Читать книгу Mörderisches aus dem Saarland - Marion Demme-Zech - Страница 6

Diesmal gehen Sie die Sache anders an!

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»Sich das alles still und ohne Gegenwehr gefallen zu lassen, das ist falsch. Das wissen Sie auch. Stehen Sie zu Ihren Empfindungen und seien Sie offen mit Ihren Gefühlen gegenüber anderen. Es soll sich doch etwas ändern, oder nicht?«

Regine nickt.

»In dem Fall sehen Sie diese Angelegenheit doch schlichtweg als Training, Frau Baumgarten. Das ist jetzt der Ernstfall, an dem sich durchspielen lässt, was wir die ganze Zeit geübt haben. Beweisen Sie sich selbst, dass Sie es besser können: Diesmal gehen Sie die Sache anders an!«, legt Frau Tietze-Meiermann ihrer Patientin nah, nachdem diese ihr von ihrem Verdacht berichtet hat.

Regine rückt die Tasche auf ihren Oberschenkeln zurecht und zupft an den schwarzen Henkeln. Sie nickt ein weiteres Mal, zugegeben recht verhalten.

»Wunderbar, da sind wir uns einig! Bieten Sie Ihrem Mann die Stirn, zeigen Sie Gefühle und werden Sie wütend.«

Der letzte Satz jagt Regine eine Riesenangst ein. In ihren Ohren rauscht es, doch sie bewegt trotzdem zustimmend den Kopf, während Frau Tietze-Meiermann fortfährt und ihr eine völlig neue Idee unterbreitet: »Wissen Sie was? Ich schlage vor: Das wird diesmal Ihre Hausaufgabe für die nächsten 14 Tage. Wehren Sie sich, wie, ist mir gleich. Von mir aus werden Sie fuchsteufelswild. Fluchen, schimpfen, brüllen – alles ist erlaubt. Lassen Sie der angestauten Wut ihren freien Lauf. Hauptsache …« Jetzt streckt die Therapeutin ihren Zeigefinger in die Höhe, und Regine verfolgt ihn mit großen Augen und schmalen Lippen. »Hauptsache, Sie wehren sich. Sagen Sie sich: ›Mit mir nicht mehr!‹«

Regines Hals ist trocken. Als sie die Tasche auf ihren Knien noch ein wenig enger zu sich heranzieht und zu einem scheuen »Ja, aber« ansetzt, schiebt Frau Tietze-Meiermann mit einem strengen Blick ihre Augenbrauen in die Höhe.

Regine gibt auf und haucht ein tonloses: »Einverstanden.«

»Sehr gut, Frau Baumgarten. So gefallen Sie mir. Wir sind einer Meinung.« Das Gesicht der Therapeutin entspannt sich, und sie steht demonstrativ auf. Es ist Zeit, die 50 Minuten sind abgelaufen, folgert Regine und macht sich zum Gehen bereit.

»Sie werden sehen, sich zur Wehr zu setzen stärkt Ihr Selbstvertrauen«, verspricht die Therapeutin und reicht ihr zum Abschied die Hand. »Zeigen Sie, wann Ihre Grenze erreicht ist. Das wird Ihrer Ehe guttun.«

Regine nickt ein allerletztes Mal.

Als sie ein paar Sekunden später draußen vor der Praxistür steht und ihren Regenschirm aufspannt, stellt sie in Gedanken fest, dass sie heute beim Termin noch seltener als sonst zu Wort gekommen ist.

Auch wenn sie das Gefühl hat, ihre Sicht auf die Sachlage sei nicht unbedingt gefragt gewesen, muss sie sich gleichwohl eingestehen, dass Frau Tietze-Meiermann in allem, was sie gesagt hat, richtig liegt. Sebastian macht tatsächlich nur das, was er will. Schon von Beginn ihrer Ehe an ist es so gewesen, und immer hat sie seine Eskapaden ohne Widerworte hingenommen.

Als Regine den Weg zu ihrem Auto nimmt, achtet sie darauf, in keine der zahlreichen Pfützen zu treten. Sebastian würde toben, wenn die Fußmatte später matschig von ihren Schuhen wäre, denkt sie und steigt in den Wagen. Die Scheibenwischer wirbeln wild von einer Seite zur anderen und die Lüftung des Autos rauscht, während Regine mit einem Schwamm über die von innen beschlagenen Scheiben wischt.

Mit einem Seufzen atmet sie aus. Allein der Gedanke, Sebastian in irgendeiner Weise Einhalt bieten zu müssen, reicht völlig aus, um ihren Puls schneller schlagen zu lassen. Alles wird gut, sagt sie sich und versucht der Angelegenheit nicht zu viel Aufmerksamkeit zu schenken, wie es ihr die Therapeutin geraten hat. Einfach immer nur weiteratmen, dann verschwindet die Angst wie von selbst. Sie legt den Rückwärtsgang ein und setzt zurück. Gleichgültig wie, verspricht sich Regine, dieses Mal wird sie sich wehren.

»Kennen Sie schon die Fürstin von Reinheim?«, steht auf dem Flyer zu den Führungen, die alle 14 Tage im Europäischen Kulturpark Bliesbruck-Reinheim stattfinden. Nur vom Hörensagen, beantwortet Regine diese Frage im Stillen. Sie hat tatsächlich große Lust, »die Fürstin« in natura kennenzulernen, und die Führung am kommenden Samstag wäre die perfekte Gelegenheit, denn die übernahm Svenja Lorentz. Exakt die Dame, nach der Regine Ausschau hält.

