Читать книгу Der vierte Kennedy - Mario Puzo - Страница 9
5. Kapitel
ОглавлениеEs ist oft für alle Betroffenen gefährlich, wenn ein Mann vollkommen auf die Freuden dieser Welt verzichtet und sein Leben dem Dienst an seinen Mitmenschen widmet.
Francis Xavier Kennedys besonderer Charakter machte sich erstmals bei seinem Eintritt in Harvard bemerkbar. Dort stellte sich heraus, daß sich die Menschen von ihm angezogen fühlten. Daß er ein guter Sportler war, kam natürlich hinzu, denn körperliche Kraft ist, im Gegensatz zu intellektueller Stärke, eine der wenigen Eigenschaften, die auf der ganzen Welt bewundert werden. Hinzu kam, daß er ein außergewöhnlich guter Student war, und hinzu kam auch, vor allem bei den nicht so weltlich Gesinnten, daß er ein tugendhafter Mensch war.
Die Freundschaften, die er schloß, und die Anhänger, die er gewann, gingen auf das Konto seines Charismas, seines anständigen Charakters. Nie übte er persönliche Kritik, war aber auch nie der ewig gutmütige Tor. Politische Diskussionen führte er engagiert, aber mit Humor. Obwohl vom Temperament her eher ruhig, versprühte der Teil seines Wesens, der irisch war, eine unwiderstehliche Vitalität. Vor allem aber war er ein guter Zuhörer, der sich aufrichtig Mühe gab, alles zu verstehen, was ein anderer zu sagen versuchte, um dann eine sorgfältig überlegte Antwort zu geben. Und ihm war ein fröhlich-geistreicher Witz zu eigen, den er hauptsächlich dazu benutzte, allgemeine Vorurteile auf die Schippe zu nehmen.
Den größten Eindruck machten jedoch seine angeborene Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit. Die jungen Menschen mit ihrer scharfen, wenn auch zuweilen unfairen Sensibilität für Heuchelei vermochten bei ihm nichts dergleichen zu finden. Gewiß, er war praktizierender Katholik, aber er sprach nicht über seine Religion. Das sei eine Frage des Glaubens, sagte er nur. Seine einzige Vernunftwidrigkeit.
Kein Mensch kann seine Bösartigkeit längere Zeit verbergen; Shakespeares Jago ist eine Übertreibung. Kein Mensch kann seine Fehler verbergen, aber Fehler sind leicht zu vergeben oder zu erklären. Wahre Tugend kann, vor allem auf junge Leute, so brillant wirken, daß sie den gesunden Menschenverstand blendet. So fiel es kaum auf, daß Francis Kennedy sehr leicht in Depressionen fiel, wenn er bei seinen Bestrebungen keinen Erfolg hatte. Denn so etwas war doch eigentlich nur natürlich. Es fiel kaum auf, daß er ganz außerordentlich eigensinnig sein konnte, nicht direkt skrupellos, aber vielleicht bedenkenlos.
Francis Kennedy war vom Beginn seiner politischen Karriere an von einer einzigen, allzu vereinfachenden Frage besessen, die zur Antriebskraft seiner Arbeit werden sollte: Wie kommt es, fragte er, daß es nach jedem Krieg, der Sachschäden im Wert von Billionen Dollar bewirkt, eine Periode ökonomischen Wachstums gibt? Er verglich diese Situation mit einer Bank, die großer Summen beraubt wird, um dann um so profitabler zu arbeiten.
Was nun aber, wenn diese Billionen Dollar für den Bau von Wohnungen für die Menschen benutzt, was, wenn diese Milliarden und Billionen für ärztliche Versorgung, für Schulen und Ausbildungsstätten aufgewendet würden? Was, wenn diese Gelder verwendet würden, um ganz einfach den Menschen zu helfen? Wie wunderbar würde dann dieses Land sein, und um wieviel besser die ganze Welt!
Als er zum Präsidenten gewählt wurde, hatte Kennedy versprochen, daß seine Administration dem Elend aller Menschen im Land den Krieg erklären werde. Er werde jene Menschen vertreten, die sich keine Lobbyisten und andere Interessenverbände leisten könnten.
Unter normalen Umständen hätte das auf die amerikanischen Wähler viel zu radikal gewirkt – wäre da nicht Kennedys magische Wirkung auf dem Fernsehschirm gewesen. Er sah besser aus als seine beiden berühmten Onkels, und war ein weit besserer Schauspieler. Darüber hinaus besaß er einen besseren Intellekt als seine Onkels und war ihnen, was die Ausbildung betraf, weit überlegen: ein echter Gelehrter. Er vermochte seine Rhetorik mit Zahlen, mit ökonomischen Gesetzen zu untermauern. Er vermochte das Gerüst der Pläne, die von Kapazitäten auf verschiedenen Gebieten erarbeitet wurden, mit blendender Eloquenz darzulegen. Und mit ziemlich bissigem Witz.
»Mit einer guten Ausbildung«, sagte Francis Kennedy, »lernt jeder Einbrecher, Räuber und Dieb, seine Verbrechen zu begehen, ohne jemanden zu verletzen. Sie lernen so zu stehlen, wie es die Wall-Street-Verbrecher tun; sie lernen Steuern hinterziehen wie die ehrbaren Bürger unserer Gesellschaft. Wir werden mehr Wirtschaftsverbrecher heranbilden, aber wenigstens wird niemand körperlichen Schaden nehmen.«
Francis Xavier Kennedy hatte die Wahl zum Präsidenten durch einen Erdrutsch von Stimmen für die Demokraten gewonnen – und mit Hilfe eines demokratisch dominierten Kongresses.
Vom allerersten Tag an jedoch waren der Präsident und die Legislative eingeschworene Feinde. Kennedy verlor den extrem rechten Flügel im Kongreß, weil er für die Abtreibung eintrat. Er verlor den extrem linken Flügel, weil er für die Todesstrafe bei bestimmten Verbrechen eintrat. Das sei nur konsequent, behauptete er. Immer wieder wies er darauf hin, daß die Linken, die für die Abtreibung waren, sich gewöhnlich gegen die Todesstrafe aussprachen.
Während die Rechten, die gegen die Abtreibung als Form von Mord waren, sich heftigst für die Todesstrafe aussprachen. Darüber hinaus machte sich Kennedy Feinde im Kongreß, weil er strenge Beschränkungen für die riesigen Konzerne Amerikas forderte, für die Ölindustrie, die Getreideindustrie, die pharmazeutische Industrie, und außerdem vorschlug, daß Fernsehsender, Zeitungen und Zeitschriften nicht in der Hand eines einzigen Konzerns vereint werden dürften. Dieser letzte Vorschlag wurde als Versuch zur Beschneidung der Pressefreiheit heftigst bekämpft. Man wedelte aufgeregt mit dem First Amendment.
