischen Standpunkt aus für eine Niete hält?« Hier legte das Orakel den Kopf schief und ähnelte dabei verblüffend einer Eule.

»Ich gebe zu, daß Kennedy nicht unbedingt ein typischer Politiker ist«, sagte das Orakel. »Er ist ein Idealist, er ist weitaus intelligenter als andere und hat moralische Grundsätze, obwohl ich mich frage, ob sexuelle Enthaltsamkeit gesund sein kann. Aber all diese Tugenden sind ein Handicap für politische Größe. Ein Mann ohne Laster? Ein Segelschiff ohne Segel!«

»Du mißbilligst also seine Entscheidungen«, sagte Christian. »Welchen Kurs sollte er deiner Meinung nach einschlagen?«

»Das ist irrelevant«, entgegnete das Orakel. »Während seiner ganzen drei Jahre hat er seinen Schwanz halb drinnen, halb draußen, und das bringt immer Schwierigkeiten.« Plötzlich trübten sich die Augen des Orakels. »Ich hoffe, das steht meiner Geburtstagsfeier nicht allzulange im Wege. Was für ein Leben habe ich doch gehabt, eh? Wer hätte sich ein besseres wünschen können? Arm geboren, auf daß ich den Reichtum, den ich später erworben habe, um so besser genießen konnte. Ein häßlicher Mann, der gelernt hat, schöne Frauen zu faszinieren und zu genießen. Ein guter Verstand und ein erworbenes Einfühlungsvermögen – um soviel besser als ein angeborenes. Eine enorme Energie, ausreichend, mich auch im Alter nicht im Stich zu lassen. Eine gute Konstitution, ich war kein einziges Mal im Leben ernsthaft krank. Ein großartiges Leben; und ein langes! Aber, und das ist das Problem, möglicherweise ein bißchen zu lang. Ich kann mich heutzutage nicht mehr im Spiegel sehen, aber wie ich schon sagte, ich war ja nie hübsch.« Er hielt einen Moment inne und sagte dann unvermittelt zu Christian: »Verlaß den Regierungsdienst. Distanziere dich von allem, was von jetzt an geschieht.«

»Das kann ich nicht«, widersprach Christian. »Dazu ist es zu spät.« Er musterte den Kopf des Alten, gesprenkelt mit den Chromosomen des Todes, und staunte über seinen Verstand, der noch so lebendig war. Christian starrte in diese alten Augen, verhangen wie ein endloser Nebeltag auf See. Würde er selbst jemals so alt werden, würde sein Körper ebenso schrumpfen – schrumpfen wie ein totes Insekt?

Und das Orakel, das ihn beobachtete, wie Christian ihn ansah, dachte bei sich: Wie leicht durchschaubar sie doch alle sind! Arglos wie kleine Kinder ihren Eltern gegenüber. Das Orakel wußte, daß er mit seinem Rat zu spät gekommen war, daß Christian an sich selbst Verrat üben würde, und das erfüllte ihn irgendwie mit Genugtuung.

Christian trank seinen Cognac aus und erhob sich, um sich zu verabschieden. Er stopfte die Decke um die Knie des Alten fest und klingelte nach der Pflegerin. Dann flüsterte er dem Alten leise ins Ohr: »Sag mir die Wahrheit über Helen DuPray; vor ihrer Heirat hat sie zu deinen Protegés gehört, und ich weiß, daß du ihr den Weg in die Politik geebnet hast. Hast du jemals mit ihr geschlafen, oder warst du zu alt dazu?«

