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Vainwal
Terranisches Imperium
Das fünfte Jahr des Exils

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Dio Ridenow sah die beiden zum ersten Mal im Foyer des Luxushotels für Menschen und Humanoide auf der Vergnügungswelt Vainwal. Sie waren hoch gewachsene, kräftige Männer, aber das flammend rote Haar des Älteren zog ihre Augen an: Comyn-Rot. Er hatte die fünfzig hinter sich und hinkte. Sein Rücken war gebeugt, aber man konnte sehen, dass er einmal ein großer, eindrucksvoller Mann gewesen war. Hinter ihm kam ein jüngerer in unauffälliger Kleidung mit dunklem Haar, dunklen Brauen, stahlgrauen Augen und verdrossenem Gesicht. Irgendwie machte er den Eindruck, deformiert oder leidend zu sein, doch er hatte außer ein paar zackigen Narben auf der einen Wange keinen sichtbaren Defekt. Die Narben verzogen die eine Hälfte seines Mundes zu einem ständigen Grinsen. Dio fühlte sich abgestoßen und wandte den Blick ab. Warum hatte ein Comyn-Lord eine solche Person in seinem Gefolge?

Denn es war offensichtlich, dass es sich bei dem Mann um einen Comyn-Lord handelte. Es gab auch auf anderen Welten des Imperiums Rothaarige und eine ganze Menge auf Terra selbst, aber die Gesichtszüge trugen den Stempel der Rassenähnlichkeit, Darkovaner, Comyn, ohne Frage. Und das Haar des älteren Mannes: Feuerrot, jetzt mit Grau bestäubt. Was tat er nur hier? Und wer war er? Darkovaner fand man selten irgendwo anders als auf ihrer Heimatwelt. Das Mädchen lächelte; auch ihr hätte man diese Frage stellen können, denn sie war Darkovanerin und weit von zu Hause entfernt. Ihre Brüder waren nach Vainwal hauptsächlich deswegen gekommen, weil keiner von beiden an politischen Intrigen interessiert war, aber sie mussten ihre Abwesenheit von Darkover oft genug verteidigen und rechtfertigen.

Der Comyn-Lord durchquerte die große Eingangshalle langsam und hinkend, doch mit einer gewissen Arroganz, die aller Augen auf sich zog. Dio legte es sich in einem verschwommenen Bild zurecht: Er bewegte sich, als gingen ihm seine eigenen Dudelsackpfeifer voran und als habe er hohe Stiefel und einen wirbelnden Mantel – nicht die langweilige, unpersönliche terranische Kleidung, die er tatsächlich trug.

Und als sie seine Kleidung als terranisch identifiziert hatte, ging Dio plötzlich auf, wer er war. Niemand wusste von einem anderen Comyn-Lord, der jemals eine terranische Frau wirklich geheiratet hatte, di catenas und mit allen Zeremonien. Er hatte es fertig gebracht, den Skandal zu überleben, der ein Ereignis aus der Zeit vor Dios Geburt war. Dio selbst hatte den Lord nicht öfter als zweimal in ihrem Leben gesehen, aber sie wusste, dass er Kennard Lanart-Alton war, Herr von Armida, das Oberhaupt der Alton-Domäne, das sich selbst zum Exil verurteilt hatte. Und jetzt konnte sie sich auch denken, wer der jüngere Mann war, der mit den missmutigen Augen: sein halbblütiger Sohn Lewis. Vor ein paar Jahren war er während einer Rebellion irgendwo in den Hellers schrecklich verletzt worden. Dio interessierte sich nicht besonders für derlei Dinge, und auf jeden Fall hatte sie noch mit Puppen gespielt, als es geschah. Aber Lews Pflegeschwester Linnell Aillard hatte eine ältere Schwester namens Callina, die Bewahrerin in Arilinn war, und von Linnell hatte Dio über Lews Verletzungen gehört und dass Kennard ihn in der Hoffnung, die medizinische Wissenschaft der Terraner könne ihm helfen, nach Terra gebracht hatte.

Die beiden Comyn standen in der Nähe des Zentral-Computers an der Empfangstheke des Hotels. Kennard gab den menschlichen Dienern, die zu der Luxus-Atmosphäre des Hotels beitrugen, ein paar ruhige, bestimmte Befehle wegen des Gepäcks. Dio selbst war auf Darkover aufgewachsen, wo menschliche Diener etwas Alltägliches waren, Roboter dagegen nicht. Sie konnte Dienste dieser Art entgegennehmen, ohne in Verlegenheit zu geraten. Vielen Leuten gelang es nicht, ihre Scheu oder Bestürzung zu überwinden, wenn sie von Menschen statt von Servomechs oder Robotern bedient wurden. Dios Gewandtheit in diesen Dingen verlieh ihr unter den anderen jungen Leuten auf Vainwal Status. Die meisten von ihnen gehörten zu den Neureichen in einem sich ausbreitenden Imperium. Sie strömten auf Vergnügungswelten wie Vainwal zusammen, hatten jedoch wenig Lebensart und konnten Luxus nicht akzeptieren, als seien sie daran gewöhnt. Das Blut verrät sich immer, dachte Dio, während sie Kennard beobachtete, der genau den richtigen Ton gegenüber den Dienern traf.

Der jüngere Mann drehte sich um. Jetzt bemerkte Dio, dass er die eine Hand in den Falten seines Mantels verbarg und dass er sich unbeholfen bewegte, als er einhändig mit einem ihrer Gepäckstücke fertig zu werden versuchte. Anscheinend wollte er nicht, dass es von irgendwem anders berührt wurde. Kennard sprach leise mit ihm, aber Dio hörte den ungeduldigen Ton heraus. Der junge Mann reagierte mit einem so düsteren und zornigen Blick, dass Dio erschauerte. Plötzlich war ihr klar, dass sie nicht wünschte, diesen jungen Mann noch einmal zu sehen. Aber von dem Punkt aus, wo sie stand, konnte sie das Foyer nicht durchqueren, ohne den Weg dieser Männer zu kreuzen.

Am liebsten hätte sie den Kopf gesenkt und so getan, als seien die beiden gar nicht da. Schließlich war es einer der Reize einer Vergnügungswelt wie Vainwal, dass man dort anonym war, frei von den Beschränkungen der Klasse und Kaste auf der eigenen Heimatwelt. Sie wollte nicht mit ihnen sprechen, sie wollte ihre Privatsphäre ebenso unangetastet lassen, wie sie es sich für ihre eigene wünschte.

Aber als sie vorüberging, machte der junge Mann, der Dio nicht gesehen hatte, eine ungeschickte Bewegung und stieß heftig mit ihr zusammen. Das Gepäckstück, das er trug, rutschte ihm weg und fiel mit metallischem Klappern auf den Fußboden. Er murmelte ein paar ärgerliche Worte und bückte sich danach. Es war ein langer, schmaler, eng umwickelter Gegenstand und sah ganz nach einem Paar Duell-Schwertern aus. Das allein würde seine Vorsicht erklären; derartige Schwerter waren oft kostbare Erbstücke, die man niemals jemand anders in die Hand gab. Dio trat zur Seite, aber der junge Mann fummelte mit seiner guten Hand herum und brachte nichts weiter fertig, als das Paket noch weiter über den Fußboden schlittern zu lassen. Ohne nachzudenken, bückte sie sich, um es aufzuheben und ihm zu reichen – es lag genau vor ihren Füßen –, aber er schob sie davon weg.

»Fassen Sie das nicht an!«, sagte er. Seine Stimme war barsch und rau, und das Zähneknirschen, das darin mitklang, ging Dio auf die Nerven. Sie sah, dass der Arm, den er in seinem Mantel versteckte, in einem ordentlich gefalteten leeren Ärmel endete. Vor Entrüstung blieb ihr der Mund offen stehen, als er wütend wiederholte: »Fassen Sie das nicht an!«

Und sie hatte nur versucht zu helfen!