»Regine Spangenberger! Eine Person«, sagt sie zu dem Herrn an der Museumskasse, bei dem sie sich für die Führung anmeldet. Er trägt ihren Namen in die Liste ein. Dass sie dem Angestellten ihren Mädchennamen genannt hat, bereitet Regine Unwohlsein, aber die kleine Lüge muss sein, wenn ihr Plan aufgehen soll.

»Acht Euro macht das. Mit Karte?«, erkundigt sich der Herr an der Kasse.

»Nein!«, antwortet Regine lauter, als sie eigentlich will. »Bar, bitte. Ich zahle bar.« Sie öffnet ihr Portemonnaie und legt ihm einen Zehn-Euro-Schein auf den Tresen. »Stimmt so.«

»Danke sehr. Am Samstag um 10 Uhr am Torhaus geht es los«, informiert sie der Museumsmitarbeiter und reicht ihr haufenweise Informationsmaterial. Bei seinem letzten Satz, auf den sie gern verzichtet hätte, werden Regines Lippen schmal. »Freuen Sie sich auf den Tag. Die Svenja Lorentz, das ist unsere Beste. Sie macht die Führung immer erstklassig!« Seine Augen strahlen bei diesen Worten.

»Danke«, sagt Regine, steckt die Unterlagen in ihre Handtasche und geht. Dem Anschein nach macht Svenja so einiges super, ergänzt sie den letzten Satz des Museumsmitarbeiters in Gedanken. Zugegeben, sie kann den Tag der Führung kaum mehr erwarten. Nicht, weil sie sich so sehr darauf freuen würde, sondern um das Unvermeidliche möglichst schnell hinter sich zu bringen. Aber sie muss wohl oder übel geduldig sein, zumal vorher noch einige Dinge zu regeln sind.

Verständlicherweise erzählt Regine Sebastian in den folgenden Tagen nichts von dem Termin. Das fällt ihr leicht. Gemeinhin redet ihr Mann nur selten mit ihr, und wenn es doch zu einem Wortwechsel kommt, so trägt er ihr höchstens eine Reihe von Erledigungen auf. Ansonsten schweigen sich die beiden weitgehend an, denn von Regines, wie er es nennt, »steinzeitlichen Ansichten« will Sebastian in aller Regel nichts wissen oder hören. Wenn sie es in der Vergangenheit trotzdem einmal versucht hat, hat es meist eine Menge Ärger gegeben, sodass Regine mit der Zeit jeglichen Vorstoß aufgegeben hat. Hauptsächlich Magnus zuliebe hat sie die Fassade einer intakten Familie über all die Jahre aufrechterhalten, was zuweilen nicht leicht war. Nachdem das Intermezzo mit Monique, der dunkelhaarigen Austauschstudentin aus Lyon, im Frühjahr ein plötzliches Ende gefunden hatte, war ihr Mann wieder zu Hause eingezogen. Realistisch betrachtet hat sich damit allerdings nur wenig geändert.

Erst freute sich Regine, als Sebastian von einem Tag auf den anderen mit den beiden Koffern – denselben, mit denen er zwei Monate zuvor gegangen war – vor der Tür stand. Seine Rückkehr machte ihr Hoffnung: Die ganze Familie wieder unter einem Dach vereint, so wie früher. Vielleicht, sagte sie sich, vielleicht bereute er es, sie verlassen zu haben, und hatte den Vorsatz, sich zu ändern und mehr auf sie und ihre Wünsche einzugehen. Statt ihm also Vorwürfe zu machen, wie es wohl die meisten Frauen an ihrer Stelle getan hätten, half sie ihm ohne viele Worte beim Auspacken der Koffer. Sogar einige der Hemden bügelte sie an jenem Abend frisch auf. Entweder hatte Monique wenig Ahnung vom Bügeln, sagte sich Regine dabei, oder sie hatte Sebastian gezwungen, die leidige Angelegenheit selbst zu übernehmen – derart zerknitterte Ärmel waren Regine jedenfalls noch nie unter die Augen gekommen.

Ihre Hoffnungen hinsichtlich Sebastians Rückkehr bewahrheiteten sich nicht. Erfreulich war es zu keiner Zeit mit ihrem Mann gewesen, richtig höllisch wurde es allerdings für Regine, als sie vor einigen Wochen nicht umhinkam festzustellen, dass Sebastian erneut begann, sich seltsam zu verhalten. Ein weiteres Mal spulte er das komplette Programm ab, das er bei all seinen Affären kaum variierte: Geheimniskrämereien, unausweichliche Termine nach Feierabend und ständige Telefonate im Bad. Das alles zusammen war derart eindeutig, dass es fast beleidigend von ihrem Mann war, anzunehmen, sie und Magnus würden nichts davon mitbekommen.

Abermals handelte es sich um ein Techtelmechtel mit einem Mädchen, das, über den Daumen gepeilt, halb so alt wie Sebastian war. Einmal, nach einem Termin bei Tietze-Meiermann, wagte Regine einen Vorstoß, als sie ihm im Schlafzimmer die Kleidung für den kommenden Tag herauslegte. Sie sprach Sebastian unverblümt auf ihren Verdacht an. »Hast du eine Affäre?«, fragte sie geradeheraus.