Das Orakel schüttelte den Kopf. »Ich war niemals zu alt, bis ich über neunzig war. Und eines sage ich dir, wenn der eigene Schwanz dich im Stich läßt, dann bist du wahrhaft einsam. Aber um deine Frage zu beantworten: Sie wollte mich nicht, ich war keine Schönheit. Ich muß gestehen, daß ich enttäuscht war, sie war sehr schön und sehr intelligent, meine Lieblingskombination. Intelligente häßliche Frauen habe ich nie heben können, dazu glichen sie zu sehr mir selbst. Schöne dumme Frauen konnte ich lieben, doch wenn sie intelligent waren, schwebte ich im siebten Himmel. Helen DuPray, ach ja, ich wußte, daß sie es weit bringen würde; sie war sehr stark, besaß eine ungeheure Willenskraft. Jawohl, ich hab’s bei ihr versucht, aber niemals mit Erfolg; einer meiner seltenen Mißerfolge, wie ich gestehen muß. Aber wir sind stets gute Freunde geblieben. Das war ihre große Begabung: einen Mann sexuell abzuweisen und dennoch eng mit ihm befreundet zu bleiben. Etwas sehr Seltenes. Daran habe ich gemerkt, daß sie eine ernsthaft ehrgeizige Frau war.«

Christian berührte seine Hand; sie fühlte sich an wie eine Narbe. »Ich werde dich täglich anrufen oder vorbeikommen«, versicherte er. »Ich halte dich auf dem laufenden.«

Nachdem Christian gegangen war, wurde das Orakel äußerst rührig. Er mußte die Informationen, die Klee ihm gegeben hatte, an den Socrates Club weiterleiten, der aus einflußreichen Persönlichkeiten ganz Amerikas bestand. Als Verrat an Christian, den er von Herzen liebte, betrachtete er das nicht. Die Liebe kam immer an zweiter Stelle.

Und getan werden mußte etwas; sein Land segelte in gefährlichen Gewässern. Darum war es seine Pflicht, es in den sicheren Hafen lotsen zu helfen. Und was sonst konnte ein Mann in seinem Alter tun, damit das Leben noch lebenswert war? Außerdem hatte er die Kennedy-Legende, ehrlich gesagt, schon immer gehaßt. Nun hatte er die Chance, sie endgültig zu zerstören.

Schließlich ließ sich das Orakel von der Pflegerin für die Nacht vorbereiten. Voll Zuneigung – und jetzt auch ohne das Gefühl der Enttäuschung – erinnerte er sich an Helen DuPray. Sie war sehr jung gewesen, Anfang Zwanzig, und von einer Schönheit, die durch eine ungeheure Vitalität noch verstärkt wurde. Häufig hatte er ihr Vorträge über die Macht, ihren Erwerb und ihre Anwendung gehalten, und, weit wichtiger noch, wann man auf ihren Einsatz verzichten sollte. Und sie hatte mit jener Geduld zugehört, die man braucht, um Macht zu erlangen.

Eines der großen Geheimnisse der Menschheit sei die Frage, warum Menschen gegen ihr eigenes Interesse handelten, erklärte er ihr, warum sie aus purem Stolz das eigene Leben ruinierten, sich von Neid und Selbsttäuschung auf Wege leiten ließen, die ins Nichts führten. Warum war es den Menschen so wichtig, sich das Bild zu erhalten, das sie sich von sich selber machten? Da gab es jene, die niemals kriechen würden, niemals schmeicheln, niemals lügen, niemals nachgeben, niemals betrügen, niemals hintergehen. Da gab es jene, die von Neid und Eifersucht auf das glücklichere Schicksal anderer erfüllt waren...

Das alles war seine ganz persönliche Art von Bitten gewesen, und sie hatte das erkannt. Sie hatte ihn abgewiesen und ohne seine Hilfe weiter versucht, ihren Traum von der Macht zu verwirklichen.

Wenn man im Alter von einhundert Jahren noch immer einen glasklaren Verstand besaß, bestand eines der Probleme darin, daß man genau erkannte, an welchem Punkt der Vergangenheit sich unbewußt eine gewisse Bösartigkeit eingeschlichen hatte, und sie aufstöberte. Er war zutiefst gekränkt gewesen, als Helen DuPray sich weigerte, mit ihm zu schlafen. Er wußte, daß sie andere Liebhaber hatte, daß sie bestimmt nicht prüde war. Aber mit siebzig war er seltsamerweise noch immer eitel gewesen.