»Lewis!«, mahnte Kennard scharf. Der junge Mann murmelte mit finsterem Blick etwas wie eine Entschuldigung und nahm die Duell-Schwerter – oder was es sein mochte – mühsam in beide Arme. Dabei wandte er sich linkisch ab, um den leeren Ärmel zu verbergen. Plötzlich ging Dio ein Schauder durch Mark und Bein. Warum griff sie das so an? Sie hatte schon verwundete Männer, auch deformierte Männer gesehen. Eine amputierte Hand war kaum ein Grund, so herumzulaufen wie der hier, mit wütendem, trotzigem Gesichtsausdruck, fest entschlossen, keinem menschlichen Wesen in die Augen zu sehen.

Dio zuckte leicht die Schultern und kehrte ihm den Rücken. Sie sah keine Veranlassung, Gedanken oder Höflichkeit an diesen Tölpel zu verschwenden, dessen Manieren ebenso hässlich waren wie sein Gesicht. Doch indem sie sich umdrehte, kam sie von Angesicht zu Angesicht vor Kennard zu stehen.

»Aber ganz bestimmt sind Sie eine Landsmännin, nicht wahr, Vai Domna? Ich wusste nicht, dass sich noch andere Darkovaner auf Vainwal befinden.«

Dio knickste. »Ich bin Diotima Ridenow von Serrais, mein Lord, und ich bin mit meinen Brüdern Lerrys und Geremy hier.«

»Und Lord Edric?«

»Der Lord von Serrais ist zu Hause auf Darkover, Sir, aber wir befinden uns mit seiner Erlaubnis auf Vainwal.«

»Ich hatte geglaubt, Ihr seiet für den Turm bestimmt, Mistress Dio.«

Sie schüttelte den Kopf und merkte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. »Das wurde ausgemacht, als ich noch ein Kind war. Man hat mich aufgefordert, in Neskaya oder Arilinn Dienst zu tun. Aber – aber ich habe mich anders entschlossen.«

»Nun ja, nicht jeder fühlt sich dazu berufen«, meinte Kennard freundlich. Dio verglich den Charme des Vaters mit dem ungezogenen Schweigen des Sohns, der mit bösem Gesicht dabeistand und nicht einmal die elementarste höfliche Phrase für sie übrig hatte. War es sein terranisches Blut, das ihn jeder Spur des Charmes seines Vaters beraubte? Nein, denn gute Manieren konnten erlernt werden, auch von einem Terraner. Im Namen der gesegneten Cassilda, konnte er sie nicht einmal ansehen? Sie wusste, nur das Narbengewebe an seinem Mundwinkel verzog sein Gesicht zu einem ständigen höhnischen Grinsen, doch seine innere Einstellung schien dem zu entsprechen.

»Also Lerrys und Geremy sind auch da? An Lerrys erinnere ich mich gut von der Garde her«, sagte Kennard. »Sind sie im Hotel?«

»Wir haben eine Suite im neunzigsten Stockwerk«, antwortete Dio. »Aber sie sind im Amphitheater und sehen sich einen Wettkampf im Schwerkrafttanz an. Lerrys ist Amateur in diesem Sport und hat das Halbfinale erreicht. Dann zerrte er sich einen Muskel im Knie, und die Mediziner verboten seine weitere Teilnahme.«

Kennard verbeugte sich. »Übermittelt beiden meine Grüße, Lady, und meine Einladung für euch alle drei, morgen Abend, wenn das Finale hier ausgetragen wird, meine Gäste zu sein.«

»Ich bin überzeugt, sie werden entzückt sein«, sagte Dio und verabschiedete sich.

Den Rest der Geschichte hörte sie an diesem Abend von ihren Brüdern.

»Lew? Das ist der Verräter«, erklärte Geremy. »Kam als Begleiter seines Vaters nach Aldaran und spielte Kennard einen bösen Streich, indem er sich irgendeiner Rebellion der dortigen Piraten und Banditen anschloss. Es waren schließlich die Leute seiner Mutter.«

»Ich dachte, Kennards Frau sei Terranerin gewesen«, warf Dio ein.

»Halb-Terranerin. Die Leute ihrer Mutter waren Aldarans«, antwortete Geremy. »Und glaub mir, Aldaran-Blut darf man nicht trauen.«

Dio wusste das; die Domäne von Aldaran hatte sich schon vor so vielen Generationen von den ursprünglichen sieben Domänen getrennt, dass Dio nicht einmal sagen konnte, wie lange das her war, und die Verräterei der Aldarans war sprichwörtlich. Sie fragte: »Was haben sie getan?«

»Gott weiß es«, sagte Geremy. »Hinterher ist versucht worden, es zu vertuschen. Anscheinend hatten sie dort hinter den Bergen eine Art Super-Matrix, vielleicht dem Schmiedevolk gestohlen. Ich habe die Geschichte nie vollständig gehört, aber die Aldarans müssen damit experimentiert und Lew hineinverwickelt haben – immerhin ist er in Arilinn ausgebildet worden, der alte Kennard hat ihm jeden Vorteil zu verschaffen gewusst. Daraus konnte natürlich nichts Gutes entstehen; halb Caer Donn brannte nieder, als das Ding außer Kontrolle geriet. Danach wechselte Lew von neuem die Seite und verriet Aldaran, wie er uns verraten hatte. Er tat sich mit einer dieser Berghexen zusammen, einer Bastardtochter der Aldarans, zur Hälfte Terranerin oder so etwas. Bei dem Feuer verlor er seine Hand, und das geschah ihm recht. Wie ich es mir zusammenreime, brachte Kennard es jedoch nicht über sich, zuzugeben, welch einen Fehler er begangen hatte, als er alles Mögliche unternahm, um Lew zu seinem Erben erklären zu lassen. Ob es wohl gelungen ist, seine Hand zu regenerieren?« Er wackelte mit drei Fingern, die er vor Jahren bei einem Duell eingebüßt hatte und die nun, von terranischen Medizinern regeneriert, so gut wie neu waren. »Nein? Vielleicht dachte der alte Kennard, Lew solle ein Andenken an seinen Verrat behalten.«

»Ich glaube, du siehst die Sache falsch, Geremy«, ergriff Lerrys das Wort. »Lew ist nicht schlecht; ich war zusammen mit ihm in der Garde. Wie ich hörte, hat er sein Äußerstes getan, um die Feuer-Erscheinung zu bändigen, als sie außer Kontrolle geriet. Sein Mädchen starb dabei. Er soll übrigens mit ihr verheiratet gewesen sein. Eine der Überwacherinnen in Arilinn erzählte mir, wie viel Mühe sie sich gegeben haben, um sie zu retten. Aber sie war schon zu weit hinüber, und Lews Hand ...« Er zuckte die Schultern. »Man sagt, er habe Glück gehabt, so billig davongekommen zu sein. Zandrus Höllen, was muss er durchgemacht haben! Er war einer der stärksten Telepathen, die sie je in Arilinn hatten, aber ich kenne ihn am besten aus der Zeit in der Garde. Ein ruhiger Bursche, ziemlich zurückhaltend, recht nett, wenn man ihm mit der Zeit näher kam. Aber es war schwer, ihm näher zu kommen. Er hatte eine Menge Schwierigkeiten zu überwinden, weil manche Leute dachten, ihm stehe das Recht, in der Garde zu dienen, nicht zu, und ich glaube, das hat ihn wunderlich gemacht. Ich mochte ihn – besser gesagt, ich hätte ihn gemocht, wenn er es zugelassen hätte. Er war höllisch empfindlich, und wenn man halbwegs höflich zu ihm war, hielt er das für Herablassung und wehrte sich.« Lerrys lachte tonlos.