Nun, im letzten Jahr seiner Präsidentschaftsperiode, am Ostermontag um sieben Uhr morgens, versammelten sich die Mitglieder von Präsident Francis Kennedys Stab, sein Kabinett und Vizepräsidentin Helen DuPray im Cabinet Room des Weißen Hauses. Und alle fragten sich an diesem Montagmorgen voll Angst, welche Maßnahmen er ergreifen würde.
Im Cabinet Room wartete CIA-Chef Theodore Tappey ein Zeichen von Kennedy ab, um sodann die Sitzung zu eröffnen. »Lassen Sie sich zunächst versichern, daß es Theresa gutgeht«, erklärte er. »Niemand ist verletzt worden. Bisher wurden noch keine Forderungen gestellt. Aber sie werden noch vor heute abend gestellt werden, und uns wurde gesagt, daß sie sofort und ohne Verhandlungen erfüllt werden müssen. Aber das ist so üblich. Yabril, der Anführer der Hijacker, ist in Terroristenkreisen berühmt und auch in unseren Archiven nicht unbekannt. Er ist ein Einzelgänger und führt seine Operationen gewöhnlich allein durch, ohne Hilfe einer organisierten Terrorgruppe wie die legendären Einhundert.«
»Wieso legendär, Theo?« fiel Klee ihm ins Wort.
»Sie sind nicht so wie Ali Baba und die vierzig Räuber«, antwortete Theodore Tappey. »Sie organisieren nur koordinierte Aktionen zwischen den Terroristen verschiedener Länder.«
»Weiter«, befahl Francis Kennedy knapp.
Theodore Tappey konsultierte seine Notizen. »Daran, daß der Sultan von Sherhaben mit Yabril zusammenarbeitet, besteht kein Zweifel. Seine Armee schirmt das Flugfeld ab, um jeden Befreiungsversuch zu verhindern. Gleichzeitig gibt der Sultan vor, unser Freund zu sein, und bietet seine Vermittlerdienste an. Was er damit erreichen will, ist unerfindlich, aber es dient unseren Interessen. Der Sultan ist ein vernünftiger Mann und durch Druck zu beeinflussen. Yabril dagegen ist unberechenbar.«
Der CIA-Chef zögerte; dann fuhr er auf ein Nicken von Kennedy hin widerwillig fort: »Yabril versucht, Ihrer Tochter eine Gehirnwäsche zu verpassen, Mr. President. Die beiden haben mehrmals lange Gespräche geführt. Er scheint sie für eine potentielle Revolutionärin zu halten und glaubt einen großen Coup zu landen, wenn er sie dazu bringen kann, in irgendeiner Form eine Sympathieerklärung abzugeben. Sie scheint keine Angst vor ihm zu haben.«
Die anderen im Zimmer schwiegen. Sie wußten, daß es sinnlos war, Tappey nach der Quelle seiner Informationen zu fragen.
In der Halle vor dem Cabinet Room war Stimmengewirr zu vernehmen, sie hörten die aufgeregten Rufe der Fernsehreporter, die auf dem Rasen des Weißen Hauses warteten. Dann wurde einer von Eugen Dazzys Assistenten eingelassen und überreichte Dazzy ein handgeschriebenes Memo. Kennedys Stabschef überflog es mit einem kurzen Blick.
»Ist das eindeutig bestätigt?« wollte er wissen.
»Jawohl, Sir«, antwortete der Assistent.
Jetzt sah Dazzy Francis Kennedy offen an. »Mr. President«, sagte er, »ich habe überraschende Nachrichten. Der Papstattentäter ist hier in den Vereinigten Staaten gefaßt worden. Der Verhaftete gibt zu, daß er das Attentat verübt hat und daß sein Codename Romeo ist. Seinen richtigen Namen anzugeben weigert er sich. Der italienische Sicherheitsdienst hat die Informationen bestätigt, und der Verhaftete gibt Einzelheiten an, die seine Schuld beweisen.«
Arthur Wix fuhr hoch, als sei ein ungeladener Gast in eine private Feier eingedrungen. »Was zum Teufel hat der hier zu suchen? Ich glaube es einfach nicht!«
Geduldig erläuterte Eugene Dazzy die Beweise. Die italienische Sicherheit habe schon einige Mitglieder von Romeos Gruppe verhaftet, diese hätten gestanden und Romeo als ihren Anführer identifiziert. Franco Sebbediccio, der Chef der italienischen Sicherheit, sei berühmt für seine Kunst, Geständnisse zu erzielen. Warum aber Romeo nach Amerika geflohen war und so mühelos verhaftet werden konnte, hatte er nicht in Erfahrung bringen können.
Francis Kennedy trat an die hohen Fenstertüren, die auf den Rosengarten hinausgingen. Er beobachtete die Militärpatrouillen auf dem Gelände des Weißen Hauses und in den angrenzenden Straßen von Washington. Ihn überkam ein vertrautes Angstgefühl. Nichts in seinem Leben war Zufall, das Leben war eine tödliche Verschwörung – nicht nur zwischen den Menschen untereinander, sondern zwischen Glauben und Tod. In einem Augenblick paranoider Hellsichtigkeit begriff er den ganzen Plan, den Yabril mit soviel Stolz und so großer List ersonnen hatte. Und Kennedy bangte zum erstenmal ernsthaft um das Leben seiner Tochter.
