Читать книгу Der Sohn des Verräters - Marion Zimmer Bradley - Страница 6
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ОглавлениеEin kalter Windstoß schlug Katherine Aldaran ins Gesicht und ließ sie nach Luft schnappen. Es war ein Schock nach der Heizungswärme im Gebäude des Raumhafens. Die Angst, die Katherine umklammert hielt, seit Herm sie mitten in der Nacht geweckt und ihr befohlen hatte, für Darkover zu packen, schien ihren Würgegriff für einen Augenblick zu lösen; an ihre Stelle trat nun Zorn. Sie würde nie vergessen, wie er in jener schrecklichen Nacht im Halbdunkel des Schlafzimmers ausgesehen hatte, wie sich seine Pupillen selbst bei der ungenügenden Beleuchtung noch zusammengezogen hatten. Der verzweifelte Ausdruck auf seinem für gewöhnlich ruhigen, vertrauten Gesicht hatte sie so sehr erschreckt, dass sie nicht einmal Fragen stellte, sondern einfach tat, was er verlangte.
Sie hatte die Angst in der winzigen Kabine auf dem Schiff ausgehalten und beim Umsteigen auf Vainwal. Katherine schluckte schwer und öffnete den Mund, um endlich eine Erklärung zu verlangen, aber der eisige Wind entriss ihr die Worte und löste ihren Dutt auf. Sie sah, dass der Gepäckträger, den man ihnen zugeteilt hatte, direkt hinter ihr war, und zwang sich, die Fragen nicht zu stellen, die ihr auf der Zunge lagen. Stattdessen fluchte sie heftig in ihrer Renney-Mundart, machte ihrer Angst und Wut in farbigen Ausdrücken Luft, ohne sich darum zu kümmern, ob ihr Sohn ein paar Schimpfwörter aufschnappte. »Du hättest mich vorwarnen können, dass wir hier in einen Sturm kommen!« Ihre Worte klangen matt im Vergleich mit denen, die sie gern losgeworden wäre.
Herm sah zu, wie Katherine ihr langes schwarzes Haar bändigte und die Strähnen wie Peitschenschnüre aus dem erschöpften Gesicht zog. Sie besaß ein lebhaftes Temperament, seine Kate, und dass man sie mitten in der Nacht aus ihrem Bett zerrte und dann ohne vernünftige Erklärung durch die halbe Galaxis verfrachtete, hatte ihre Selbstbeherrschung bis zum Äußersten strapaziert. Er hatte die Fragen, die in ihr aufstiegen, ein paar Mal aufgefangen – nach telepathischen Maßstäben hatte sie praktisch geschrien – und wusste, was es ihr abverlangt hatte, sie zurückzuhalten. Nur Kates Einsicht, dass ihr Diplomatengatte nicht offen sprechen würde, solange die Föderation mithörte, hatte ihn bislang vor einem zermürbenden Kreuzverhör bewahrt. Stattdessen war er mit kaltem Schweigen gestraft worden, was seiner Meinung nach noch schlimmer war.
Aber Herm musste unwillkürlich lachen, auch wenn er wusste, dass er sie damit noch wütender machte, als er den wunderbaren, reinen Herbstgeruch wahrnahm, der von Westen kam. Er konnte nicht anders. Die beißende Kälte strich ihm über die Wangen, erfrischend und vertraut, aber es lag noch keine Spur von Schnee in ihr. Er hatte vergessen, wie es sich anfühlte, und erst in diesem Augenblick wurde ihm bewusst, dass Heimweh sein täglicher Begleiter gewesen war. Seit mehr als zwanzig Jahren war er nicht zu Hause gewesen, und das war zu lange.
Nun legte er den Arm um Kates schlanke Taille und zog sie an sich. Er spürte die Wärme ihres Körpers und roch den schwachen chemischen Duft des Lufterfrischers aus dem Raumschiff. Sie wehrte sich gegen seine Berührung, und er ließ sie widerstrebend los.