»Um Frauen schlug er einen solchen Bogen, dass ich irrtümlich annahm, er sei – sagen wir – einer, der meine eigenen Neigungen teile, und so machte ich ihm einen gewissen Vorschlag. Oh, gesagt hat er nicht viel, aber ich habe ihm die Frage nicht noch einmal gestellt!« Lerrys kicherte. »Trotzdem, ich wette, auch für dich hat er kein nettes Wort gehabt, nicht wahr, kleine Schwester? Das ist eine ganz neue Erfahrung für dich, ein Mann, der nicht innerhalb von wenigen Minuten zu deinen Füßen liegt!« Neckend fasste er ihr unter das Kinn.

Dio erklärte verdrießlich: »Ich mag ihn nicht; er ist ungehobelt. Hoffentlich hält er sich von mir fern.«

»Meiner Meinung nach könntest du schlechter abschneiden«, überlegte Geremy. »Er ist schließlich Erbe von Alton, und Kennard ist nicht mehr jung; er hat spät geheiratet. Er mag nicht mehr lange auf dieser Welt weilen. Edric würde es gefallen, dich als Lady von Alton zu sehen, Schwester.«

»Nein.« Schützend legte Lerrys einen Arm um Dio. »Unsere Schwester hat etwas Besseres verdient. Der Rat wird Lew nach dieser Sache mit Sharra nie mehr akzeptieren. Kennards zweiter Sohn ist überhaupt nie anerkannt worden, trotz allem, was Ken getan hat, und Marius ist doppelt so viel wert wie Lew. Ist Kennard einmal nicht mehr, wird sich der Rat anderswo nach einem Oberhaupt der Alton-Domäne umsehen – Bewerber gibt es genug! Nein, Dio ...« – sanft drehte er ihr Gesicht zu sich herum – »... ich weiß, hier gibt es nicht viele junge Männer deiner eigenen Art, und Lew ist Darkovaner und, wie ich annehme, sieht er in den Augen einer Frau auch gut aus. Aber halte dich von ihm fern. Sei höflich, mehr jedoch nicht. Ich mag ihn auf gewisse Weise, aber er bedeutet Schwierigkeiten.«

»Darüber brauchst du dir keine Sorgen zu machen«, versicherte Dio. »Ich kann den Mann nicht ausstehen.«

Doch in ihrem Inneren, da, wo es wehtat, fühlte sie ein schmerzhaftes Verwundern. Sie dachte an das unbekannte Mädchen, das Lew geheiratet hatte und das gestorben war, um sie alle vor der Bedrohung durch die Feuergöttin zu retten. Also war es Lew gewesen, der den Brand erst heraufbeschworen und dann Tod und Verstümmelung riskiert hatte, um ihn zu ersticken? Wieder erschauerte sie vor Furcht. Welche Erinnerungen mochte er haben, mit welchen Alpträumen musste er bei Nacht und bei Tag leben? Vielleicht war es kein Wunder, dass er sich mit finsterem Gesicht abseits hielt und weder für einen Mann noch für eine Frau ein freundliches Wort oder ein Lächeln hatte.

Rund um das Null-Schwerkraft-Feld hingen kleine Kristalltische in der Luft, und die Sitze schwebten scheinbar an juwelenbesetzten Sternenketten. In Wirklichkeit waren sie alle von Energienetzen umgeben. Selbst wenn ein Gast von seinem Stuhl kippte (und wo Wein und stärkere Getränke so reichlich flossen, geschah das zuweilen), konnte er nicht fallen. Aber die Illusion war atemberaubend und zauberte sogar auf Lew Altons verschlossenes Gesicht einen flüchtigen Ausdruck von Staunen und Interesse.

Kennard war ein großzügiger und gewandter Gastgeber. Er hatte Plätze dicht am Rand des Schwerkraftfeldes und die feinsten Weine und Delikatessen bestellt. Die Gesellschaft schwebte über dem sternenbesetzten Abgrund und sah den wirbelnden, sich drehenden Null-Schwerkraft-Tänzern zu, die unter ihnen wie frei fliegende Vögel dahinschossen. Dio saß zu Kennards Rechter, gegenüber von Lew, der nach der ersten kurzen Reaktion auf die Illusion des freien Raums keine Gefühlsregung mehr zeigte. Sein narbiges, im Stirnrunzeln erstarrtes Gesicht hatte einen geistesabwesenden Ausdruck. Unter ihnen flammten und flossen Galaxien, und die Tänzer, halb nackt in Flittern und losen Schleiern, flogen wie exotische Vögel auf den Sternenströmen. Lews rechte Hand, offensichtlich künstlich und beinahe unbeweglich, lag, von einem schwarzen Handschuh umhüllt, auf dem Tisch. Diese regungslose Hand erfüllte Dio mit Unbehagen. Der leere Ärmel war irgendwie ehrlicher gewesen.

Nur Lerrys fühlte sich wirklich wohl. Er begrüßte Lew mit echter Herzlichkeit, aber Lew antwortete nur einsilbig, und schließlich wurde Lerrys es müde, ein Gespräch zu erzwingen. Stattdessen beugte er sich über den Abgrund und betrachtete die zum Finale angetretenen Tänzer mit unverhülltem Neid. Von nun an machte er nur noch Bemerkungen über die besondere Geschicklichkeit oder die Mängel des einen oder anderen. Dio wusste, er sehnte sich danach, unter ihnen zu sein.

Als die Sieger gekürt und die Preise verteilt worden waren, wurde die Schwerkraft wieder angestellt und die Tische senkten sich in gemächlichen Spiralen auf den Boden nieder. Musik klang auf, Paare begaben sich auf die Tanzfläche des Ballsaals und bewegten sich, glitzernd und transparent, als befänden auch sie sich wie vorhin die Wettkämpfer in schwerelosem Flug. Lew murmelte, er wolle gehen, und hatte sich schon halb erhoben, doch Kennard bestellte neue Getränke. Während sie serviert wurden, hörte Dio, dass er Lew in leisem Ton Vorwürfe machte. Verstehen konnte sie nur: »Verdammt noch mal ... nicht für immer verstecken ...«

Lerrys stand auf und schlüpfte fort. Kurz darauf sahen sie ihn auf der Tanzfläche mit einer Frau von exquisiter Schönheit. Sie erkannten sie als eine der Wettkämpferinnen wieder. Das sternenfunkelnde Blau ihres Kostüms war jetzt mit Bahnen silbriger Gaze bedeckt.

»Wie gut er tanzt«, stellte Kennard freundlich fest. »Ein Jammer, dass er sich von der Veranstaltung zurückziehen musste. Obwohl es eigentlich nicht vereinbar mit der Würde eines Comyn-Lords ist...«

»Comyn bedeutet hier gar nichts«, lachte Geremy. »Wir sind ja hergekommen, damit wir Dinge tun können, die sich für einen Comyn auf unserer eigenen Welt nicht schicken. Und, Verwandter, war das nicht auch Euer Grund, wolltet Ihr nicht auch für Abenteuer frei sein, die man in den Domänen als unpassend oder schlimmer betrachten würde?«

Dio sah den Tanzenden neidisch zu. Vielleicht würde Lerrys zurückkommen und mit ihr tanzen. Aber sie bemerkte, dass seine Partnerin – sie mochte ihn als den Sportler wieder erkannt haben, der einer Verletzung wegen hatte ausscheiden müssen – ihn zu den anderen Teilnehmern am Finale geführt hatte. Jetzt sprach Lerrys vertraulich mit einem jungen, hübschen Burschen, den rothaarigen Kopf nahe zu dem Jungen geneigt. Der Tänzer war in nichts als Netze aus Goldfaden gekleidet, und den Anstand wahrten die kleinstmöglichen vergoldeten Stoffstückchen. Sein Haar war in einem leuchtenden Blau eingefärbt. Es war kaum anzunehmen, dass sich Lerrys jetzt daran erinnerte, dass solche Geschöpfe wie Frauen existierten, ganz zu schweigen von Schwestern.