Der Präsident wandte sich vom Fenster ab und kehrte zum Konferenztisch zurück. Er musterte den Raum, der angefüllt war mit den hochrangigsten Persönlichkeiten des ganzen Landes, den cleversten, den intelligentesten, den Ränkeschmieden, den Plänemachern. Keiner von ihnen ahnte etwas. Beinah scherzhaft sagte er: »Was wollt ihr wetten, Freunde, daß wir heute die Forderungen der Entführer erhalten? Und eine davon wird die Entlassung dieses Papstmörders sein.«
Die anderen starrten Kennedy verblüfft an. »Mr. President«, protestierte Otto Gray, »das ist ziemlich weit hergeholt. Das ist eine ungeheuerliche Forderung und wäre absolut unerfüllbar.«
Theodore Tappey sagte bedächtig: »Die Geheimdienstinformationen ergeben keine Verbindung zwischen den beiden Vorfällen. Und es wäre tatsächlich unvorstellbar, daß eine Terroristengruppe am selben Tag in derselben Stadt zwei so immense Operationen durchführt.« Er hielt einen Moment inne; dann wandte er sich an Christian Klee. »Herr Justizminister«, sagte er, »wie ist dieser Mann gefunden worden?« Und ergänzte mit Abscheu im Ton: »Dieser Romeo.«
»Durch einen Informanten, der seit Jahren für uns arbeitet«, antwortete Christian Klee. »Wir hielten das für unmöglich, doch Peter Cloot, mein Stellvertreter, hat eine umfassende Aktion gestartet, die anscheinend Erfolg gehabt hat. Ich muß gestehen, daß ich erstaunt bin. Es ergibt irgendwie keinen Sinn.«
Francis Kennedy sagte ruhig: »Helen, Gentlemen, wir werden diese Besprechung vertagen, bis die Entführer ihre Forderungen gestellt haben. Vorab aber noch folgendes: Wir werden ihnen geben, was sie verlangen. Der Außen- und der Justizminister werden die Italiener hinhalten, wenn sie Romeos Auslieferung verlangen. Sie, Wix, die Verteidigung und das Außenministerium, machen sich bereit, auf Israel einzuwirken, falls zu den Forderungen auch die Freigabe arabischer Gefangener aus deren Händen gehört. Und Sie, Otto, bereiten den Kongreß und Ihre Freunde dort auf das vor, was unsere Gegner als bedingungslose Kapitulation bezeichnen werden.« Nun wandte sich Kennedy an seinen Stabschef. »Eugen, Sie teilen dem Pressesprecher mit, daß ich keinen persönlichen Kontakt mit den Medien wünsche, bis diese Krise vorüber ist. Und daß jede Presseverlautbarung von mir freigegeben werden muß, nicht von Ihnen.«
»Yes, Sir«, gab Eugene Dazzy zurück.
Beinahe heftig sagte Francis Kennedy dann zu allen Anwesenden: »Es wird keine direkten Kommentare von Ihnen der Presse gegenüber geben. Und hoffentlich auch keine undichten Stellen. Das wäre alles. Bitte halten Sie sich zur Verfügung.«
Yabrils Forderungen kamen am Spätnachmittag des Montags über die Fernmeldestelle des Weißen Hauses, übermittelt über den scheinbar so hilfsbereiten Sultan von Sherhaben. An erster Stelle wurde ein Lösegeld von fünfzig Millionen Dollar für die Maschine gefordert. An zweiter die Freigabe von sechshundert arabischen Häftlingen aus israelischen Gefängnissen. An dritter die Freilassung des jüngst verhafteten Papstattentäters Romeo sowie seine Überstellung nach Sherhaben. Falls diese Forderungen nicht binnen vierundzwanzig Stunden erfüllt sein sollten, werde eine Geisel erschossen.
Der Präsident, sein Stab, sein Kabinett und seine Sonderberater traten sofort wieder zusammen, um Yabrils Forderungen zu diskutieren. Francis Kennedy versuchte, sich in die Terroristen und ihre Gedankengänge hineinzuversetzen – eine Gabe, die ihm schon immer zu eigen gewesen war. Hauptziel der Terrorgruppe war es, die Vereinigten Staaten zu demütigen, ihren Schutzmantel der Macht in den Augen der Welt, ja sogar in den Augen der freundlich gesonnenen Nationen zu zerstören. Kennedy hielt das für ein psychologisches Meisterstück. Wer konnte Amerika je wieder ernst nehmen, wenn es von ein paar Bewaffneten und einem winzigen Öl-Sultanat mit der Nase in den Dreck gestoßen wurde? Aber Kennedy wußte auch, daß er es zulassen mußte, wenn er seine Tochter heil und gesund nach Hause holen wollte. Mit seiner Gabe des Sichhineinversetzens ahnte er, daß das Szenario noch nicht komplett war, daß noch weitere Überraschungen folgen würden. Das jedoch sprach er nicht aus, sondern ließ die anderen im Cabinet Room die Diskussionen fortsetzen.
Der Außenminister überbrachte die Empfehlungen seines Ministerialstabs: den Papstmörder nach Rom zurückzuschicken, damit sich die italienischen Behörden mit ihm befassen konnten. Dann müßten die Entführer ihre Forderung nach Romeos Freilassung an die italienische Regierung richten. Wie alle bemerkten, wandte Francis Kennedy bei diesem Vorschlag schweigend den Kopf ab.
Die Drohung der Entführer, eine der Geiseln hinzurichten, falls ihre Forderungen nicht binnen vierundzwanzig Stunden erfüllt wurden, machte auf die Präsidentenberater keinen Eindruck. Man konnte sie hinhalten, eine derartige Drohung war nichts Neues.
Einer der führenden Congressmen schlug vor, Präsident Kennedy möge sich in dieser Angelegenheit jeglicher Entscheidung enthalten, da seine Tochter betroffen und er emotional möglicherweise nicht in der Lage sei, die effektivste Entscheidung zu treffen.
Der Congressman, der diesen Vorschlag machte, war Alfred Jintz, ein Republikaner-Veteran, der zwanzig Dienstjahre auf dem Buckel hatte und sich in den drei Jahren der Kennedy-Administration als einer der erfolgreichsten Blockierer aller vom Weißen Haus eingebrachten Gesetzesvorschläge für Sozialhilfen hervorgetan hatte. Wie fast alle Congressmen, die die ersten Amtsperioden überstanden hatten und alles taten, was den großen Industriekonzernen nützte, wurde Jintz jedesmal automatisch wiedergewählt. Kennedy verbarg seine Abneigung gegen den Vorschlag und den Congressman nicht. In diesen drei Jahren als Präsident hatte Francis Kennedy eine ausgesprochene Verachtung für die Legislative der Regierung entwickelt. Beide Organe, das Repräsentantenhaus und der Senat, pflanzten sich automatisch selber fort. Im Repräsentantenhaus gewannen sie, obwohl die Congressmen alle zwei Jahre kandidieren mußten, durch den Einfluß ihrer Positionen, vor allem als Ausschußvorsitzende, lebenslangen Anspruch auf ihren Sitz. Sobald ein Congressman klargestellt hatte, daß er von der Nützlichkeit und Bedeutung des Big Business überzeugt war, flössen Millionen von Dollars in seine Wahlkassen, Millionen, mit denen er TV-Zeit kaufen konnte, um seine Wiederwahl zu gewährleisten. Und von den 435 Abgeordneten war kein einziger ein Arbeiter. Was hingegen den Senat mit seinen sechsjährigen Amtsperioden betraf, so hätte ein Senator wohl äußerst dumm oder äußerst idealistisch sein müssen, um nicht zwei- oder dreimal wiedergewählt zu werden. In Kennedys Augen war das Verrat an der Demokratie.