»Ein Sturm? Davon kann keine Rede sein, Kate. Das ist nur eine frische Brise.« Er schnupperte kennerhaft und sprach unbefangener, als ihm zu Mute war. »Aber ich wäre überrascht, wenn es nicht vor Einbruch der Nacht noch regnen würde.«
Amaury, der das dunkle Haar und die blasse Haut seiner Mutter hatte, sah seinen Stiefvater skeptisch an, während sich Terése zitternd an sein Bein lehnte. Herm beugte sich vor und hob die Kleine in die Höhe, auch wenn sie dafür schon ziemlich groß war. Sie war ein hübsches Ding, mit dem roten Haar und den grünen Augen, die in der Aldaransippe so verbreitet waren. Tatsächlich sah Terése seiner Schwester Gisela sehr ähnlich, als diese im selben Alter war. »Ist es hier immer so kalt, Papa?« Vertrauensvoll schmiegte sie sich an seine Schulter. Sie hatte noch nie Schnee gesehen, und in dem künstlichen Klima, in dem sie ihr bisheriges Leben verbracht hatten, fiel nie Regen.
»Nein, Kleines. Das ist noch gar nichts im Vergleich zum Winter. Aber bald werden wir in einer warmen Kutsche sitzen – vorausgesetzt, Lew hat die Nachricht erhalten, die ich ihm von Vainwal geschickt habe – und dann in einem hübschen, warmen Haus.« Er zeigte über die spitzen Dächer Thendaras. »Siehst du das große Gebäude dort oben auf dem Berg? Dorthin fahren wir, glaube ich.« Er hatte den riesigen Bau noch nie gesehen, aber das musste Burg Comyn sein.
Selbst aus der Ferne wirkte sie gewaltig. Das Weiß des Mauerwerks leuchtete in der Nachmittagssonne, und Herm konnte Wimpel und Flaggen auf den Türmen und Vorsprüngen flattern sehen. Auf einer Seite stand eine dunkle Ruine, als wäre ein Teil des Gebäudes vom Blitz getroffen und nicht wieder repariert worden. Ohne dass er es sich erklären konnte, ließ ihn der Anblick plötzlich vor Unbehagen frösteln.
»Das ist kein Haus«, protestierte Amaury.
»Nein, es ist eine Burg.«
»Ist das die Burg, in der du aufgewachsen bist, Vater?« Amaury hatte vor einigen Monaten aufgehört, ihn Papa zu nennen, und die förmlichere Anrede übernommen. Er war jetzt fast dreizehn und benahm sich genauso, wie Herm es in seinem Alter getan hatte, als er auch Wege suchte, sich von seinen Eltern zu lösen und eine eigenständige Person zu werden.
»Nein. Burg Aldaran ist weit weg, droben in den Hellers, das sind sehr, sehr große Berge, und man kann sie von hier nicht einmal sehen. Kommt. Bald sind wir in der Burg, dort bekommen wir ein schönes heißes Bad und Essen, das nicht aus einem Automaten stammt.« Er winkte dem Gepäckträger, den ihm der Zolloffizier zugeteilt hatte, da er offenbar immer noch Senator war. Der Mann, ein Zivilangestellter der Föderation, hatte ihre wenigen Habseligkeiten auf einen Wagen gestapelt.
Sie hatten so vieles zurückgelassen! Herm hatte versprochen, alles nachschicken zu lassen, aber er wusste, dass es wahrscheinlich nicht dazu kommen würde. Man würde alles beschlagnahmen, was sie nicht mitgenommen hatten. Er staunte noch immer, dass er Katherine ohne den geringsten Streit von Terra weggebracht hatte, nur mit den Dingen im Gepäck, die wirklich kostbar oder unersetzbar waren. Sie hatte ihn nicht einmal ausgefragt, als hätte sie seine Entschlossenheit gespürt. »Man hat mich nach Darkover zurückgerufen, Liebes«, hatte er verkündet. »Ich muss sofort aufbrechen, und ich will dich und die Kinder nicht hier lassen.« Das hatte genügt, damit sie sich in Bewegung setzte und zu packen begann. Er wusste, wie verängstigt sie sein musste, anders als die Kinder, die das Ganze anscheinend als ein großes Abenteuer ansahen. Wirklich unglaublich, seine Kate.