Kennard folgte der Richtung von Dios Blick. »Ich sehe, dass Ihr Euch danach sehnt, unter den Tanzenden zu sein, Lady Dio, und für ein junges Mädchen ist es nur ein kärgliches Vergnügen, mit ihren Brüdern zu tanzen, wie ich meine Pflegeschwester und jetzt meine Pflegetöchter sich habe beklagen hören. Ich bin seit vielen Jahren nicht mehr im Stande zu tanzen, Damisela, sonst wäre es mir eine Freude, Euch aufzufordern. Aber Ihr seid zu jung, um in einem öffentlichen Lokal wie diesem mit anderen Männern als mit Verwandten zu tanzen ...«

Dio warf den Kopf zurück, dass das helle Haar flog. »Ich tue hier auf Vainwal, was mir gefällt, Lord Alton, und tanze, mit wem ich will!« Von Langeweile oder Bosheit getrieben, wandte sie sich an den finster blickenden Lew. »Doch hier sitzt ein Verwandter – willst du mit mir tanzen, Cousin?«

Er hob den Kopf und funkelte sie so böse an, dass Dio erbebte. Sie wünschte, sie hätte nicht davon angefangen. Das war kein Mann, mit dem man flirten und nette Redensarten austauschen konnte! Er maß sie mit einem mörderischen Blick, aber trotzdem schob er seinen Stuhl zurück.

»Ich sehe, dass mein Vater es wünscht, Damisela. Wollt Ihr mir die Ehre geben?« Die harte Stimme sprach ganz höflich – man durfte nur nicht zu tief in die Augen sehen. Er bot ihr seinen guten Arm. »Ihr werdet mir verzeihen müssen, wenn ich Euch auf die Füße trete. Ich habe seit vielen Jahren nicht mehr getanzt. Es ist eine auf Terra nicht sehr hoch bewertete Kunst, und ich habe mich während meines Aufenthalts dort nicht an Orten aufgehalten, wo das Tanzen üblich war.«

Verdammt soll er sein, dachte Dio, das ist Arroganz! Er war nicht der einzige verkrüppelte Mann im Universum, auch nicht auf diesem Planeten und nicht in diesem Saal – sein eigener Vater war so lahm, dass er kaum einen Fuß vor den anderen setzen konnte, und gab das ohne Scheu zu!

Lew trat ihr jedoch nicht auf die Füße. Er bewegte sich so leicht wie der Wind, und nach ganz kurzer Zeit gab sich Dio der Musik und der reinen Freude am Tanz hin. Sie passten gut zusammen. Dio merkte gleich, dass sie mit einem Darkovaner tanzte, denn nirgendwo im zivilisierten Imperium gab es ein so für den Tanz begeistertes Volk wie auf Darkover. Als sie sich einige Minuten lang in perfektem gemeinsamem Rhythmus bewegt hatten, hob Dio die Augen und lächelte ihn an. Sie senkte die geistige Abschirmung auf eine Weise, die jeder Comyn als Einladung zu der telepathischen Berührung ihrer Kaste verstehen musste.

Für einen Sekundenbruchteil trafen sich ihre Blicke. Sie spürte, dass seine Gedanken nach ihr griffen, instinktiv, im Einklang mit der Sympathie zwischen ihren Körpern. Dann schlug er ohne Warnung die Barriere zwischen ihnen zu. Der Schock benahm ihr den Atem. Sie brauchte ihre ganze Selbstbeherrschung, um nicht vor Schmerz über dies Zurückstoßen aufzuschreien. Aber die Befriedigung, sie verletzt zu haben, gönnte sie ihm nicht. Sie lächelte nur und fuhr fort, den Tanz auf gewöhnlicher Ebene zu genießen, die Bewegung, das Gefühl, in vollkommenem Einklang mit seinen Schritten zu sein.

Aber innerlich war sie benommen und bestürzt. Was hatte sie getan, um eine so brutale Zurückweisung zu verdienen? Ganz bestimmt nichts; ihre Geste war zwar kühn, aber nicht unanständig gewesen. Schließlich war er ein Mann ihrer eigenen Kaste, ein Telepath und Verwandter, und wenn er die ihm angebotene Intimität nicht wünschte, gab es behutsamere Methoden, abzulehnen oder sich zurückzuziehen.

Nun, da sie nichts getan hatte, um diesen Schlag zu verdienen, musste er eine Reaktion auf Lews inneren Aufruhr sein, und dann hatte das nichts mit ihr zu tun. Deshalb behielt sie ihr Lächeln bei, und als die Musik in eine langsamere, romantische Weise überging und die Paare um sie einander näher rückten, Wange an Wange legten, sich beinahe umarmten, bewegte sie sich instinktiv auf ihn zu. Einen Augenblick war er steif, regungslos, und sie fragte sich, ob er auch die körperliche Berührung ablehnen würde. Doch dann fasste sein Arm sie fester. Obwohl seine geistige Abschirmung ganz dicht war, spürte sie allein durch den leichten Druck seines Arms, wie ausgehungert er war ... Wie lange mochte es her sein, fragte sie sich, dass er auf irgendeine Weise eine Frau berührt hatte? Viel zu lange, davon war sie überzeugt. Die telepathischen Comyn, besonders die Altons und die Ridenows, waren bekannt dafür, in solchen Dingen eigen zu sein. Sie waren überempfindlich, sich einer zufälligen oder beiläufigen Berührung viel zu stark bewusst. Nur wenige unter den Comyn waren im Stande, sich in eine oberflächliche Liebesaffäre einzulassen.

Natürlich gab es Ausnahmen, dachte Dio. Der junge Hastur-Erbe sollte hinter Frauen her sein, obwohl er sich wahrscheinlich Musikerinnen oder Matrix-Mechanikerinnen aussuchte, sensible Frauen, die intensive Emotionen mit ihm zu teilen vermochten, nicht die gewöhnlichen Frauen der Stadt. Ihr Bruder Lerrys neigte auf seine eigene Art ebenfalls zur Promiskuität, wenn er sich auch an solche hielt, die ebenso wie er verschwenderischen Liebhabereien nachgingen ... Ein schneller Blick zeigte ihr, dass er mit dem Jungen in den Goldnetzen tanzte, eine schnell aufflammende, überfließende Intimität gemeinsamen Entzückens im Tanz.

Die Musik wurde langsamer, die Lichter matter, und Dio bemerkte, dass sich alle Paare rings um sie in die Arme nahmen. Eine fast sichtbare Dunstglocke aus Sinnlichkeit lag wie Nebel über dem ganzen Raum. Lew drückte sie fest an sich, beugte den Kopf. Sie hob das Gesicht und forderte ihn noch einmal sanft zu telepathischem Kontakt auf. Er senkte seine Barriere nicht, aber ihre Lippen begegneten sich. Als sie sich küssten, stieg in Dio langsam eine schläfrige Erregung auf. Sie sahen sich an, und sein Mund lächelte, doch in seinen Augen lag immer noch eine tiefe Traurigkeit.

Er sah sich in dem großen Saal voller tanzender Paare um, von denen viele sich jetzt fest umklammert hielten. »Das ... das ist dekadent«, sagte er.