In diesem Augenblick tobte in Francis Kennedy eine eiskalte Wut auf Jintz wie auch auf sämtliche Mitglieder des Repräsentantenhauses und des Senats.
Als Alfred Jintz den Vorschlag machte, daß Kennedy sich aus den Verhandlungen zurückziehen solle, geschah das mit größter Höflichkeit und äußerstem Takt. Thomas Lambertino, der New Yorker Senator, erklärte, daß auch der Senat der Ansicht sei, der Präsident solle sich heraushalten.
Kennedy erhob sich und wandte sich an die Anwesenden. »Ich danke Ihnen allen für Ihre Hilfe und Vorschläge. Meine Mitarbeiter und ich werden uns später zusammensetzen und Sie von allen Entscheidungen sofort unterrichten. Vor allem danke ich Congressman Jintz und Senator Lambertino für ihre Vorschläge, über die ich nachdenken werde. Vorerst aber muß ich Ihnen mitteilen, daß alle Instruktionen und Anordnungen ausschließlich von mir persönlich ausgehen werden. In dieser Angelegenheit werde ich keine Entscheidung delegieren. Das wäre alles. Bitte halten Sie sich zur Verfügung.«
Vizepräsidentin Helen DuPray hatte das alles schweigend beobachtet. Sie wußte, daß dies nicht der richtige Zeitpunkt war, sich dem Präsidenten entgegenzustellen, nicht einmal unter vier Augen.
Francis Kennedy dinierte mit seinem persönlichen Beraterstab im großen Nordwestspeisezimmer im ersten Stock des Weißen Hauses. Der antike Tisch war für Otto Gray, Arthur Wix, Eugene Dazzy und Christian Klee gedeckt. Kennedys Platz am Kopfende des Tisches war so arrangiert, daß ihm mehr Raum zur Verfügung stand als den anderen Herren.
Kennedy blieb stehen, bis alle anderen Platz genommen hatten. Grimmig lächelte er ihnen zu. »Vergessen wir heute den Unsinn, den wir gehört haben. Dazzy, Sie teilen dem Sultan mit, daß wir alle Forderungen der Hijacker noch vor Ablauf der Vierundzwanzig-Stunden-Frist erfüllen werden. Den Papstkiller werden wir nicht nach Italien zurückschicken, sondern nach Sherhaben. Und Sie, Wix, üben Druck auf Israel aus. Die sollen ihre Gefangenen freilassen, oder sie werden, solange ich im Amt bin, keine einzige amerikanische Waffe mehr sehen. Sagen Sie das dem Außenminister; kein diplomatisches Herumgerede, einfach die Fakten auf den Tisch.«
Schließlich setzte er sich und winkte den Stewards, ihm vorzulegen. Dann ergriff er abermals das Wort. »Ich möchte hier ein für allemal klarstellen, daß es für mich, ganz gleich, was ich auf all diesen Sitzungen sagen muß, nur eine einzige Priorität geben kann: Theresa heil und sicher nach Hause zu holen. Ohne den Terroristen einen Vorwand für ein weiteres Verbrechen zu liefern.«
Arthur Wix ließ seine Hände auf dem Schoß liegen, als wolle er das Essen verweigern. »Sie geben sich da eine empfindliche Blöße«, sagte er. »Wir sollten lieber doch verhandeln; das ist unabdingbar bei Geiselnahmen. Sie müssen wenigstens einige Regeln beachten, bevor Sie tun, was die von Ihnen wollen. Dann können wir alles rechtfertigen.«
»Das ist mir klar«, antwortete Kennedy. »Ich möchte nur kein Risiko eingehen. Außerdem habe ich nur noch ein Amtsjahr vor mir, und Sie wissen, daß ich nicht noch einmal kandidieren werde. Wie also könnten sie mir schaden? Otto, Sie beknien die Kongreßführer. Verschwenden Sie keine Zeit auf Jintz. Dieser Scheißkerl ist in den letzten drei Jahren in jeder Frage gegen mich gewesen.« Die Herren begannen schweigend zu essen; alle fanden sie, daß Kennedy die Regierung in eine schwierige Situation manövriere. Als sie beim Kaffee angekommen waren, wurde der Offizier vom Dienst hereingeführt und händigte Christian Klee eine Nachricht aus. Christian las sie. Dann sagte er zu Kennedy: »Francis, ich muß sofort in mein Büro. Diese Nachricht unterliegt strengster Geheimhaltung; ich kann nicht telefonisch darüber verhandeln. Sobald ich mehr weiß, bin ich zurück. Anscheinend gibt es da etwas, das meine unmittelbare Aufmerksamkeit erfordert.«
Ungehalten fragte ihn Kennedy: »Warum zum Teufel kommen die dann nicht her und unterrichten uns beide?«
Christian lächelte ihm freundlich zu. »Das weiß ich nicht, aber es gibt bestimmt einen Grund dafür. Vielleicht wollten sie dich nicht damit belästigen, bevor ich mein Okay gebe.« Er log. Er hatte sein System so aufgebaut, daß der Präsident niemals informiert werden konnte, bevor Christian selbst informiert worden war. Eines wußte Christian jedoch genau: daß dies die erste Nachricht aus seinem Büro war, die den Ultra-Geheim-Code trug. Es mußte eine erschreckende Nachricht sein.
Mit einer ungeduldigen Geste winkte Francis Kennedy ab. Er wußte, daß mit Christians Antwort etwas nicht in Ordnung war, daß er irgendwie hintergangen wurde, aber er achtete stets darauf, niemals seine Mitarbeiter zu kritisieren, nicht einmal seine Freunde. Denn wie er wußte, verlieh die Macht des hohen Amtes seinen Worten und Taten so viel Gewicht, daß er seinen kleinen Verärgerungen nicht nachgehen durfte.
Kurz nach seiner Wahl zum Präsidenten hatte er zum Beispiel eine seiner gewohnt freundschaftlichen politischen Meinungsverschiedenheiten mit seiner Tochter Theresa. Es machte ihm Spaß, ihre Argumente mit seiner überlegenen Erfahrung abzuschmettern, um anschließend einen blitzschnellen Ausfall gegen ihre radikalen Freunde anzubringen. Zu seiner Überraschung brach sie jedoch in Tränen aus und floh. Erst da wurde ihm klar, daß er sich diese ganz natürlichen, verbalen Waffengänge mit engen Freunden und Verwandten auf Grund des öffentlichen Gewichts seines Amtes nicht leisten konnte. Sogar Christian gegenüber mußte er vorsichtig sein. In früheren Zeiten hätte er Christian erklärt, das sei doch Unsinn, und die Wahrheit von ihm verlangt.