Die Bescheidenheit ihres Heims hatte verhindert, dass sie allzu viel Besitz ansammelten, aber ihr Gepäck war immer noch beachtlich. Da waren Kates Ölfarben und Pinsel, ihre Skizzenblöcke und Kreiden, Amaurys Sammlung von rennischen Kriegerfiguren und zwei von Teréses zerfledderten Stoffpuppen, dazu eine große Menge Kleidung, die für das Klima auf Darkover völlig ungeeignet war. Die grässlichen Synthetiksachen, die sie in den stets warmen Räumen Terras trugen, boten keinen Schutz gegen den beißenden Wind. Weiter hatten sie Hologramme von Katherines riesiger Familie auf Renney dabei und sogar Herms Sammlung von Miniaturkeramik, winzige Schüsseln und Vasen, nicht länger als sein Daumen. Es war dumm gewesen, sie mitzunehmen, aber er hatte die lieb gewonnenen Objekte einfach nicht zurücklassen können. Abgesehen davon waren einige der Stücke tatsächlich sehr wertvoll, und er sah nicht ein, dass sie entweder in einem Lager verschimmeln oder zum Nutzen der Föderation versteigert werden sollten.
Nicht eingepackt hatten sie dagegen sämtliche technischen Spielereien der Föderation – weder Kommunikatoren noch Computer, Rekorder oder Sendegeräte. All das war nach darkovanischem Gesetz verboten, und ihre einzige illegale Fracht bestand aus einer kleinen Schachtel »Lumens«, von selbst leuchtenden Punkten, die auf jeder Oberfläche hafteten. Herm las gerne im Bett, und mit Hilfe der Lumens konnte er es tun, ohne seine Frau zu stören. Er dachte kurz darüber nach, wie die Kinder wohl reagieren würden, wenn sie schließlich erkannten, wie sehr sich Darkover von ihrer gewohnten Umgebung unterschied. In ihrem gesamten jungen Leben hatte stets eine Berührung mit dem Finger genügt, damit sie Zugang zu enormen Datenmengen hatten oder zu umfassenden Berichten von den Planeten der ausgedehnten Föderation. Herm war sich nicht sicher, ob ihm selbst ohne Medien noch wohl sein würde. Achselzuckend ließ er den Gedanken fallen.
Katherine war es inzwischen gelungen, ihr Haar zu einem Knoten am Hinterkopf zu drehen. Die Geschicklichkeit ihrer Finger erstaunte ihn immer wieder. Zum Glück war der Kragen ihres terranischen Gewands hochgeschlossen, sodass sie nicht unzüchtig erscheinen würde. Nachdem er so viele Jahre lang Frauen mit tief ausgeschnittenen Kleidern gesehen hatte, die ihren Nacken in einer Weise entblößten, die ihn bei seiner Ankunft in der Föderation schockierte, hatte er diese Besonderheit der darkovanischen Kleidersitten fast schon vergessen. Mit einem leichten Erschrecken fragte sich Herm, ob er sich wieder an Dinge anpassen konnte, die er nicht mehr für wichtig hielt – wie eben das Bedecken des Nackens für Frauen oder das Tragen eines Schwerts für Männer. War er noch ausreichend Darkovaner, um hier leben zu können?
Sie trotteten über das Rollfeld in Richtung des Torbogens, der den Raumhafen von dem Teil Thendaras trennte, den man die Handelsstadt nannte. Es war nicht weit, aber sie waren alle gründlich durchgefroren, als sie dort ankamen. Herm nickte den schwarz gekleideten terranischen Wachmännern träge zu und zückte seine Papiere und Dokumente, ohne sich das geringste Zögern anmerken zu lassen.
Herm hatte Katherine und die Kinder gezwungen, während des größten Teils der öden Reise in der kleinen Kabine zu bleiben. Sie wagten sich nur nach draußen, um im Speisesaal der ersten Klasse ihre Mahlzeiten einzunehmen. Trotz des großspurigen Namens handelte es sich nur um eine enge Kombüse mit im Boden verankerten Plastiktischen, Wegwerftellern und –besteck sowie einer äußerst beschränkten Auswahl in den Essensautomaten. Die Speisen waren praktisch geschmacklos, wenngleich wahrscheinlich nahrhaft gewesen, und Herm gestattete sich die Vorfreude auf richtige darkovanische Küche.