Dio lächelte und schmiegte sich an ihn. »Es ist bestimmt nicht schlimmer als das Mittsommerfest in den Straßen von Thendara. Ich bin nicht zu jung, um zu wissen, was vor sich geht, wenn die Monde untergegangen sind.«

Seine harte Stimme klang weicher als gewöhnlich. »Deine Brüder würden mich suchen und mich zum Kampf herausfordern.«

Sie hob das Kinn und erklärte zornig: »Wir sind hier nicht in den Kilghardbergen, Dom Lewis, und ich erlaube keinem anderen Menschen, nicht einmal einem Bruder, mir vorzuschreiben, was ich tun darf. Wenn meine Brüder mein Verhalten missbilligen, wissen sie, dass sie die Vorwürfe mir machen müssen, nicht dir!«

Er lachte und berührte mit seiner guten Hand die federigen Spitzen ihres Haars. Es war, dachte sie, eine schöne Hand, empfindsam und stark, ohne übermäßig zart zu sein. »Also hast du dir das Haar abgeschnitten und die Unabhängigkeit einer Freien Amazone erklärt, Verwandte? Hast du ihren Eid auch abgelegt?«

»Nein.« Sie kuschelte sich noch enger an ihn. »Ich mag Männer zu gern, um das jemals zu tun.«

Wenn er lächelte, dachte sie, war er sehr hübsch, und die Narbe, die seine Oberlippe verzerrte, gab seinem Lächeln nur ein bisschen mehr an Ironie und Wärme.

Sie tanzten an diesem Abend oft miteinander, und bevor sie sich trennten, verabredeten sie sich für den nächsten Tag zum Jagen in den großen Reservationen des Vergnügungsplaneten. Als sie sich Gute Nacht sagten, lächelte Kennard wohlwollend, aber Geremy war in missmutiges Grübeln versunken. Kaum waren die drei in ihrer Luxus-Suite angelangt, als er zornig fragte: »Warum hast du das getan? Ich habe dir gesagt, halte dich fern von Lew! Wir wollen keine Verbindung mit diesem Zweig der Altons!«

»Wie kannst du es wagen, mir vorzuschreiben, mit wem ich tanzen soll? Ich kritisiere deinen Geschmack an Unterhalterinnen und Sängerinnen und Huren ja auch nicht, oder, Geremy?«

»Du bist eine Comyn-Lady! Und wenn du dich so auffällig benimmst...«

»Halt den Mund!«, fuhr Dio ihn an. »Du wirst beleidigend! Ich tanze einen Abend mit einem Mann meiner eigenen Kaste, weil meine Brüder mir keinen anderen Partner gelassen haben, und schon siehst du mich im Bett mit ihm! Und selbst wenn es so käme, Geremy, sage ich dir noch einmal, ich tue, was ich will, und weder du noch sonst irgendein Mann kann mich aufhalten!«

»Lerrys«, rief Geremy seinen Bruder zu Hilfe, »kannst du sie zur Vernunft bringen?«

Aber Lerrys stand da und betrachtete seine Schwester voller Bewunderung! »So ist’s richtig, Dio! Was hat es für einen Sinn, auf einem fremden Planeten in einem zivilisierten Imperium zu sein, wenn man den provinziellen Geist und die Bräuche der eigenen unterentwickelten Welt mitschleppt? Tu, wie es dir gefällt, Dio. Geremy, lass sie in Ruhe!«

Geremy schüttelte ärgerlich den Kopf, aber auch er musste lachen. »Du auch! Immer ein Herz und eine Seele, als wäret ihr Zwillinge!«

»Sicher«, antwortete Lerrys. »Was meinst du wohl, warum ich Männer liebe? Weil zu meinem Unglück die einzige Frau mit dem Geist und der Kraft eines Mannes, die ich je kennen gelernt habe, meine eigene Schwester ist!« Er küsste sie lachend. »Amüsier dich, Breda, nur pass auf, dass du nicht verletzt wirst. Er mag heute Abend sein bestes Benehmen gezeigt oder vielleicht sogar in romantischer Stimmung gewesen sein, doch ich habe den Verdacht, er kann zum Wilden werden.«

»Nein.« Geremy sprach plötzlich ernst. »Das ist kein Scherz. Ich möchte nicht, dass du ihn wieder siehst, Diotima. Ein Abend, um unsern Verwandten Höflichkeit zu erweisen, mag hingehen, und es tut mir Leid, wenn ich angedeutet habe, bei dir sei es mehr als Höflichkeit gewesen. Aber damit ist jetzt Schluss, Dio. Lerrys hat gestern Abend, als er mich nicht hochnehmen wollte, die gleiche Meinung ausgesprochen. Ich denke dabei nur an dein Wohl, und wenn du mir das nicht glaubst, wirst du doch glauben, dass Lerrys es tut. Hör auf mich, Schwester, es gibt genug Männer auf diesem Planeten, mit denen du tanzen, flirten, jagen und, verdammt noch mal, ins Bett gehen kannst, wenn du möchtest! Aber lass Kennard Altons halbblütigen Bastard in Ruhe – hast du verstanden? Ich sage dir, Dio, wenn du mir nicht gehorchst, werde ich dafür sorgen, dass du es bereust!«

Dio warf trotzig den Kopf in den Nacken, und Lerrys lachte: »Jetzt hast du es geschafft, Geremy. Es ist fast das Gleiche, als hättest du das Brautbett für sie aufgeschlagen. Weißt du denn nicht, dass kein lebender Mann Dio irgendetwas verbieten kann?«

Am nächsten Tag suchten sie sich in der Jagd-Reservation Pferde und die großen Falken aus, die den Verrin der Kilghardberge nicht unähnlich waren. Lew lächelte gutmütig, aber Dio merkte, dass er über ihre Reithosen und Stiefel doch ein bisschen schockiert war. »Du bist also doch die Freie Amazone, die du gestern nicht sein wolltest«, neckte er sie.

Sie lächelte zurück. »Nein. Ich habe dir gesagt, warum ich nie eine werden will.« Und je öfter ich ihn sehe, dachte sie, desto sicherer bin ich mir dessen. »Aber in einem Reitrock, wie ich ihn auf Darkover tragen würde, komme ich mir wie eine Hauskatze in Fausthandschuhen vor. Ich liebe es, mich frei zu fühlen, wenn ich reite; sonst könnte ich ja gleich auf dem Boden bleiben und Kissen sticken.«

»Ja, warum eigentlich nicht?«, fragte er, und sie sah in seinen jetzt gerade einmal schmerzfreien Gedanken die flüchtige Erinnerung an eine lachende, rothaarige Frau, die frei und ohne Sattel über die Berge ritt... Das Bild erlosch jäh. Dio hätte gern gewusst, wer die Frau war, und spürte einen schwachen Stich der Eifersucht.

Lew war ein guter Reiter, obwohl ihm die leblose künstliche Hand sehr im Weg zu sein schien. Er konnte sie auf gewisse Art gebrauchen, aber so unbeholfen, dass Dio sich fragte, ob er nicht mit einer Hand besser zurechtgekommen wäre. Selbst ein funktionaler Metallhaken wäre ihm ihrer Meinung nach besser von Nutzen gewesen. Aber vielleicht war er dazu zu stolz, oder er fürchtete, sie würde das hässlich finden. Er trug den Falken auf einem speziellen Sattelblock, wie es die Frauen auf Darkover taten, statt ihn in der Art der Männer in den Bergen auf dem Handgelenk zu halten. Als Dio hinsah, wurde er rot, wandte sein Gesicht ärgerlich ab und stieß einen halblauten Fluch aus. Wieder empfand Dio den plötzlichen Zorn, den Lew so schnell in ihr zu erregen vermochte. Sie dachte: Warum ist er wegen seiner Hand so empfindlich, so wehleidig? Meint er, es kümmert die Leute, ob er zwei Hände oder eine oder drei hat?