Oddblood Gray unterbrach seine Überlegungen. »Mr. President«, sagte er, »warum versuchen Sie nicht ein bißchen zu schlafen? Wir werden für Sie Wache halten und Sie wecken, sobald es etwas gibt, das Ihre Aufmerksamkeit erfordert.«
Kennedy sah die besorgten Mienen seiner Berater. Während des Dinners hatten sie alles getan, ihn hinsichtlich der Sicherheit seiner Tochter zu beruhigen, ihm zu erklären, ihr drohe keine echte Gefahr. Und sie waren ihm gegenüber förmlicher gewesen als sonst – so, wie eben Menschen in Zeiten schwerer Gefahren oder Tragödien gewöhnlich miteinander umzugehen pflegen.
»Das werde ich tun, Otto«, versprach Kennedy. »Ich danke Ihnen allen.«
Mit diesen Worten ging er hinaus.
Nachdem Christian Klee das Weiße Haus verlassen hatte, begab er sich direkt in die FBI-Zentrale. Protokollgerecht fuhren zwei Sicherheitsfahrzeuge vor ihm her, während ein drittes seinem Wagen folgte.
In seinem Büro erwartete ihn sein Stellvertreter, der Mann, der das FBI de facto leitete.
Peter Cloot war ein Mann, den Christian verstand, den zu mögen er sich aber nie so recht durchringen konnte. Cloot war Teil jener Abmachung, die Kennedy mit dem Kongreß ausgehandelt hatte, als Christian Klee zum Justizminister, FBI-Chef und Leiter des Secret Service zugleich gemacht wurde. Cloot war der Mann, den der Kongreß dazu bestimmt hatte, Christian Klee im Auge zu behalten.
Cloot war so hager, daß sein Körper einem flachen Brett aus Muskeln glich. Er trug einen dünnen Schnurrbart, der die Härte seiner knochigen Züge aber auch nicht zu mildern vermochte. Als stellvertretender Leiter des FBI hatte Cloot durchaus seine Fehler. Er war zu unbeugsam bei der Erfüllung seiner Verpflichtungen, zu verbissen bei der Ausführung seiner Aufgaben, und zu versessen auf interne Sicherheit. Er trat für strengere Gesetze ein, forderte drakonische Strafen für Drogenhändler und Spione. Wann immer er konnte, umging er die Bürgerrechtsparagraphen der Verfassung, bewies aber stets ein ausgezeichnetes Urteilsvermögen. Und er hatte bisher niemals umsonst Alarm geschlagen. In den ganzen drei Jahren, in denen er bei der Leitung des FBI mit Christian zusammenarbeitete, hatte er ihm niemals eine derart gekennzeichnete Nachricht zukommen lassen.
Als Christian vor über drei Jahren jemanden für den Posten des stellvertretenden Leiters für das FBI suchte, hatte der Kongreß ihm drei Kandidaten angeboten, darunter Peter Cloot. Daß es Cloot einen Dreck kümmerte, ob er den Job bekam oder nicht, war vom ersten Moment an nicht zu übersehen. Er war ganz außerordentlich offen gewesen.
»Für die Linken bin ich ein Reaktionär, für die Rechten ein Terrorist«, erklärte Cloot. »Wenn ein Mensch eine sogenannte kriminelle Handlung begeht, sehe ich das als Sünde an. Die Anwendung der Gesetze ist meine Theologie. Ein Mensch, der eine kriminelle Handlung begeht, übt die Macht Gottes über einen anderen Menschen aus. Damit fallt dem Opfer die Entscheidung darüber zu, ob es diesen anderen Gott in seinem Leben akzeptieren will. Wenn das Opfer und die Gesellschaft die kriminelle Handlung auf irgendeine Weise akzeptieren, zerstören wir den Überlebenswillen unserer Gesellschaft.« Und weiter: »Weder die Gesellschaft noch der einzelne haben das Recht, zu vergeben oder die Strafe zu mildern. Warum die Tyrannei des Kriminellen über eine gesetzestreue Bevölkerung akzeptieren, die sich an den Gesellschaftsvertrag hält? Durch grauenhafte Fälle von Mord, Raubüberfall und Vergewaltigung proklamiert der Kriminelle seine Göttlichkeit.«
Christian entgegnete lächelnd: »Sollen wir sie alle ins Gefängnis stecken?«
»Dazu haben wir nicht genug Gefängnisse«, sagte Peter Cloot grimmig.
Christian hatte ihm den jüngsten computerisierten Statistikbericht über Verbrechen in Amerika gegeben. Cloot studierte ihn minutenlang.
Dann sagte er: »Es hat sich nichts verändert.« Und fing an zu wettern. Anfangs hatte Christian ihn für verrückt gehalten. Cloot sagte so manches Verrückte...
»Wenn den Leuten nur die Verbrechensstatistik bekannt wäre«, sagte er. »Wenn die Leute nur wüßten, wie viele Verbrechen gar nicht erst in die Statistik kommen. Einbrecher, sogar mit Vorstrafen, kommen so gut wie nie ins Gefängnis. Das Heim, in das die Regierung nicht eindringen darf, dieser kostbare Freiraum, geheiligt durch den Gesellschaftsvertrag, dieses geheiligte Heim also wird routinemäßig von bewaffneten Mitbürgern verletzt, die auf Diebstahl, Mord und Vergewaltigung aus sind.«
Hier zitierte Cloot jenen beliebten Satz aus dem englischen Recht: »›Der Regen darf eindringen, der Wind darf eindringen, aber der König darf nicht eindringen.‹ Was für ein Scheiß!« erklärte Cloot. Und fuhr fort: »In Kalifornien allein gibt es sechsmal soviel Morde pro Jahr wie in ganz England. In Amerika sitzen die Mörder weniger als fünf Jahre im Kittchen. Vorausgesetzt natürlich, ein Wunder geschieht, und man kann sie tatsächlich verurteilen.«
So dozierte Cloot mit seiner rauhen, tonlosen Stimme weiter. Christian langweilte sich unendlich...
Über den Supreme Court mit seiner majestätischen Unkenntnis des Alltagslebens schimpfte Cloot, über die niederen Gerichte mit ihrer Bestechlichkeit, über das Heer der geldgierigen Anwälte, zur Schlacht gerüstet wie Samurai, die für so bösartige Verbrecher stritten, daß sie Grimms Märchen entstiegen sein könnten.