Als sie vor neun Jahren nach Renney gereist waren, um Terése ihrer Urgroßmutter vorzustellen, hatte auf den Schiffen noch so etwas wie Komfort existiert. Aber diesmal hatten sich bereits die Sparmaßnahmen bemerkbar gemacht, die jetzt überall gang und gäbe waren. Sie schienen Hermes symptomatisch für alles zu sein, was in der Föderation im Argen lag, und er war gewaltig erleichtert gewesen, als er vor einer halben Stunde den gewundenen Korridor hinabstieg, die zweite und dritte Klasse durchquerte und aus dem Schiff in das Gebäude des Raumhafens wechselte.
Die anderen Passagiere in der ersten Klasse waren argwöhnische, unfreundliche Bürokraten und Geschäftsleute gewesen. Im Essbereich hatte nicht das Stimmengewirr zivilisierter Konversation geherrscht wie auf ihrer früheren Reise, sondern nur das ständige Dröhnen eines Medienkanals, der uninteressante Nachrichten verbreitete, und das Klicken kleiner Computer-Touchboards der anderen Passagiere. Herm hatte mehr aus Gewohnheit zugehört als aus einem anderen Grund und gehofft, einen Hinweis aufzuschnappen, was jenseits der Leere, in der sie unterwegs waren, vor sich ging. Nichts hatte vermuten lassen, dass weltenbewegende Dinge geschahen, und er hatte sich schon gefragt, ob er etwa einen dummen und kostspieligen Fehler gemacht hatte. Aber am dritten Tag der langweiligen Reise schnappte er eine Information auf, die seine Nerven vibrieren ließ: Es war zu einer plötzlichen und scheinbar unerklärlichen Verkaufswelle an der Intersystem gekommen, einer der großen interplanetarischen Börsen.
Merkwürdig, dachte er. Als er noch ein Junge war und auf Burg Aldaran herumtobte, hatte er nie von einer Börse gehört, selbst der brave Terraner seines Vaters hatte eine solche Institution nie erwähnt. Doch wie er später entdeckte, stellten diese Handelsplätze einen unheimlichen Seismografen kommender Ereignisse dar, fast als könnten Geldanlagen in die Zukunft sehen, bevor es ihre Besitzer konnten. Herm hätte ein sehr reicher Mann werden können, wenn er seine Gabe mit dem Gefühl kombiniert hätte, das ihn beim Beobachten der Kursfluktuationen überkam. Stattdessen hatte er sein Verständnis dieser Dinge im Lauf der Jahre verfeinert, bis er eine Menge nützlicher Informationen aus einer scheinbar so irrelevanten Sache wie einer plötzlichen Veränderung bei Galliumoptionen oder der Missernte auf einem kleineren Planeten ziehen konnte.
Während er die Information über die kristalline Oberfläche des Monitors ziehen sah, spürte er genau, welche Störung des Handels die Ankündigung der Premierministerin zur Folge haben würde. Niemand, nicht einmal ihre expansionistischen Berater, konnte das wirtschaftliche Chaos Vorhersagen, das sie auslösen würden. Er war überzeugt, dass jemand, der Bescheid wusste, in der Hoffnung auf ein schnelles Vermögen geplaudert hatte, und sein Broker hatte etwas in Gang gesetzt, dessen Schockwelle man in der ganzen Föderation spüren würde. Es konnte Monate, wenn nicht Jahre dauern, bis man das ganze Ausmaß erkannte. Was Herm anging, war das gut so, denn wenn die Terraner in einer ökonomischen Krise steckten, würden sie eine Weile keine Zeit haben, sich mit Darkover zu befassen.