Er hatte sich zu einer Verjüngungskur in die Schweiz begeben, wo man ihm die Falten chirurgisch entfernte, die Haut glättete und ihm Frischzellen spritzte. Doch gegen das Schrumpfen des Skeletts, die Versteifung der Gelenke und die ständige Verdünnung des Blutes vermochte nicht mal ein Gott etwas zu tun.

Obwohl es ihm jetzt nichts mehr nützte, glaubte das Orakel verliebte Männer und Frauen zu verstehen. Auch im Alter von über Sechzig vergötterten ihn seine jungen Geliebten. Das ganze Geheimnis war, ihnen niemals Verhaltensvorschriften zu machen, niemals eifersüchtig zu sein und niemals ihre Gefühle zu verletzen. Sie nahmen sich junge Männer als echte Geliebte und behandelten das Orakel mit unbedachter Grausamkeit, aber das spielte keine Rolle. Er überschüttete sie mit Geschenken, wertvollen Gemälden und Schmuck von auserlesenem Geschmack. Er ließ zu, daß sie sich seiner Macht bedienten, um von der Gesellschaft unverdiente Privilegien zu erlangen, und sein Geld in großzügigem, wenn auch nicht verschwenderischem Maße ausgaben. Aber er war ein vorsichtiger Mann und hielt sich immer drei oder vier Geliebte zugleich. Denn sie alle führten ein eigenes Leben. Sie verliebten sich und vernachlässigten ihn, sie unternahmen Reisen, sie arbeiteten angestrengt an ihrer Karriere. Er durfte ihre Zeit nicht im Übermaß beanspruchen. Doch wenn er weibliche Gesellschaft brauchte – nicht nur zum Sex, sondern wegen des süßen Klangs ihrer Stimmen, der naiven Listen ihrer Komplotte –, war immer eine der vier zur Stelle. Und die Tatsache, daß sie bei wichtigen Anlässen an seiner Seite gesehen wurden, verschaffte ihnen natürlich Zutritt zu illustren Kreisen, in die sie allein wohl kaum vorgedrungen wären. Das alles zählte zu den Privilegien der Macht.

Er machte kein Geheimnis daraus; sie alle wußten voneinander. Denn er war überzeugt, daß Frauen im tiefsten Herzen monogame Männer nicht mögen.

Wie grausam, daß er sich an das Schlechte, das er getan hatte, weit häufiger erinnerte als an das Gute! Mit seinem Geld hatte er medizinische Einrichtungen gebaut – auch Kirchen, Altersheime – und vieles mehr für die Wohltätigkeit getan. Doch seine Erinnerungen an sich selbst waren nicht besonders vorteilhaft. Zum Glück jedoch dachte er oft an die Liebe. Auf eine interessante und außergewöhnliche Art war sie das Kommerziellste in seinem Leben gewesen. Dabei hatte er Wall-Street-Firmen, Banken und Airlines besessen.

Solchermaßen mit Geld gesegnet, war er geladen worden, an weltbewegenden Ereignissen teilzunehmen, hatte sich als Berater der Mächtigen betätigt. Er hatte geholfen, die Welt zu formen, in der die Menschen gegenwärtig lebten. Ein faszinierendes, bedeutendes, wertvolles Leben. Und dennoch war in seinem hundertjährigen Gehirn das Management seiner zahllosen Geliebten weit lebendiger. Ah, diese intelligenten, eigensinnigen Schönen, wie bezaubernd sie gewesen waren, und wie wunderbar sie seine Urteilsfähigkeit bestätigt hatten – die meisten jedenfalls. Inzwischen waren sie Richterinnen, Verlagsleiterinnen, Börsenmaklerinnen in der Wall Street, Nachrichtensprecherinnen im Fernsehen. Wie geschickt hatten sie sich verhalten, bei ihren Liebeleien mit ihm, und wie klug hatte er sie überlistet! Und doch auch, ohne sie um ihre rechtmäßigen Ansprüche zu betrügen. Er empfand keine Schuld, nur Bedauern. Hätte eine von ihnen ihn aufrichtig geliebt, er hätte sie in den Himmel gehoben. Doch dann erinnerte ihn sein Verstand daran, daß er es nicht verdiente, so sehr geliebt zu werden. Sie hatten seine Liebe durchschaut: Sie war eine hohle Trommel gewesen, die seinen Körper vibrieren ließ.