Die Landschaft der Jagd-Reservation war sorgfältig gestaltet und terraformiert worden. Die schöne und abwechslungsreiche Szenerie zeigte niedrige Hügel, die die Pferde nicht anstrengten, glatte Ebenen, eine große Zahl von Wildtieren und eine farbenprächtige Vegetation von einem Dutzend Welten. Aber während sie dahinritten, hörte Dio, dass Lew leise seufzte. Er sagte, gerade laut genug, dass sie ihn verstand: »Es ist schön hier. Aber die Sonne ... ist irgendwie verkehrt. Ich wünschte ...« Und er schnitt die Worte ab, wie er seine Gedanken abschneiden konnte, scharf und schnell, und schloss Dio brutal aus.

»Hast du Heimweh, Lew?«, fragte sie.

Seine Lippen wurden schmal. »Ja. Manchmal«, sagte er, aber er hatte sie schon wieder zurückgewiesen, und Dio wandte ihre Aufmerksamkeit dem Falken auf ihrem Sattel zu.

»Diese Vögel sind sehr gut ausgebildet.«

Er machte eine nichts sagende Bemerkung, aber ihr gelang es, seinen Gedanken aufzufangen, dass diese Vögel, darauf dressiert, von allen Besuchern benutzt zu werden, wie Huren und ganz und gar nicht interessant seien. Laut sagte er nur: »Ich würde meinen eigenen lieber selbst trainieren.«

»Ich jage gern«, erwiderte Dio, »aber ich bin mir nicht sicher, ob ich einen Vogel von Anfang an trainieren könnte. Es muss sehr schwierig sein.«

»Nicht für jemanden mit der Ridenow-Gabe, glaube ich«, meinte Lew. »Die meisten deines Clans haben sowohl die Empfänglichkeit für alle Tiere und Vögel als auch die Gabe, für die ihr gezüchtet wurdet, das Aufspüren fremder Intelligenzen und die Herstellung eines Kontakts mit ihnen.«

Dio lächelte und zuckte die Schultern. »Heutzutage ist nur noch wenig davon vorhanden. Die Ridenow-Gabe in ihrer ursprünglichen Form – also, ich glaube, sie ist ausgestorben. Lerrys sagt zwar, sie würde sehr nützlich im Terranischen Imperium sein, um die Kommunikation mit Nicht-Menschen zu ermöglichen. Ist es sehr schwierig, Falken zu trainieren?«

»Es ist bestimmt nicht leicht«, antwortete Lew. »Man braucht Zeit und Geduld. Und irgendwie musst du deinen Geist in Berührung mit dem Geist des Vogels bringen, und das ist Furcht erregend; sie sind wild und grausam. Aber ich habe es gemacht, in Arilinn, und einige der Frauen auch. Janna Lindir ist ausgezeichnet als Falken-Trainerin, und ich habe gehört, Frauen falle es leichter ... Meine Pflegeschwester Linnell allerdings lernte es nie, sie hatte Angst vor den Vögeln. Ich denke, es ist ähnlich wie das Einbrechen von Pferden, das mein Vater früher machte ... bevor er lahm wurde. Er versuchte, mir ein bisschen beizubringen, doch das ist lange her.« Wenn sie unbeschwert über diese Dinge plauderten, dachte Dio, war Lew wie ausgewechselt.

Die Reservation war mit unterschiedlichem Wild, großem und kleinem, besetzt. Eine Weile später ließen sie ihre Falken fliegen. Mit Entzücken beobachtete Dio, wie ihrer hoch aufstieg, kreiste und mit langen, starken Flügelschlägen eine Schar kleiner weißer Vögel direkt über ihnen verfolgte. Lews Falke kam ihm nach, schoss herab und packte einen der kleinen Vögel. Der weiße Vogel kämpfte Mitleid erregend mit einem langen, unheimlichen Schrei. Dio hatte ihr ganzes Leben lang mit Falken gejagt; sie sah voll Interesse zu. Doch als Blutstropfen von dem sterbenden Vogel niederfielen und sie beide bespritzten, merkte sie, dass Lew mit weißem, vor Entsetzen verzerrtem Gesicht nach oben starrte. Er wirkte wie gelähmt.

»Lew, was ist denn los?«

Mit gespannter, heiserer Stimme sagte er: »Dieser Schrei – ich kann ihn nicht ertragen ...« Er warf beide Arme hoch und bedeckte seine Augen. Die künstliche Hand in dem schwarzen Handschuh schlug gegen sein Gesicht. Er fluchte, riss sie sich vom Handgelenk und warf sie zu Boden, dem Pferd unter die Füße.

»Nein, schön ist sie nicht«, höhnte er wütend. »Wie Blut und Tod und die Schreie sterbender Kreaturen. Wenn Ihr daran Vergnügen habt, umso schlimmer für Euch, meine Lady! Habt dann auch daran Vergnügen!« Er hielt seinen scheußlich vernarbten bloßen Stumpf hoch und schüttelte ihn wie rasend gegen sie. Er wendete sein Pferd, riss mit seiner guten Hand an den Zügeln und ritt davon, als werde er von den Teufeln aller Höllen gejagt.

Dio blickte ihm bestürzt nach. Dann ritt sie in halsbrecherischem Galopp hinterher, die Falken vergessend. Nach einiger Zeit holte sie ihn ein. Er zog mit einer Hand an den Zügeln und kämpfte darum, das Pferd zum Stehen zu bringen. Doch, wie Dio mit Entsetzen bemerkte, er verlor die Kontrolle und wurde aus dem Sattel geworfen. Er schlug schwer auf den Boden auf und blieb regungslos liegen.

Dio glitt von ihrem Pferd und kniete neben ihm nieder. Er hatte das Bewusstsein verloren, aber als sie noch überlegte, ob sie fortreiten und Hilfe holen solle, öffnete er die Augen und sah sie an, ohne sie zu erkennen.

»Alles in Ordnung«, sagte sie. »Das Pferd hat dich abgeworfen. Kannst du dich aufsetzen?«

Er tat es, unbeholfen, als bereite der Stumpf ihm Schmerzen. Er bemerkte ihren Blick, zuckte zusammen und versuchte, den Stumpf in einer Falte seines Reitmantels zu verstecken. Er wandte sein Gesicht von ihr ab, und das Narbengewebe zog seinen Mund zu einer hässlichen Grimasse hoch, als wolle er weinen.

»Götter! Es tut mir Leid, Domna, es war nicht meine Absicht ...«, murmelte er fast unhörbar.

»Was war los, Lew? Warum bist du so wütend geworden und losgerast? Was habe ich dir getan?«

»Nichts, nichts ...« Benommen schüttelte er den Kopf. »Ich – ich kann kein Blut mehr sehen, und ich ertrage den Gedanken nicht, dass irgendein kleines, hilfloses Wesen zu meinem Vergnügen sterben muss ...« Seine Stimme klang erschöpft. »Ich habe mein ganzes Leben lang gejagt, ohne darüber nachzudenken, aber als ich den kleinen weißen Vogel schreien hörte und das Blut sah, kam es plötzlich wieder über mich, und ich erinnerte mich ... o Avarra, sei mir gnädig, ich erinnerte mich... Dio, geh weg, im Namen der gnädigen Avarra, berühre mich nicht, Dio ...«

Wieder verzog sich sein Gesicht, und dann weinte er mit schmerzhaftem, heiserem Schluchzen. Er versuchte, das hässlich verzerrte Gesicht abzuwenden, damit sie es nicht sah. »Ich habe ... zu viel Schmerz gesehen ... Dio, nicht... geh weg, geh weg, fass mich nicht an ...«

Sie nahm ihn in die Arme und zog ihn an ihre Brust. Einen Augenblick lang wehrte er sich heftig, dann ließ er es geschehen. Auch sie weinte.