Seine schlimmsten Befürchtungen waren nicht eingetreten – er war nicht verhaftet worden. Aber er hatte während der Reise kaum geschlafen, ständig auf ein Unheil kündendes Läuten an der Kabinentür gehorcht. Kate war in ihrer Angst und Wut sehr still gewesen, und die Kinder hatten sie anfänglich nachgeahmt. Dann war es ihnen langweilig geworden, und sie hatten begonnen, ihm Fragen über Darkover zu stellen. Die trübe Zeit war dadurch schneller vergangen, und es hatte sogar sein gesteigertes Wahrnehmungsvermögen ein wenig besänftigt. Bei ihrer Ankunft auf Vainwal hatten Terése und Amaury Münzen für die vielen Glücksspielautomaten erbettelt, die überall im Raumhafen herumstanden. Vainwal war berühmt für sein Glückspiel und andere Freizeitvergnügen, und er hatte den beiden Kindern so viel Geld gegeben, dass sie beschäftigt waren, während er die Nachricht von seiner bevorstehenden Ankunft nach Darkover schickte. Er war sehr erleichtert gewesen, als er seine kleine Familie auf ein anderes Raumschiff und damit auf den letzten Abschnitt ihrer Reise geführt hatte.
Herm blieb angespannt, bis seine Papiere geprüft waren. Er befand sich immer noch auf dem Hoheitsgebiet der Föderation und war deren Gesetzen unterworfen, nicht denen Darkovers. Zwar hatte er sich in seinen Amtsjahren nicht allzu viele Feinde gemacht, aber er wusste ganz genau, dass man ihn, solange er auf dem Boden der Föderation weilte, immer noch verhaften, zum Staatsfeind erklären und auf einen der Strafplaneten schaffen konnte, wo er dann ohne Verfahren und von allen vergessen schuften durfte, bis er starb. Es war mehr als einem seiner Kollegen so ergangen, daher nahm er die Reichweite des expansionistischen Arms auf jeden Fall ernst.
Der Wind frischte jäh auf, als er die Grenzlinie zwischen der Föderation und Darkover überquerte, sodass sein Allwettermantel wild an seinen Körper schlug. Er blieb stehen, um das nutzlose Kleidungsstück nach unten zu zerren, und stellte Terése auf dem Kopfsteinpflaster ab. Dabei merkte er, wie die Anspannung nachließ, die sein Leben in den letzten Monaten geprägt hatte. Egal, was jetzt noch geschah, er hatte seine Familie an den sichersten Ort gebracht, den er sich denken konnte, und wenn er in diesem Augenblick starb, würde man für sie sorgen. Sein Bruder Robert Aldaran würde sich darum kümmern, dass sie zu essen und ein Dach über dem Kopf bekamen, und niemand würde sie mit Gefängnis oder Tod bedrohen. Zu spät bemerkte er, dass es ein Fehler gewesen war, sich zu entspannen, denn nun senkte sich augenblicklich das ganze Gewicht seiner Erschöpfung auf seine breiten Schultern. Mit Mühe gelang es ihm, sich aufrecht zu halten.
Herm bemerkte eine große Kutsche, die auf dem Platz hinter dem Torbogen auf sie zu warten schien. Vier Pferde stampften mit den Hufen, ihre Mähnen und Schweife flatterten im Wind. Der terranische Gepäckträger hielt seinen Wagen an, lud zügig ihr Gepäck ab und schlurfte durch den Torbogen zurück, als machte es ihn nervös, wenn er sich am Rand der Handelsstadt aufhielt. Er wartete nicht einmal auf ein Trinkgeld, was Herm ganz recht war, denn er hatte kaum noch Bares in der Tasche. Dann ging die Tür der Kutsche auf, und ein Mann, den Herm noch nie zuvor gesehen hatte, stieg aus. Er war etwa in Herms Alter, untersetzt und mit fröhlichem Gesichtsausdruck, sein Haar war braun, und seine blauen Augen funkelten.
»Senator? Ich bin Rafael Lanart-Hastur. Lew Alton bat mich, Sie abzuholen. Er kann im Augenblick nicht weg.« Das Funkeln in seinen Augen verblasste ein wenig; offensichtlich bekümmerte ihn etwas, das er nicht aussprechen wollte. Er warf einen raschen Blick auf die terranischen Wachleute, die gut drei Meter entfernt standen. Herm erriet, dass sie nicht hören sollten, was er sagte, obwohl er darkovanisch sprach.