Die Gesichtsfarbe ihres Mannes änderte sich von einem Moment auf den nächsten. »Was geht dich das an?«

»Das geht mich natürlich etwas an als deine Frau«, hielt Regine mit einer großen Portion Mut dagegen.

»Ach, du und deine spießigen Ansichten. Sei einfach mal ein wenig toleranter«, forderte Sebastian und blieb ihr die Antwort schuldig.

»Ich bin tolerant«, antwortete sie.

Dieser Einwand brachte das Fass zum Überlaufen. Ihr Mann rastete völlig aus. »Regine, ich bin kein kleines Kind mehr«, brüllte er los und riss die gesamten Hemden, Anzüge und Hosen aus dem Kleiderschrank, um sie ihr vor die Füße zu werfen. »Mach du deine Arbeit und misch dich nie wieder in mein Leben ein.«

Das Geschrei ließ Magnus hellhörig werden, der gleich darauf in der Tür erschien und fragte, ob alles in Ordnung sei.

»Nichts ist in Ordnung«, donnerte Sebastian ohne Rücksicht weiter. »Deine Mutter und ihre verstaubte Auffassung vom Leben machen mich wahnsinnig! Das erträgt kein Mensch!« Daraufhin stellte er sich mit erhobenem Zeigefinger vor Regine und sagte etwas, das sie umgehend den Vorstoß bereuen ließ. »Weißt du was? Ich ziehe wieder aus! Du bist krank – maßlos eifersüchtig. Mit dir kann es niemand aushalten und deswegen nehme ich den Kleinen auch mit! Das kann man keinem Kind zumuten.«

Regine entschuldigte sich augenblicklich. Sie sagte, das alles sei völlig unüberlegt und dreist von ihr gewesen. Ein großer Fehler. Fast bettelte sie ihn an. Sebastian verließ an dem Abend das Haus, kam erst spät zurück und schwieg sich die nächsten Tage aus. Aber immerhin, er blieb und damit auch Magnus. Kein Sterbenswörtchen kam Regine in den Monaten danach mehr zum Thema Affäre über die Lippen, sogar als die Tatsachen kaum noch zu übersehen waren.

Zumindest eine Sache musste sie Sebastian zugutehalten, er traf sich immer heimlich mit den Mädchen. Regine bekam sie nie zu Gesicht, Magnus schon gar nicht, und ihr Mann war blauäugig genug, anzunehmen, dass damit die Angelegenheit für alle geklärt wäre.

Womöglich wäre es noch lange so weitergegangen, hätte Frau Tietze-Meiermann Regine nicht das Ultimatum gesetzt. 14 Tage. Sie hat Frau Tietze-Meiermann ihr Wort gegeben, sich in dieser Zeit zur Wehr zu setzen und etwas zu unternehmen. Aber wenn es schon sein musste, dann bitte auf ihre Weise, sagte Regine sich.

Bei allem Ärger hat sie wenigstens in einer Hinsicht riesengroßes Glück, denkt Regine, als sie von Bliesbruck-Reinheim zurückkehrt: Sie hat Magnus, und der ist seinem Vater nicht im Mindesten ähnlich. Er ist ein netter, hilfsbereiter Junge, mittlerweile zwölf und was technische Fragen angeht ein raffinierter Bursche.

Es ist nicht schwer, ihn zu überreden, dass er ihr im Umgang mit den modernen Medien ein wenig unter die Arme greift. Regine und er handeln ein einfaches Tauschgeschäft aus: eine Gefälligkeit gegen die andere. Magnus führt Regine in die Welt des Internets ein, zeigt ihr, wie man Textnachrichten am Handy verfasst, welche Emoticons angesagt sind und was »lol« zu bedeuten hat. Für ihn natürlich ein Kinderspiel. Im Gegenzug steht Regine ihrem Sohn bei seinen Problemen zur Seite. Sie wird seinem Vater nicht verraten, dass Magnus die von Sebastian angestrebte Laufbahn als Pianist weit früher als erwartet beenden würde. Der Anruf beim Klavierlehrer macht Regine zugegeben sogar Spaß. Ebenso wie Magnus, der neben ihr steht. Er hält sich den Bauch vor Lachen, während sie Herrn Schwarz ihr Angebot erläutert.

»Guten Tag Herr Schwarz«, plappert Regine direkt los. »Ich hätte Ihnen einen Vorschlag zu machen. Ich würde Ihnen anbieten, den Unterricht sozusagen im Sinne des guten Zwecks weiterzubezahlen, und Sie hingegen müssten zukünftig gar nichts mehr tun. Was halten Sie davon, Herr Schwarz?«

»Sie wollen keine Musikstunden mehr und mich trotzdem dafür bezahlen?«, erkundigt er sich skeptisch. So ganz kann er das wohl nicht glauben.

»Korrekt!«, erwidert sie und zwinkert Magnus zu.

»Nun gut«, sagt Herr Schwarz stutzig, aber auch mit etwas Freude in der Stimme. »Wenn Sie das unbedingt wollen, dann komme ich Ihrem Wunsch natürlich nach.«

Weder Regine noch ihr Sohn sind verwundert, dass Herr Schwarz, dessen Terminkalender immer randvoll ist, dem Vorschlag zustimmt. Insbesondere da Magnus nie geübt hat und sein Klavierspiel ein hartes Los für die Ohren des Musiklehrers war.