»Ich habe nie darüber nachgedacht«, flüsterte sie. »Der Tod beim Jagen – ich bin daran so gewöhnt, es ist mir nie ganz wirklich vorgekommen. Lew, was war es, wer ist gestorben, was hat dich daran erinnert?«

»Marjorie«, stieß er heiser hervor. »Meine Frau. Sie starb, sie starb, sie starb auf grauenhafte Art in Sharras Feuer – Dio, berühre mich nicht, irgendwie verletze ich jeden, den ich berühre, geh weg, bevor ich auch dich verletze, ich will nicht, dass du verletzt wirst ...«

»Dazu ist es zu spät.« Sie hielt ihn fest und spürte seinen Schmerz in ihrem ganzen Körper. Er hob seine eine Hand an ihr Gesicht, berührte ihre nassen Augen, und seine Abschirmung schloss sich plötzlich wieder. Aber jetzt wusste sie, dass es keine Zurückweisung war, sondern die Verteidigung eines Mannes, der schrecklich gelitten hatte, der kein neues Leid mehr ertrug.

»Bist du verletzt worden, Dio?«, fragte er, und seine Hand verweilte auf ihrer Wange. »Es ist Blut auf deinem Gesicht.«

»Es ist das Blut des Vogels. Auf deinem Gesicht ist auch etwas.« Sie wischte es weg. Er ergriff ihre Hand und drückte die Fingerspitzen an seine Lippen. Dabei hätte sie am liebsten wieder losgeweint. Sie fragte: »Hast du dich beim Fallen verletzt?«

»Nicht sehr.« Vorsichtig prüfte er seine Muskeln. »Im Imperiums-Hospital auf Terra hat man mich gelehrt zu fallen, ohne mir wehzutun, als ich noch – bevor das hier verheilt war.« Verlegen schwenkte er den Stumpf. »Ich kann mich an die verdammte künstliche Hand nicht gewöhnen. Mit einer Hand komme ich besser zurecht.«

Das hatte sie sich schon gedacht. »Warum trägst du sie dann? Wenn es nur des Aussehens wegen ist, warum glaubst du, es kümmerte mich?«

Sein Gesicht war leer. »Vater würde es kümmern. Er meint, wenn ich den leeren Ärmel trage, stellte ich meine Verstümmelung zur Schau. Er hasst seine eigene Lahmheit so sehr. Ich möchte ihm meinen Mangel nicht... nicht ständig vor Augen halten.«

Dio dachte schnell nach und entschied sich, was sie darauf sagen konnte. »Du bist ein erwachsener Mann und er auch. Er hat seine Art, mit seiner Behinderung fertig zu werden, und du hast eine andere. Man sieht sofort, dass ihr ganz verschieden seid. Würde es ihn wirklich erzürnen, wenn du einen anderen Weg wähltest, um dich mit dem, was dir widerfahren ist, abzufinden?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Lew, »aber er ist so gut zu mir gewesen, hat mir nie Vorwürfe wegen dieser Jahre im Exil gemacht, auch nicht für die Art, in der ich alle seine Pläne zum Scheitern gebracht habe. Ich möchte ihm keinen weiteren Kummer machen.« Er stand auf und ging, das groteske, leblose Ding in seinem schwarzen Handschuh zu holen. Einen Augenblick betrachtete er es, dann steckte er es in seine Satteltasche. Mit einer Hand bemühte er sich, den leeren Ärmel über dem Stumpf festzustecken. Dio wollte ihm schon ganz sachlich ihre Hilfe anbieten, kam jedoch zu dem Schluss, dazu sei es zu früh. Er blickte zum Himmel hinauf. »Ich vermute, die Falken sind so weit weg, dass wir sie nicht mehr zurückrufen können. Wir werden sie bezahlen müssen.«

»Nein.« Dio blies in die silberne Pfeife, die sie am Hals trug. »Das sind Vögel mit modifizierten Gehirnen, die gar nicht anders können, als der Pfeife zu gehorchen – siehst du?« Sie zeigte auf zwei ferne Punkte am Himmel, die größer und größer wurden, sich in Spiralen niedersenkten und auf den Sattelblocks landeten, wo sie geduldig auf ihre Hauben warteten. »Ihr Instinkt für Freiheit ist ausgebrannt worden.«

»Sie sind wie einige Männer, die ich kenne.« Lew stülpte seinem Vogel die Kappe über. Dio tat es bei ihrem, doch keiner von beiden machte Anstalten, aufs Pferd zu steigen. Dio zögerte, dann dachte sie, wahrscheinlich habe er es schon viel zu oft erlebt, dass Leute höflich die Augen abwendeten und taten, als merkten sie nichts von seiner Verstümmelung.

»Brauchst du Hilfe beim Aufsteigen? Kann ich dir helfen, oder soll ich jemand anders rufen?«

»Ich danke dir, aber ich komme allein zurecht, wenn es auch nicht gerade elegant aussieht.« Wieder lächelte er plötzlich, und wieder kam ihr sein hässliches Narbengesicht schön vor. »Woher wusstest du, dass es mir gut tun würde, das zu hören?«

»Ich bin nie wirklich krank gewesen«, antwortete sie, »aber in einem Jahr hatte ich ein Fieber und verlor all mein Haar, und ein halbes Jahr lang wuchs es nicht mehr nach. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie hässlich ich mir vorkam. Und am meisten quälte es mich dabei, dass jeder sagte, wie hübsch ich aussehe, mir erzählte, wie niedlich mein Kleid oder mein Taschentuch sei, und so tat, als sei alles in bester Ordnung mit mir. Mir gab es das Gefühl, als machte ich in meinem Elend schreckliches Theater um eine ganz unwesentliche Sache. Deshalb meine ich, wäre ich – wäre ich lahm oder verkrüppelt, dann würde es mich erbosen, wenn die Leute mich immerzu zwängen, so zu tun, als fehle mir überhaupt nichts. Bitte, glaube mir, das brauchst du mir gegenüber nie vorzutäuschen.«

Lew holte tief Atem. »Vater bekommt einen Wutanfall, wenn jemand Notiz von seinem Hinken nimmt, und ein- oder zweimal, als ich versuchte, ihm meinen Arm anzubieten, hätte er mich beinahe niedergeschlagen.«

Und trotzdem, dachte Dio, hat Kennard seine Lahmheit gestern Abend dazu benutzt, Lew und mich zusammen auf die Tanzfläche zu bringen. Warum? Sie sagte: »Das ist die Art, wie er mit seinem Leben und mit seiner Behinderung fertig wird. Du bist nicht dein Vater.«

Plötzlich begann er zu zittern. »Manchmal ... manchmal fällt es mir schwer, dessen sicher zu sein«, und ihr fiel ein, dass die Alton-Gabe der erzwungene Rapport war. Kennards enge Verbundenheit mit seinem Sohn, sein ihn verzehrender Ehrgeiz für Lew war auf Darkover wohl bekannt. Diese Verbundenheit musste manchmal zur Folter werden und es Lew schwer machen, seine eigenen Gefühle und Emotionen von denen seines Vaters zu unterscheiden. »Es muss schwer für dich sein – er ist ein so starker Telepath ...«

»Um gerecht zu sein«, erwiderte Lew, »es muss auch für ihn schwer sein, alles zu teilen, was ich in diesen Jahren durchgemacht habe. Und es hat eine Zeit gegeben, als meine Barriere nicht so fest war wie jetzt. Es ist bestimmt die Hölle für ihn gewesen. Aber das macht es nicht weniger schwer für mich.«