Und über die Sozialwissenschaftler, die Psychiater, die Pandits der Ethik, die all diese Verbrecher mit dem wärmenden Mantel der angeblichen Umwelteinflüsse schützten, und die allgemeine Bevölkerung, die Geschworene stellte, die zu feige waren, einen Verbrecher zu verurteilen.
»Die Menschen in Amerika werden von wenigen Millionen Verrückten terrorisiert«, behauptete Cloot. »Sie haben Angst, am Abend auf die Straße zu gehen. Sie schützen ihre Häuser durch private Sicherheitseinrichtungen, die dreißig Milliarden Dollar pro Jahr kosten.«
Cloot schimpfte über die Weißen, die sich vor den Schwarzen fürchteten, die Schwarzen, die sich vor den Weißen fürchteten, und die Reichen, die sich vor den Armen fürchteten. Über Senioren, die Revolver in ihren Einkaufstaschen mitführten, weil sie sich vor den Jugendlichen fürchteten. Über Frauen, die sich vor Vergewaltigung fürchteten und den schwarzen Gürtel zu erringen versuchten, während andere, Millionen von ihnen, mit Waffen in der Tasche herumliefen.
»Unsere beschissene Bill of Rights«, schimpfte Cloot. »Wir haben die höchste Verbrechensrate der gesamten zivilisierten Welt.«
Vor allem aber einen Aspekt haßte Cloot: »Wissen Sie, daß 98% aller Verbrechen ungeahndet bleiben? Nietzsche hat das vor langer Zeit einmal so erklärt: ›Wenn eine Gesellschaft zu weich und sanft wird, stellt sie sich auf die Seite jener, die ihr Schaden zufügen.‹ Die religiösen Organisationen mit all ihrem Gnadengewinsel vergeben den Verbrechern. Aber sie haben nicht das Recht, den Verbrechern zu vergeben, diesen Schweinen! Das schlimmste, was ich jemals gesehen habe, war eine Mutter im Fernsehen, deren Tochter auf ganz furchtbare Weise vergewaltigt und ermordet worden war, und die tatsächlich sagte: ›Ich verzeihe ihnen.‹ Welches verdammte Recht hatte die, diesen Ungeheuern zu vergeben?«
Und dann attackierte Cloot zu Christians leicht versnobtem Erstaunen die Literatur. »Orwell hat alles verdreht, in 1984«, erklärte er. »Der einzelne ist das Ungeheuer, und das hat Huxley in Brave New World als schlecht herausgestellt. Aber ich hätte nichts dagegen, in einer Brave New World zu leben, die wäre jedenfalls besser als unsere. Der einzelne ist der Tyrann, nicht die Regierung.« Aber es war noch nicht vorüber.
Besonders die Anwälte haßte Cloot, obwohl er selbst Jura studiert hatte. Den Obersten Gerichtshof hielt er für einen Witz. Nach seiner Auffassung kamen die Kriminellen in der amerikanischen Gesellschaft am besten weg, und er scheute sich auch nicht, sämtliche innerhalb seiner Kompetenz liegenden Gesetzeslücken zu benutzen, um Behinderungen durch Dienstvorschriften zu durchkreuzen. Dabei achtete er streng darauf, nichts Gesetzwidriges zu tun, etwa Beweise unterzuschieben oder zu offensichtlich zu verdrehen, scheute sich aber nicht, Beweise zu unterdrücken, die er nicht verwendet sehen wollte.
Christian hegte Zweifel an Cloot – bis zu ihrem letzten Einstellungsgespräch. Da hatte er Peter Cloot den dicken Statistikbericht ausgehändigt und ihn um Kommentare dazu gebeten.
Cloot tippte auf die Computerausdrucke. »Alles altbekannt«, erklärte er. »Wollen Sie wirklich darüber reden?«
Christian antwortete ernsthaft und ein wenig naiv: »Ich staune über die Zahlen. Die Bevölkerung des Landes wird eindeutig terrorisiert. Nun gut, vielleicht ein zu harter Ausdruck. Aber wurde dies denn während Ihrer Amtsperiode von unserem ehemaligen Präsidenten niemals angesprochen?«
Cloot paffte an seiner Zigarre. »Wir haben’s versucht. Aber der Kongreß hat die erforderlichen Gesetze nie verabschiedet. Die Presse und andere Medien schreien Zeter und Mordio über die Bill of Rights, unsere geheiligte Verfassung. Und die Bürgerrechtsorganisationen sind uns ständig auf den Fersen. Ganz zu schweigen von den Schwärzen-Lobbys, für die Law and Order Schimpfworte sind. Und gewissen Gruppen von Liberalen. Und diesen Weibern, so ganz bestimmten Typen, die auf Verbrecher hinter Gittern scharf sind und Gesuche für ihre Begnadigung einreichen. Also hätte der Kongreß niemals gewinnen können.«
Christian schob einen riesigen Aschenbecher über die rote Glasplatte, und Cloot streifte seine Zigarre darin ab. Dann griff Christian zu seiner Kopie des Berichts und erkundigte sich: »War es früher auch schon so schlimm?«
»Schlimmer«, gab Cloot zurück. Der Zigarrenrauch krönte seinen Kopf wie ein Heiligenschein, durch den hindurch er ironisch grinste. Er verdaute gerade einen ausgezeichneten Lunch, genoß seine Zigarre und war daher in der richtigen, entspannten Stimmung für weitere Ausführungen. »Ich werde Ihnen ein paar kleine Einblicke geben, ob Sie mir glauben oder nicht. Das wirklich Erstaunliche ist, daß ich diese Situation schon mit den Mächtigsten des Landes durchdiskutiert habe, den Männern mit viel Geld. Ich habe vor dem Socrates Club gesprochen. Ich dachte, die würden sich Sorgen machen. Aber von wegen! Die hätten die Macht, den Kongreß zu beeinflussen, aber sie weigerten sich rundweg. Und Sie würden im Leben nicht erraten, warum. Ich jedenfalls konnte es nicht.« Er hielt inne, als erwarte er, daß Christian zu raten begann.
Sein Gesicht verzog sich zu einem Ausdruck, der ein Lächeln oder auch eine verächtliche Grimasse sein konnte. »Die Reichen und Mächtigen dieses Landes verstehen es, sich selbst zu schützen. Die brauchen weder Polizei noch Regierungsorganisationen. Die umgeben sich mit teuren Sicherheitssystemen. Die haben private Leibwächter. Die sind vor den Verbrechern hundertprozentig geschützt. Und die Vorsichtigen hüten sich auch davor, Kontakt zu wilden Drogenkreisen zu haben. Die können bei Nacht beruhigt hinter ihren elektrisch gesicherten Mauern schlafen.«
Cloot machte eine Pause. Christian rutschte voll Unbehagen hin und her und trank einen kleinen Schluck Brandy, während Cloot ein halbes Glas kippte. Dann sprach Cloot weiter.