Die neue Reglung berücksichtigt die Wünsche aller Beteiligten. Sogar Sebastian bleibt das gute Gefühl erhalten, dem Sohn eine künstlerische Förderung zukommen zu lassen. Denn die Gebühren werden weiterhin jeden Monat abgebucht, und da ihr Mann wegen seiner unzähligen Verpflichtungen nie vor sechs, sieben oder noch später abends zu Hause ist, wird ihm nicht groß auffallen, dass der Unterricht ausgesetzt ist.

Ab da nutzt Magnus die neugewonnene Freizeit, um sich verstärkt seinen Internetbekanntschaften zu widmen, mit denen er sich nach eigener Aussage im Netz trifft, um »sich gegenseitig zu metzeln«. Eine Äußerung, die Regine verstörend findet, jedoch beruhigt sie sich damit, dass Jungs sich zu allen Zeiten gerauft haben, und im Internet könne er sich wenigstens nicht verletzen. Außerdem pflege ihr Sohn auf diese Weise soziale Kontakte, was für eine eher introvertierte Persönlichkeit wie ihren Magnus wohl nur von Vorteil sei.

Bevor er sich am Nachmittag zu einem Battle trifft, findet er stets die Zeit, Regine ein paar der Möglichkeiten und Tricks, deren Kenntnis für einen Zwölfjährigen anscheinend völlige Normalität ist, an Handy und Tablet beizubringen.

Der Einstieg ist zugegeben holprig, doch Regine zeigt sich lernwillig und neugierig zugleich. Schon nach der ersten Lehrstunde reagiert Sebastians Handy auch auf ihren Fingerabdruck. Sogar sein zweites Smartphone, das er immer heimlich mit sich führt. Es wird zu einem kleinen Ritual von Regine, diese während der Morgendusche ihres Mannes zu inspizieren, was keiner besonderen Vorsichtsmaßnahme bedarf, denn Sebastian überlässt alles, was mit Wäsche oder generell mit dem Thema Haushalt zu tun hat, schon seit Jahren Regine.

Das allein reicht natürlich nicht, um den vollen Überblick über die Aktivitäten ihres Mannes zu haben. Hilfreich bei der Informationsbeschaffung sind außerdem die Einzelverbindungsnachweise von beiden Smartphones, die Regine nun jeden Morgen per E-Mail zugesandt werden.

Am Tag darauf erklärt ihr Magnus, was es mit der GPS-Ortung auf sich hat. Erst einmal sinkt ihre Stimmung ins Bodenlose, als sie sieht, dass Sebastian Svenja in die teuersten Restaurants der Stadt ausführt. Vorgestern hat er ihr noch eine Predigt gehalten, wie unverschämt freigiebig sie mit seinem Geld umgehe. Lässt man das jedoch außen vor, muss Regine zugeben, dass so eine Ortung eine fabelhafte Erfindung ist. Auf diese Weise bleibt ihr fast nichts mehr verborgen, und da sie sich sicher ist, dass die teuren Eskapaden ihres Mannes bald ein Ende haben werden, schluckt sie ihren Verdruss über die Abendessen hinunter.

Was mittlerweile technisch alles machbar ist, kann Regine kaum fassen. Sie fühlt sich weit besser ausgerüstet als Sean Connery in seinem letzten James Bond. Über jeden von Sebastians Schritten weiß sie nach den paar Tagen »Weiterbildung« bei ihrem Sohn bestens Bescheid. Was kann sich eine besorgte Ehefrau mehr wünschen?

Dass Regine sich ein Profil unter dem Namen »Coconut28« auf einer Datingseite anlegt, ist zweifellos der beste ihrer Schachzüge. Spielend leicht fällt es ihr, mit Sebastian, der sich dort gerne herumtreibt, in Kontakt zu treten. Auf diese Weise lernt sie eine ganz neue Seite ihres Ehemanns kennen. Endlich redet er wieder mit ihr. Er ist charmant, so wie früher, bevor sie ihn geheiratet hat. Aus der Ferne betrachtet ist Sebastian ein sympathischer Typ, muss Regine sich eingestehen, und deswegen kann sie dieser Svenja auch keinen wirklichen Vorwurf machen. Sie hat sich möglicherweise, ebenso wie Regine damals, vom Ersteindruck täuschen lassen.

Aber darüber sollte sie sich nicht den Kopf zerbrechen, ihr blieb nicht mehr viel Zeit bis Samstag. Alles muss perfekt vorbereitet sein – und das macht Sebastian ihr leicht. Es dauert keine zwei Tage, dann werden ihre Online-Gespräche – Chats nennt es Magnus – pikant. Manchmal, wenn Regine Sebastians Antworten liest, erwischt sie sich dabei, wie sie sich verlegen umblickt. Sollte jemals ans Tageslicht kommen, was sie hier treibt, wird er ihr das nie verzeihen. Andererseits, erwägt Regine, wie soll er je Wind davon bekommen? Es sind nur noch ein paar Tage bis zum Wochenende, und ihr Mann hat ihr weit mehr geliefert, als sie für ihre Pläne braucht.