Und wenn Kennard nicht die geringste Schwäche an Lew akzeptiert... Aber Dio dachte das nicht zu Ende. »Ich will dich nicht ausfragen. Wenn du nicht antworten möchtest, sag es einfach, aber ... Geremy hat in einem Duell drei Finger verloren. Die terranischen Mediziner haben sie ihm nachwachsen lassen, sie sind so gut wie neu. Warum haben sie das mit deiner Hand nicht versucht?«

»Das haben sie«, sagte er, »zweimal.« Seine Stimme war flach und ausdruckslos. »Mehr konnte ich nicht ertragen. Irgendwie ist das Zellmuster ... du bist keine Matrix-Technikerin, nicht wahr? Es wäre leichter zu erklären, wenn du etwas von Zellteilung verstündest. Ich frage mich, ob ich es dir deutlich machen kann. Das Zellmuster, das Wissen in den Zellen macht eine Hand zur Hand und nicht zu einem Auge oder einem Zehennagel, einem Flügel oder einem Huf. Es ist zerstört worden und kann sich nicht mehr erneuern. Was am Ende meines Handgelenks wuchs, war ...« Er holte tief Atem, und sie sah das Entsetzen in seinen Augen. »Es war keine Hand«, erklärte er tonlos. »Ich bin mir nicht sicher, was es war, und ich will es auch nicht wissen. Einmal haben die Ärzte einen Fehler bei der Betäubung gemacht, und ich wachte auf und sah es. Man sagte mir, ich hätte mir die Kehle wund geschrien. Ich erinnere mich nicht daran. Seitdem ist meine Stimme nie mehr wieder in Ordnung gekommen. Ein halbes Jahr lang konnte ich nur flüstern.« Seine harte Stimme war bar jeden Gefühls. »Jahrelang war ich nicht ich selbst. Jetzt kann ich damit leben, weil... weil ich muss. Ich kann der Tatsache ins Gesicht sehen, dass ich ... verkrüppelt bin. Aber was ich nicht ertrage, ist ...«, setzte er mit plötzlicher Heftigkeit hinzu, »dass mein Vater es nötig hat, so zu tun, als sei ich ... heil!«

Dio fühlte sich von wildem Zorn gepackt, und sie war sich nicht einmal sicher, ob es ihr eigener war oder der des Mannes. Sie war sich ihres eigenen Larans nie so ganz bewusst gewesen, der Ridenow-Gabe, die das Teilen von Emotionen, die volle Empathie sogar mit Nichtmenschen, mit fremdrassigen Lebewesen war ... Sie hatte kaum Erfahrung damit. Jetzt erschütterte es sie bis ins Mark. Ihre Stimme schwankte. »Täusche mir nie etwas vor, Lew. Ich kann dich ansehen, wie du bist – ganz so, wie du bist, immer, alles an dir.«

Er fasste sie mit rauem Griff und zog sie an sich. Eine Umarmung war das kaum zu nennen. »Mädchen, weißt du, was du sagst? Du kannst es nicht wissen.«

Ihr war, als löse sie sich auf, als verschmelze sie mit diesem Mann. »Wenn du ertragen kannst, was du hast durchmachen müssen, kann ich es ertragen, davon zu wissen. Lew, lass es mich dir beweisen.«

Tief in ihrem Inneren fragte sie sich: Warum tue ich das? Aber sie wusste, dass gestern Abend, als sie sich auf der Tanzfläche in die Arme genommen hatten, ihre Körper trotz Lews fest geschlossener Abschirmung einen Pakt eingegangen waren. Jetzt konnten sie sich voreinander verbarrikadieren, soviel sie wollten, etwas in ihm und in ihr hatte mit dem anderen einen Kontakt hergestellt und akzeptiert, was dieser war, ganz und für immer.

Sie hob ihm das Gesicht entgegen. In dankbarer Überraschung legte er die Arme um sie und murmelte, sich immer noch zurückhaltend: »Aber du bist so jung, Chiya, du kannst nicht wissen ... dafür sollte ich ausgepeitscht werden ... aber es ist so lange her, so lange ...« Ihr war klar, dass er von dem ganz Offensichtlichen sprach. Seine Abschirmung wich, und ihr eigenes Ich ging unter in der Flut seiner Gedanken ... – Erinnerungen an Schmerz und Entsetzen, ausgehungerte Sexualität, Qualen, schlimmer, als ein Mensch sie ertragen kann ... Da war das peinigende, alles verschlingende Schuldgefühl, der Tod eines geliebten Menschen, die Selbsterkenntnis, die Selbstvorwürfe, die beinahe freudig begrüßte Verstümmelung als Ausgleich dafür, dass er lebte, während Marjorie tot war...

Mit einer verzweifelten, leidenschaftlichen Umarmung zog Dio ihn an sich. Das war es, wonach er sich am meisten gesehnt hatte: jemand, der all dies wusste und ihn immer noch ohne Vorbehalt akzeptierte, ihn trotzdem liebte. Liebewar das Liebe, das Bewusstsein, dass sie gern all sein Leiden auf sich nehmen wollte, um ihm jeden weiteren Augenblick voll Qual und Schuldgefühl zu ersparen ...?

Eine Sekunde lang sah sie sich, wie sie von seinem Geist widergespiegelt wurde, und sie erkannte sich kaum – warm, glühend, Frau. In dieser Sekunde liebte sie sich selbst für das, was sie ihm geworden war. Dann zerbrach der Rapport und zog sich wie Meereswogen bei Ebbe zurück. Dio blieben eine tiefe Erschütterung, Tränen und eine Zärtlichkeit, die niemals mehr geringer werden konnte. Erst jetzt senkte Lew sein Gesicht und küsste sie. Sie gab seinen Kuss zurück, lachte und flüsterte: »Geremy hatte Recht.«

»Womit, Dio?«

»Nichts, mein Liebster«, sagte sie frohen Herzens und voller Erleichterung. »Komm, Lew, die Falken sind unruhig, wir müssen sie in ihr Gehege bringen. Wir werden unser Geld zurückbekommen, weil wir kein Wild erlegt haben, aber was mich betrifft, so habe ich eine gute Jagd gehabt. Ich habe, was ich mir am meisten wünschte ...«

»Und was ist das?«, fragte er neckend, aber einer Antwort bedurfte es nicht. Sie stiegen auf, und er berührte sie nicht mehr. Doch sie wusste, dass sie irgendwie immer noch miteinander verbunden, immer noch einer in den Armen des anderen waren.

Lew warf einen Arm hoch und rief: »Lass uns um die Wette reiten! Wer von uns ist zuerst an den Ställen?«

Und fort war er; Dio grub ihrem Pferd die Absätze in die Weichen und galoppierte ihm lachend nach. Sie wusste ebenso genau wie er, wie und wo dieser Tag enden würde.

Und das war erst der Beginn einer langen Jahreszeit auf Vainwal. Es würde ein langer, wunderschöner Sommer werden.

Dio wusste, dass Dunkelheit vor ihr lag, doch sie ging ihr ohne Furcht und aus freiem Willen entgegen, bereit, sich ihr zu stellen. Hinter der Dunkelheit erkannte sie, was Lew gewesen war und was er wieder sein konnte ... wenn sie die Kraft und den Mut hatte, ihn hindurchzubringen. Sie raste ihm nach und rief: »Warte auf mich – Lew, wir wollen zusammen reiten!« Er verlangsamte den Lauf seines Pferdes ein bisschen und sah ihr lächelnd entgegen.

Sharras Exil

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