»Da dies ein Gespräch unter vier Augen ist, kann ich offen sein. In der Politik darf man nicht aussprechen, daß die Schwarzen prozentual weit mehr Verbrechen begehen, als ihr Bevölkerungsanteil ausmacht. Wir beide kennen natürlich die Gründe, sie sind finanzieller und kultureller Natur, und dieses Land hat eine lange, skandalöse Geschichte der Unterdrückung von Schwarzen zu verzeichnen. Die Tatsache selbst aber bleibt bestehen.«
Cloot griff wieder zu seiner Zigarre. »Die Weißen sind übrigens die gefährlicheren Verbrecher. Ich habe noch nie einen schwarzen Serienkiller erlebt, noch nie einen Schwarzen, der soviel Geld gestohlen hat wie ein Wall-Street-Betrüger. Und noch nie einen schwarzen politischen Attentäter.«
»Sie schleichen wie die Katze um den heißen Brei«, warf Christian ein.
Cloot lachte. »Okay«, sagte er. »Der springende Punkt ist folgender: Nehmen wir an, wir verabschieden Gesetze zur Verbrechensbekämpfung. Dann bestrafen wir die schwarzen Kriminellen weit häufiger als alle anderen. Und wo sollen diese unbegabten, ungebildeten, hilflosen Menschen hin? Welche anderen Möglichkeiten haben sie außer unserer Gesellschaft? Wenn sie kein Ventil im Verbrechen haben, werden sie politisch aktiv, werden sie Radikale. Und werden das politische Gleichgewicht dieses Landes stören, bis wir vielleicht keine kapitalistische Demokratie mehr haben.«
»Glauben Sie wirklich an diesen Quatsch?« erkundigte sich Christian.
Cloot seufzte. »Mann Gottes, wer weiß das schon? Aber die Menschen, die unser Land regieren, glauben daran. Die sagen sich, laßt die Schakale sich an den Hilflosen sattfressen. Was können die schon stehlen – ein paar Milliarden Dollar? Ein kleiner Preis! Tausende werden vergewaltigt, beraubt, ermordet, überfallen – spielt keine Rolle, sind ja nur kleine Leute. Besser ein so geringer Schaden als ein echter politischer Umsturz.«
»Ich glaube, jetzt gehen Sie zu weit«, meinte Christian.
»Kann schon sein«, räumte Cloot ein.
»Und wenn es zu weit geht«, sagte Christian, »wird es alle möglichen Bürgerwehr- und Spitzelgruppen geben, Faschismus im amerikanischen Gewand.«
»Aber das ist die Art politischer Aktivität, die unter Kontrolle gebracht werden kann«, behauptete Cloot. »Das wird den Leuten helfen, die unsere Gesellschaft in der Hand haben.«
Beide schwiegen; dann fuhr Cloot fort: »Sie zeigen mir hier diesen beschissenen Computerbericht. Soll ich deswegen in Ohnmacht fallen? Als junger Staatsanwalt habe ich diese Statistiken in Blut geschrieben gesehen. Wir hatten unsere Piepser vierundzwanzig Stunden am Tag bei uns, und ich wurde oft genug mitten in der Nacht aus dem Bett geholt. Ehemänner, die ihre Frauen mit der Axt ermordeten und dann nur fünf Jahre im Gefängnis saßen. Junge, gedopte Punks, die alte Frauen wegen ihrer kleinen Rente umbrachten, neunzig verdammte Dollar. Und dann kommen die Mörder ungestraft davon, weil irgendwo ihre Bürgerrechte mißachtet worden waren. Einbrecher, Banditen, Bankräuber – es war wie der Gewinn einer Goldmedaille. Ein einziger, beschissener Witz. Und die Zeitungen zitierten 1984 und diesen beschissenen George Orwell. Hören Sie, ich hab gesehen, wie die Eltern von ermordeten Mädchen weinten, weil ihr Leben für immer ruiniert war, und die Killer kriegten nur einen Klaps auf die Hand, weil sie einen hochklassigen Verteidiger, stupide Geschworene und irgendeinen schwulen Kirchenmogul hatten, der sich für sie einsetzte. Und was kriegten sie, diese Mörder, falls sie überhaupt verurteilt wurden? Drei Jahre, fünf Jahre. Das Strafsystem in diesem Land ist ein einziger Witz. Die Leute, die dieses Land regieren, die Reichen, die Kirche, die Politiker, meine Anwaltskollegen, sie alle wollen, daß es so ist. Keine radikalen politischen Bewegungen, dicke Honorare, fette Schmiergelder. Na, was schon, wenn ein paar hunderttausend kleine Leute ermordet werden? Wen kümmert’s, daß Millionen überfallen, erschlagen und vergewaltigt werden?« Cloot hielt inne, um sich das schweißnasse Gesicht mit der Serviette zu trocknen, und ergänzte müde: »Es war immer alles so sinnlos.«
Dann lächelte er Christian zu und griff nach dem Computerbericht. »Den würde ich gern behalten«, sagte er. »Nicht, um mir den Hintern damit zu wischen, wie ich es eigentlich tun sollte. Nein, um ihn mir einrahmen zu lassen und an die Wand meines Arbeitszimmers zu hängen. Denn da wird er sicher sein. Ich habe mein Haus mit einer Sicherheitsanlage für fünfzigtausend Dollar geschützt.«
Aber Cloot hatte sich als enorm tüchtiger Vizechef des FBI erwiesen und begrüßte Christian an diesem Abend mit grimmiger Miene sowie einer Handvoll Memos und einem dreiseitigen Schreiben, das er Christian getrennt von den anderen überreichte.
Es war ein aus Zeitungsausschnitten zusammengesetzter Text. Christian las. Wieder eine von diesen irrwitzigen Drohungen, daß eine hausgemachte Atombombe in New York City hochgehen werde. »Und dafür haben Sie mich aus dem Büro des Präsidenten geholt?« erkundigte sich Christian ärgerlich.
»Ich habe abgewartet, bis wir sämtliche Testverfahren ausgeführt hatten«, erklärte Peter Cloot. »Diese Drohung könnte möglicherweise echt sein.«
»O Gott!« stöhnte Christian. »Nicht jetzt!« Er las das Schreiben abermals, und diesmal genauer. Die verschiedenen Schrifttypen verwirrten ihn. Der Brief wirkte wie ein bizarres avantgardistisches Gemälde. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und studierte ihn langsam, Wort für Wort. Das Schreiben war an die New York Times adressiert. Zunächst las er die Abschnitte, die dick mit grünem Filzstift markiert waren, um den Kern der Informationen hervorzuheben.