Völlig analog ist Regine wieder an dem lang herbeigesehnten Tag unterwegs und wartet auf die Ankunft der Fürstin. Ihr Sohn ist zu Hause. LAN-Party mit Freunden, hat er zu ihr gesagt, und solange keine Mädchen im Spiel sind, ist ihr alles recht. Ihr Mann ist schon in aller Früh zu einem Ausgrabungstermin aufgebrochen. Zum Glück auf der französischen Seite des Archäologieparks. Prinzipiell nicht weit entfernt, aber mit Sicherheit ist er dort so beschäftigt, dass sie nicht auf ihn treffen wird. Sie geht davon aus, dass er diesmal, was den Termin betrifft, die Wahrheit gesagt hat, denn am heutigen Tag ist es Regine selbst, die ein Date mit Svenja hat. Mit der Svenja, die zugleich das hübscheste Lächeln der Welt und obendrein den schönsten Po haben muss, wenn man Sebastians abgeschmackten WhatsApp-Nachrichten Glauben schenken möchte.

Sie erkennt die Liebschaft ihres Mannes auf den ersten Blick.

»Ich bin sehr erfreut, Sie als keltische Fürstin hier auf unserem historischen Gelände begrüßen zu dürfen. Heute entführe ich Sie in eine andere, längst vergangene Welt.« Mit diesen Worten eröffnet die junge Frau die Führung und Regine nickt zufrieden. In eine andersartige Welt entführen, das ist ein prima Hinweis, entscheidet sie. Sie greift in ihre Tasche, wo alles für den Ernstfall vorbereitet ist. Es geht los. Die erste Nachricht ist unterwegs.

Bis zu deren Eintreffen bleibt Regine Zeit, die Brünette von Kopf bis Fuß zu mustern. Sie trägt ein Gewand, das aus einer weißen und einer dunkelgrauen Stoffbahn besteht und mit Fibeln an den Schultern befestigt ist. Der üppige Halsreif, die vielen Ringe und klimpernden Armreifen sind alle golden, und die langen Haare hat sie zu einer kunstvollen Hochsteckfrisur geflochten. Als sie das Areal überqueren, auf dem in antiken Zeiten die herrschaftliche gallo-römische Villa stand, registriert Regine mit ein bisschen Neid, dass Svenjas Figur tadellos ist, soweit es sich bei dem Gewand beurteilen lässt, und auch ihr Lächeln ist zugegeben bezaubernd. Einzig ihre piepsige, fast noch kindliche Stimme erscheint Regine gewöhnungsbedürftig. Aber Sebastian unterhält sich ohnehin eher ungern.

Sie fragt sich, ob die Nachricht schon bei Svenja eingegangen ist. Das junge Ding wirkt hochkonzentriert. Sie erzählt von den ersten Funden auf dem Gelände. Seit 1987 arbeite man daran, die Überreste der römischen Villa zu rekonstruieren.

»Die hier entdeckten Artefakte sind ersten Ranges«, führt sie aus. »Davon können Sie sich gleich selbst überzeugen. Wenn Sie mir nun bitte in die Taverne folgen. Im Obergeschoss sind Funde aus der römischen Siedlungszeit ausgestellt.«

Svenja öffnet die Pforte zum keltischen Gasthaus, und die Gruppe marschiert nach oben. Regine geht als Letzte direkt neben der Fürstin die Treppe empor. Da passiert es. Sieh an, denkt sie, als die junge Führerin die vielen Stofflagen hochschlägt, um ihr Handy herauszunehmen. Unter dem Gewand wird kurz eine enge Jeans sichtbar. Nicht sehr fürstlich, urteilt Regine in Gedanken. Zweifelsohne ist Beweisstück Numero eins eingetroffen. Um Svenjas Mund zuckt es. Sie scheint verwirrt. Coconut28 ist ihr nicht bekannt, das ist unübersehbar.

Vermutlich bräuchte Svenja in diesem Moment, in dem sich die Gäste um sie sammeln und sie erwartungsvoll anblicken, eigentlich etwas Zeit für sich. Um sich kurz zu regenerieren und die Information sacken zu lassen. Doch das Leben ist kein Schlaraffenland, sagt selbst Sebastian immer zu Magnus, wenn dessen Noten nicht seinen Vorstellungen entsprechen und er mehr Leistung und Zielstrebigkeit einfordert. Es besteht die Möglichkeit, dass sich Svenja in diesem Augenblick seine klugen Worte zu Herzen nimmt. Was auch immer es ist, sie verhält sich erstaunlich professionell und findet ihre Fassung schnell wieder. Perfekt einstudiert erzählt sie von dem ehemaligen Landsitz. »Die Funde, aber auch die Ausmaße der Anlage sprechen dafür, dass die römische Familie, die in dieser Villa lebte, zu einer der reichsten der Region gehörte.« Inhaltlich ist Svenjas Vortrag vorbildhaft, nur ihrer Stimme mangelt es an Enthusiasmus. Wenn Regine sich nicht täuscht, klingt die Fürstin trotz aller Selbstbeherrschung ein wenig weinerlich. Den meisten der neugierigen Senioren fehlt, um das festzustellen, vermutlich das Feingefühl. Sie bombardieren Svenja mit allerlei Fragen, die diese eine nach der anderen geduldig beantwortet. Fast empfindet Regine so etwas wie Hochachtung vor ihrer Konkurrentin.