Als das Orakel achtzig Jahre alt war, hatte sein Skelett in seinem Mantel aus Fleisch zu schrumpfen begonnen. Das körperliche Verlangen schwand, und sein Gehirn wurde von einem endlosen Meer jugendlicher, verlorener Bilder überschwemmt. Zu dieser Zeit brauchte er junge Frauen, die unschuldig neben ihm im Bett lagen, nur damit er sie betrachten konnte. Ah, diese Perversität, von der Literatur so verächtlich gemacht, von den Jungen, die alt werden mußten, so sehr verspottet! Und dennoch, welch einen Frieden es seinem zerfallenden Körper schenkte, die Schönheit zu betrachten, die er nicht mehr zu verschlingen vermochte. Wie rein sie war! Die rollenden Hügel der Brüste, die seidenweiche, weiße Haut, von ihrer winzigen roten Rosenknospe gekrönt! Die geheimnishütenden Schenkel, deren gerundetes Fleisch golden glühte, das überraschende Dreieck aus Haar, eine Farbenpracht, und dann auf der anderen Seite das herzförmige Gesäß, zwei exquisit geformte Hinterbacken. Soviel Schönheit – für seine körperlichen Sinne tot und verloren, in den Milliarden seiner Hirnzellen jedoch Funken zündend. Und ihre Gesichter, die geheimnisvollen Muscheln der Ohren, die sich spiralförmig zu einem inneren Meer hinabwanden, die tiefliegenden Augen mit ihren sanften Feuern in Blau und Grau, und Braun und Grün, in die Welt hinausblickend von ihren eigenen Zellen aus, die Ebenen ihrer Gesichter, die sich hinabsenkten zu ungeschützten Lippen, so offen für Genüsse und Wunden! All dies betrachtete er, bevor er sich schlafen legte. Er streckte die Hand aus und berührte das warme Fleisch; die Seide der Schenkel und Hinterbacken, berührte die heiß brennenden Lippen und teilte behutsam das gekräuselte Vulvahaar, um nach dem pochenden Puls darunter zu tasten. Diese Berührung tat ihm so wohl, daß er einschlief und das Pulsieren den Schrecken seiner Träume linderte. In diesen Träumen haßte er die sehr Jungen und wollte sie vernichten. Von Leichen junger Männer träumte er, hochgetürmt in Schützengräben, von Seefahrern, die zu Tausenden viele Faden tief ins Meer hinabsanken, von weiten Himmeln, verdunkelt von Raumanzügen mit den Leichen von Astronauten, die sich endlos in den schwarzen Löchern des Universums drehten.

Im Wachzustand träumte er. Aber in eben diesem Wachzustand erkannte er seine Träume als Zeichen senilen Wahns, des Ekels vor dem eigenen Körper. Er haßte seine Haut, die wie Narbengewebe glänzte, die braunen Altersflecken auf Handrücken und Kopfhaut, diese tödlichen Sommersprossen des Todes, seine nachlassende Sehkraft, die Schwäche seiner Glieder, das rasende Herz, das Böse, das seinen glasklaren Verstand zerfraß wie ein Tumor. Welch ein Jammer, daß Feen nur an die Wiege von Neugeborenen traten, um ihnen drei Zauberwünsche mitzugeben! Die Kinder brauchten so etwas nicht; statt ihrer müßten alte Männer wie er so wohltätige Geschenke erhalten. Vor allem jene, deren Verstand noch immer glasklar war.

Der vierte Kennedy

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