Die markierten Briefteile lauteten:
»Wir haben eine Atombombe mit einer Minimum-Sprengkraft von einer halben Kilotonne und einer Maximum-Sprengkraft von zwei Kilotonnen in New York City deponiert. Dieser Brief geht an Ihre Zeitung, damit Sie ihn veröffentlichen, die Bewohner der City gewarnt werden und die City verlassen können.
Der Sprengkörper ist so eingestellt, daß er sieben Tage nach dem obengenannten Datum explodiert. Daher werden Sie einsehen, wie wichtig es ist, diese Mitteilung umgehend zu veröffentlichen.« Klee sah nach dem Datum; die Explosion sollte am Donnerstag erfolgen. Dann las er weiter. »Wir tun dies, um der Bevölkerung der Vereinigten Staaten zu beweisen, daß sich die Regierung mit dem Rest der Welt auf der Basis gleichwertiger Partnerschaft zusammentun muß, um die Kernenergie unter Kontrolle zu bringen. Sonst ist unser Planet verloren.
Wir lassen uns unter keinen Umständen durch Geld oder andere Zugeständnisse kaufen. Indem Sie dieses Schreiben veröffentlichen und damit die Evakuierung von New York City erzwingen, werden Sie Tausende von Menschenleben retten.
Zum Beweis dafür, daß dies eine ernstgemeinte Warnung ist, lassen Sie das Kuvert und das Papier von regierungseigenen Labors untersuchen. Sie werden Spuren von Plutoniumoxyd finden.
Veröffentlichen Sie dieses Schreiben sofort!«
Der Rest des Schreibens bestand aus einem Vortrag über politische Moral und der leidenschaftlichen Forderung an die Vereinigten Staaten, die Produktion von Kernwaffen einzustellen.
»Haben Sie das Ding untersuchen lassen?« erkundigte sich Christian bei Peter Cloot.
»Allerdings«, antwortete der andere. »Es gibt tatsächlich Spuren. Die einzelnen Buchstaben sind aus Zeitungen und Zeitschriften ausgeschnitten, geben aber keinen einzigen Hinweis. Der oder die Schreiber waren so klug, Zeitungen aus allen Teilen des Landes zu benutzen. Aber es besteht ein winziges Übergewicht von Bostoner Blättern. Ich habe fünfzig Mann zusätzlich hinübergeschickt, um dem dortigen FBI-Chef zu helfen.«
Christian seufzte. »Wir haben eine lange Nacht vor uns. Am besten spielen wir die Sache möglichst herunter. Und kein Wort zu den Medien. Zentrale Befehlsstelle wird mein Büro, sämtliche Papiere werden mir zugeleitet. Der Präsident hat genug Probleme; lassen wir dieses Ding einfach verschwinden. Es ist genauso ein Mist wie alle anderen Idiotenbriefe.«
»Na schön«, gab Peter Cloot nach. »Aber eines Tages, wissen Sie, wird eins von ›diesen Dingern‹ wirklich echt sein.«
Es wurde eine lange Nacht. Die Berichte strömten nur so herein. Der Chef der Kernforschungsbehörde mußte informiert werden, damit er seine Suchtrupps alarmieren konnte. Diese Teams bestanden aus Spezialisten mit hochentwickelten Detektorgeräten, mit denen sie versteckte Atombomben aufzuspüren vermochten. Christian ließ für sich und Cloot etwas zu essen kommen und studierte die Berichte. Die New York Times hatte das Schreiben natürlich nicht veröffentlicht, sondern routinemäßig dem FBI zugeleitet. Christian rief den Chefredakteur der Times an und bat ihn, die Meldung zurückzuhalten, bis die Untersuchungen abgeschlossen seien. Das war ebenfalls Routine, denn die Zeitungen hatten im Laufe der Jahre Tausende von ähnlichen Briefen erhalten. Doch auf Grund genau dieser Gewöhnung war das Schreiben erst am Montag statt am Samstag an den Adressaten gelangt.
Kurz vor Mitternacht kehrte Peter Cloot in sein eigenes Büro zurück, um seine Mitarbeiter zu instruieren, die Hunderte von Anrufen von Außendienstagenten, zumeist aus Boston, erhielten. Christian fuhr fort, die eingehenden Berichte zu lesen. Vor allem wollte er verhindern, daß dieses Problem die Last, die auf den Schultern des Präsidenten ruhte, noch vergrößerte. Minutenlang dachte er daran, daß dies möglicherweise ein weiterer Trick im Plan der Entführer sei, aber selbst die würden es wohl nicht wagen, mit so hohen Einsätzen zu pokern. Hier mußte es sich vielmehr um einen der vielen seltsamen Auswüchse der Gesellschaft handeln. Atombombendrohungen hatte es zuvor schon gegeben: Fanatiker, die behaupteten, hausgemachte Atombomben gelegt zu haben, und Lösegelder von zehn bis hundert Millionen Dollar forderten. Einmal hatte ein Briefschreiber ein ganzes Paket von Wall-Street-Aktien gefordert, Anteile an IBM, General Motors, Sears, Texaco und einigen der Gentechnologie-Firmen. Als dieser Brief für die Erstellung eines Psycho-Profils der Energiebehörde vorgelegt wurde, hatte deren Antwort gelautet, das Schreiben enthalte keine Bombendrohung, der Terrorist jedoch sei hervorragend bewandert im Börsenhandel. Woraufhin ein kleiner Wall-Street-Broker verhaftet wurde, der Gelder seiner Klienten veruntreut hatte und nach einem Ausweg suchte.
Dies muß einfach wieder so ein Idiotenschreiben sein, dachte Christian, vorerst aber verursachte es Probleme. Hunderte Millionen Dollar mußten ausgegeben werden. Zum Glück würden die Medien das Schreiben diesmal zurückhalten. Denn einige Dinge gab es noch immer, mit denen diese eiskalten Schweine nicht herumzuspielen wagten. Sie wußten genau, daß es im Rahmen der Gesetze über Atombombenkontrolle streng geheime Anweisungen gab, die, wenn sie befolgt wurden, selbst den von der Bill of Rights sanktionierten Freiheiten ein Loch in den Pelz brennen konnten. Die nächsten Stunden verbrachte er damit, im stillen zu beten, daß dies alles nicht wahr sei und daß er am folgenden Morgen nicht zum Präsidenten gehen und ihm diesen Haufen Mist auf den Schreibtisch legen mußte.