Trotz des Anflugs von Sympathie entscheidet Regine, dass es der falsche Tag für Mitgefühl ist, denn viel zu oft schon hatte sie sich in den vergangenen Jahren wankelmütig gezeigt. Nun gilt es für sie, den Plan bis ins letzte Detail auszuführen. Ohne Rücksichtnahme. Zur nächsten Therapiestunde würde sie nicht ergebnislos erscheinen. Das nachsichtige Lächeln der Tietze-Meiermann, das stets Bände sprach, wenn Regine von ihren Misserfolgen berichtete, kann sie nicht noch einmal ertragen. Heute ist es Zeit für einen echten Wandel!

Und genau genommen will auch Sebastian, dass sich etwas ändert. Warum sonst mäkelte er ständig an ihr herum? Wie sagt er immer? »Verdammt noch mal, Regine, du bist so festgefahren in allem, was du machst! Sei doch einfach einmal locker und ein bisschen toleranter!«

Derzeit gilt es herauszufinden, wo die Toleranzobergrenze Svenjas anzusiedeln ist. Zeit für Phase zwei, entscheidet Regine. Was kann falsch daran sein, mehr über seinen Traumprinzen oder in diesem Fall wohl eher Fürsten zu erfahren?

Die Gruppe geht die Stufen wieder hinunter. Draußen begeben sich alle auf den Weg zum Hügelgrab der Fürstin, da holt Svenja zum zweiten Mal ihr Smartphone unter dem Gewand hervor. Die neue Nachricht nimmt sie offenkundig nicht ganz so nervenstark wie die erste auf. Für ein paar Sekunden bleibt sie regungslos stehen und starrt auf das Display ihres Handys.

»Geht es Ihnen gut?«, erkundigt sich Regine mitfühlend.

»Ja, alles okay«, antwortet Svenja. Sie klingt abwesend oder vielleicht auch schockiert, Regine ist sich nicht sicher.

Die Reaktion kann sie bestens verstehen. Wenn Coconut28 mit Sebastian chattet, wird sie selbst am Monitor nicht selten schamrot. Was es für eine Vielzahl an Möglichkeiten gibt, ist Regine bisher nicht bekannt gewesen. Mit den modernen Technologien lernt man eben täglich dazu, sagt sie sich, und einem jungen Ding wie Svenja müsse der Umgang mit Neuem doch weitaus leichter fallen als ihr.

Im Moment allerdings sieht es nicht danach aus. Regine ist zwar keine Psychologin, trotzdem kommt ihr die Theorie in den Sinn, dass Svenja vermutlich so überrascht ist, weil Sebastian im Alltag immer stocksteif auftritt. Auch wenn sich manche der verwegenen Vorschläge, die ihr Ehemann Coconut28 unterbreitet, verführerisch anhören, das muss Regine gestehen, ist es kaum vorstellbar, dass es Sebastian ist, der solche ungewöhnlichen Offerten macht.

Offenbar ist diese spezielle Seite ihres Ehemannes für Svenja ebenfalls eine Überraschung. Ob sie sich mit seinen Ideen anfreunden kann, ist derzeit schwer einzuschätzen. Bewundernswert ist in jedem Fall die Selbstbeherrschung der Geliebten ihres Mannes, findet Regine. Dass der Unternehmer Johann Schiel in den 50ern beim Sand- und Kiesabbau einen menschlichen Schädel sowie einen Ring fand und spätere Funde dazu führten, dass man eine Grabkammer entdeckte, wie Svenja gerade berichtet, ist Regine völlig neu. Schon komisch, wenn man überlegt, dass ihr Mann seit vielen Jahren an diesem Ort tätig ist. Sie ist begeistert, ebenso wie die Kinder, die Svenja sofort fragen, ob sie bei den Ausgrabungen mithelfen dürfen.

Bevor es weitergeht, werden vor den rekonstruierten Hügeln eine Menge Fotos gemacht. Sogar Regine schießt ein paar zur Erinnerung, immer mit sich im Vordergrund. Selfie heißt das und laut Magnus machen das heute alle. Jeder der Anwesenden möchte auch eins mit der netten Führerin an seiner Seite. Regine reiht sich ein, denn Svenja wird ihr immer sympathischer.

Ihr bedauernswerter Zustand ist allerdings mittlerweile selbst den Senioren aufgefallen.

»Sie sind ein bisschen blass um die Nase, Fräulein Fürstin«, sagt ein älterer Herr und die anderen kichern. Das ist nicht nett, aber woher sollen die Gäste auch wissen, wie hundsmiserabel es Svenja geht, denkt Regine. Vor wenigen Minuten hat sie schließlich erfahren, dass die Liebe ihres Lebens eine gewaltige Anhäufung von Enttäuschungen ist.

»Gehen wir jetzt zum Fürstinnengrab?«, fragt die junge Frau nach der Fotoaktion reichlich strapaziert. »Ich habe es eilig, mir ist etwas Unerwartetes dazwischengekommen.«

Die Kinder jammern enttäuscht, einige klettern gerade auf die Hügel und laufen so schnell sie nur können wieder herab. Das scheint Spaß zu machen. Doch die Führerin ist nicht zum Einlenken zu bewegen. Sie will die Tour hinter sich bringen, das ist unübersehbar, und so steigert sie das Spaziertempo hin zu Marschgeschwindigkeit. Mit einem Schlag ist vom Gejammer nichts mehr zu hören.

