Читать книгу Sie nannten mich Unkraut - Marion Döbert - Страница 7
ОглавлениеZu Hause
Eines Tages ersticken wir hier alle zusammen:
meine Eltern, meine Schwester und ich.
Wir ersticken dann wie der Kleine.
Der Kleine, der nur kurz mein Bruder war.
Er hat einfach keine Luft mehr bekommen.
Hier, in diesem Zuhause
ohne Luft, ohne Liebe, ohne Worte.
Am liebsten würde ich das Fenster aufreißen.
Aber dann würde mein Alter mich anbrüllen:
Du spinnst wohl, Jakob!
Meine Eltern wollen den Mief.
Sie wollen diese schlechte Luft.
Diese feuchte Wärme.
Diesen Geruch von Weich-Spüler.
Diesen Geruch von feuchter Wäsche
und Zigaretten-Rauch.
Meine kleine Schwester hat überlebt. So wie ich.
Wenn man den Anfang überlebt,
dann kommt man irgendwie durch.
Aber manchmal wünsche ich mir,
ich hätte den Anfang nicht überlebt.
Meine kleine Schwester sitzt auf dem Töpfchen.
Mitten im Wohnzimmer, vor dem Fernseher.
Alles passiert vor diesem Fernseher:
essen, rauchen, streiten und Pipi machen.
Meine kleine Schwester heißt Jacqueline.
Meine Eltern rufen sie Jäckie.
Aber eigentlich ist es egal,
wie wir Kinder heißen.
Hauptsache, wir halten unsere Klappe.
Deshalb sitzt Jäckie auf dem Piss-Pott.
Mit dem Schnuller im Mund.
Sie starrt in den Fernseher.
Das Licht flimmert blau über ihr Gesicht.
Von morgens bis abends.
Manchmal macht sie Pipi.
Aber sie merkt es nicht.
Ich merke es am Geruch.
Sogar durch den Rauch
der Zigaretten hindurch.
Im Zimmer nebenan liegt ein neues Baby.
Im Eltern-Schlafzimmer.
Ein neues Brüderchen.
Ein neuer Versuch.
Wegen dem Kindergeld.
An seinem kleinen Bett hängt ein Gerät.
Wenn das Baby nicht atmet,
piept es im Wohnzimmer.
„Geh mal nachsehen!“, sagt mein Vater.
„Immer ich“, stöhnt meine Mutter.
Jäckie macht wieder Pipi.
Ich will ihr den Po abwischen.
Jäckie schreit.
Ihr Po ist wund.
Da soll keiner rangehen.
„Bring Zigaretten mit!“, ruft mein Vater.
Meine Mutter kommt aus
dem Schlafzimmer zurück.
„Wieder mal falscher Alarm“, sagt sie.
Sie stöhnt und lässt sich ins Sofa fallen.
Am liebsten würde ich das Fenster aufreißen.
Oder meinem Vater die Fresse polieren.
Aber ich bin noch zu jung.
Vielleicht erstickt er ja an seinem Raucher-Husten.
Jeden Morgen denke ich daran.
Jeden Morgen, wenn er seinen Schleim abhustet.
Ich hoffe, dass der Alte verreckt.