»Und hier ist nun die begehbare Grabkammer«, verweist uns Svenja kurz darauf auf den wichtigsten Ausstellungsort im Archäologiepark. Wir stehen in der Vorhalle. »Gleich werden Sie den meisterhaft verzierten Goldschmuck und die kostbaren Beigaben wie die außergewöhnlich filigran verzierte Bronzekanne bewundern können, die man als Grabbeigabe vorfand. Das Grab stammt aus der Zeit um 370 vor Christi«, erläutert sie. »Folgen Sie mir bitte zu diesem absoluten Highlight und damit auch dem Abschluss unserer Führung.«

Highlight und Abschluss? Regine wird hellhörig. Da gibt die Führerin ihr quasi die Stichworte vor. Coconut28 meldet sich ein allerletztes Mal. Das Beste hat sie sich, wie es sich gehört, bis zum Ende aufgehoben. Die Nachricht trifft ein. Als Svenja sie liest, reißt sie entsetzt die Augen auf. So viel Emotion bekommt man nur selten zu Gesicht.

»Ähm, nun … es tut mir leid. Ein absoluter Notfall«, informiert Svenja mit hochrotem Kopf die Gruppe, die sich erwartungsvoll im Innern der Grabkammer um die Führerin versammelt hat. »Entschuldigung, aber ich muss abbrechen. Ein Ausnahmefall.«

»Aber Sie wollten uns doch noch den Flyer mit den Mitmachaktionen …«, beklagt sich eine der Mütter. Svenja hört ihr nicht zu. Stocksauer zerrt sie sich im Gehen das Gewand über den Kopf. Dabei löst sich ihre hübsche Flechtfrisur. Ein Jammer, findet Regine.

Wie all die anderen, die jetzt ratlos herumstehen, hätte sie gern noch ein bisschen mehr über die Fürstin erfahren. Sie musste jemand Besonderes gewesen sein, wenn man wegen ihr einen solchen Aufwand betrieb. Vielleicht gab es einen Mann, der sie nach ihrem Tod so sehr vermisste, dass er der Fürstin den riesigen Grabhügel bauen ließ. Wie beim Taj Mahal, wo dem Großmogul für seine verstorbene Ehefrau nichts gut genug war. Die edlen Grabbeigaben sprechen allemal für eine gefühlvolle und letztlich auch traurige Liebesgeschichte. Regine mag solche Romanzen mit einer Portion Tragik. Zumindest dann, wenn sie ihr Familienglück nicht stören.

Wieder an der Kasse, fordert sie die Hälfte des gezahlten Eintrittsgeldes zurück. Eine lückenhafte Führung habe sie schließlich nicht gebucht. Danach fährt sie nach Hause. Der Morgen ist äußerst spannend gewesen und sie tippt darauf, dass der Nachmittag ebenfalls Aufregendes bereithalten wird.

Als es gegen vier bei Regine läutet und sie die Tür öffnet, ist sie nicht überrascht, die beiden Polizisten zu sehen.

»Frau Baumgarten, entschuldigen Sie, wir haben schlechte Nachrichten«, eröffnet ihr die hübsche Beamtin mit der runden silbernen Brille. Einer Familie unerfreuliche Botschaften zu überbringen, fällt der jungen Frau augenscheinlich nicht leicht.

»Schlechte Nachrichten?«, wiederholt Regine. Das ist eher unwahrscheinlich, sagt sie sich.

»Es geht genau genommen um Ihren Mann …«, fährt der Kollege neben ihr fort, der offenbar schon länger im Dienst ist und mit solchen Situationen umzugehen gelernt hat.

»Ja?« Regine ist für jede Art von Nachricht offen. Sie hat sich in Toleranz geübt, jahrelang.

»Herr Doktor Sebastian Baumgarten, das ist doch Ihr Mann?«

»Ja, richtig!« Ungeduldig schaut Regine zwischen den beiden Beamten hin und her, sie machen es verteufelt spannend.

»Nun, es gab heute einen Unfall an der Ausgrabungsstelle in Reinheim.«

Regine kostet es enorme Mühe, ihre Emotionen im Zaum zu halten. Jetzt bloß nicht grinsen, ermahnt sie sich, denn dies ist der richtige Moment für die erschrockene Miene, die sie seit Tagen vor dem Spiegel geübt hat.

»Wir wissen noch nicht genau, wie und warum Ihr Mann …«, stammelt die Polizistin und hält betroffen inne.

»Es war wohl ein unglücklicher Zufall«, ergänzt der Kollege.

»Ein unglücklicher Zufall? Was ist denn passiert? Ist Sebastian im Krankenhaus?« Regine erschrickt. Alles, nur das nicht, hofft sie inständig. Diese Svenja wird doch wohl keine halben Sachen machen? Jemand Wehleidigeres als Sebastian, wenn er auch nur einen Schnupfen hat, kann man sich kaum vorstellen.

Regine hat Glück. Das Polizistenpärchen schüttelt fast synchron den Kopf.

»Nein, er ist nicht im Krankenhaus«, sagt die Beamtin mit schwerer Stimme. »Jemand hat ihn beim Rückwärtsfahren irgendwie, wohl aus Versehen, mit dem Bagger angefahren. Oder eher überfahren. Vor Schreck hat die Mitarbeiterin ihn sogar …« Sie stockt und wirft dem Kollegen einen Blick zu, der vermutlich bedeuten soll, dass er wieder an der Reihe ist.

Der Beamte seufzt. »Nun, die Mitarbeiterin hat ihn, nachdem sie fast über ihn hinweg war und er bereits am Boden lag, mit der Baggerschaufel am Kopf erwischt. Das war großes Pech.« Er macht eine Pause und beäugt Regine kritisch, anscheinend um abzuschätzen, ob sie noch mehr vertragen kann.

Sie nickt ihm zu. Er soll fortfahren, verdammt noch mal, sie hat nicht den ganzen Tag Zeit!

»Eine ziemlich verrückte Geschichte«, fasst ihr Gegenüber die Geschehnisse zusammen. Ihm ist vermutlich bewusst, dass es nichts bringt, ewig um den heißen Brei herumzureden. So hart es ist, die Ehefrau muss die Wahrheit erfahren – so lernt man das sicher in der Polizeischule, mutmaßt Regine. Und ja, jetzt geht er endlich in die Vollen: »Der Rettungswagen traf in kürzester Zeit vor Ort ein. Aber man konnte nichts mehr für Herrn Baumgarten, also für Ihren Mann, tun. Er ist noch vor Ort …« Jetzt schluckt der Beamte auch.

Regine kommt ihm zur Hilfe: »… verstorben?«

Ihr Herz macht einen Riesensprung, während sie das sagt. Äußerlich bleibt sie angemessen freudlos.

»Ja, es tut uns leid, Ihnen so eine schlechte Nachricht überbringen zu müssen.«

Schade, sagt sich Regine. Offenbar nimmt dieses Ereignis die beiden ziemlich mit. Das trübt ein wenig ihre gute Stimmung.

Was nun auf Regine als Witwe zukommt, ist – das versteht sich von selbst – nicht angenehm. Sie muss Magnus über die neuen familiären Gegebenheiten informieren, nach der LAN-Party logischerweise, die zu dieser Zeit noch in vollem Gange ist. Es wird ein gewaltiger Einschnitt werden für einen Jungen, der seinen Vater so gut wie nie zu Gesicht bekam, einen Vater, der ihm fast alles, was Spaß macht, verbat.

Eine harte Zeit steht ihnen beiden bevor. Sie bleiben allein mit dem Haus, mit all dem Ersparten und dem Geld aus der Lebensversicherung zurück. Jeder würde Rücksicht nehmen und womöglich auch verstehen, dass sich eine Familie nach einem solchen Schicksalsschlag Ruhe und Abstand gönnen muss.

Wobei sie natürlich trotz all der Trauer nicht vergessen sollten, gleich Montag den Vertrag bei der Musikschule zu kündigen, überlegt Regine, während sie ihren Ehering vom Finger zieht und auf dem Kaminsims ablegt. Die Klavierstunden sind in dieser veränderten Situation schließlich sinnlos verschwendetes Geld.

Es wäre vermutlich wichtig, sich abzulenken in der kommenden Zeit, sagt sich Regine und sieht sich in der Wohnung um. Sie muss aufpassen, in kein dunkles Loch zu fallen, so wie viele, die in Trauer sind.

Ihre Therapeutin sei sicher auch der Meinung, sie brauche eine Art Ventil, um auf andere Gedanken zu kommen und die Alltagsprobleme zu vergessen. »Wandel ist gut. Trauen Sie sich, Frau Baumgarten! Wagen Sie sich an neue Dinge heran.« Daran appelliert Tietze-Meiermann genau genommen bei fast jeder Gelegenheit, und eine Psychologin wird es doch wohl am besten wissen. Gerade weil es Sebastians Idee gewesen ist, dass Regine wegen ihres aufbrausenden Gemüts eine Therapie beginnen sollte.

Also, schlussfolgert sie und geht die Treppe hinauf in Richtung Büro, warum soll sie nicht sofort mit dem neuen Leben beginnen? Magnus ist beschäftigt und die nächsten Tage werden ohnehin schwer genug.

Sie setzt sich an Sebastians Schreibtisch und schaltet den Computer ein. Die Datingseite, auf der sie sich die letzten Wochen häufiger aufgehalten hat, ist auf dem Rechner unter »Favoriten« gespeichert. Praktisch, sagt sich Regine.

Sie tippt ihren Nickname ein. Coconut28.

Am Wochenende ist in dem Chatportal enorm viel los, und es dauert keine fünf Sekunden, bis sich die erste Abwechslung bietet.

»Auch alleine?«, fragt MisterLoverLover.

Regine schreibt: »Mutterseelenalleine und entsetzlich einsam!«

Als frische Witwe, findet Regine, ist die Behauptung doch kein bisschen übertrieben. Sie befindet sich in einem beklagenswerten Zustand, und vielleicht kann dieser Loverlover ihr echten Trost bieten. Er könnte jemand werden, der ihr über diese schwere Zeit hinweghilft. Mag sein, dass sie mit ihm, zur Erinnerung an ihren Sebastian, ein paar von dessen ungewöhnlichen Ideen in die Tat umsetzt. Ganz klar würde es sie Überwindung kosten, doch wer, wenn nicht Regine, hatte gelernt, offen und tolerant zu sein.

Mörderisches aus dem Saarland

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