»Dann lernen wir uns also endlich kennen! Kate, das ist mein Schwager, der Mann meiner Schwester Gisela.« Seine Stimme klang übertrieben herzlich und völlig unaufrichtig in seinen Ohren.
»Von mir aus kann er der König von Ys sein, Hauptsache wir kommen endlich aus dieser Kälte heraus!« Sie fauchte ihre Worte in Casta, das sie von Herm gelernt hatte, dann schenkte sie Rafael Hastur ein strahlendes Lächeln, von dem ihr Mann immer dachte, es könnte die Welt in Brand setzen.
»Aber natürlich!« Falls Rafael überrascht war, dass sie die Sprache beherrschte, ließ er es sich nicht anmerken, sondern bot ihr höflich den Arm an, ohne auf weitere Vorstellungen zu warten. Er half Katherine in die Kutsche, die Kinder krabbelten hinter ihr hinein. Der Kutscher lud bereits ihr Gepäck auf das Dach des Gefährts, und auch Herm suchte im Wageninnern Zuflucht vor dem Wind. Trotz ihrer Größe war die Kutsche mit fünf Personen ziemlich voll.
Helm und Rafael nahmen auf einer Bank mit dem Rücken zum Kutscher Platz, Katherine und die Kinder drängten sich auf der anderen zusammen. Rafael hob eine große Wolldecke vom Sitz neben ihm auf, entfaltete sie und reichte sie vorsichtig hinüber. Amaury nahm sie entgegen und breitete sie über ihre Beine, wobei er besonders eifrig seine Mutter einpackte, während das Rumpeln der Gepäckstücke, die auf das Dach getürmt wurden, kein Ende zu nehmen schien. Als es endlich vorbei war, hörte man, wie der Kutscher den Bock bestieg. Das Gefährt schaukelte, als die Pferde wendeten, und Herm sah durch das Fenster ein großes, heruntergekommenes Gebäude auf einer Seite des Platzes. Über dem Türsturz waren die Worte »John-Reade-Waisenheim« eingemeißelt, die Fenster hatte man mit Brettern verschlagen, und es sah traurig und leer aus.
Teréses Augen wurden groß vor Staunen, als sie die Kutsche untersuchte. Sie kannte solche Fortbewegungsmittel nur aus ihren Geschichtstexten, und es gefiel ihr offensichtlich. Die Kutsche war aus dunklem Holz gebaut, und auf dem Boden stand eine kleine Kohlenpfanne, die einen Geruch nach Rauch und ein wenig Wärme verströmte. Herm verfolgte, wie Terése die Hand ausstreckte und über das glatte Holz strich, dann zeigte sie ihr geheimes Lächeln. Wenigstens eine von ihnen hatte Spaß an der Sache.
Katherine holte tief Luft, zog ihren Allwettermantel fester um sich und schob die Hände unter die Decke. Dann sah sie ihren Mann und ihren Schwager an. »Findest du nicht, es wäre langsam an der Zeit, mir zu sagen, was verdammt noch mal eigentlich los ist, Hermes?« Sie war zu Terranisch zurückgekehrt, ihre tiefe Stimme klang ruhig. Dennoch erkannte Herm die Gefahrenzeichen. Seine Frau war nie Furcht erregender, als wenn sie vernünftig wirkte. »In dieser Kutsche gibt es doch sicher keine Abhörgeräte.«
»Ja, das sollte ich wohl. Du warst wirklich sehr geduldig mit mir.«
»Ich bin nicht dumm«, fauchte sie, und ihre Wangen röteten sich auf sehr anziehende Weise. »Du weckst mich mitten in der Nacht, mit einem Blick, als ... als wären die Teufelskatzen von Ardyn hinter dir her.« Sie stockte und schauderte am ganzen Leib. »Dann befiehlst du mir zu packen, wir würden abreisen, weil man dich nach Darkover zurückgerufen hat. Wie hat man dich gerufen? Und wann?«
Hermes bemerkte, dass ihn die Kinder aus großen und neugierigen Augen musterten, und er spürte die leichte Erheiterung Rafaels neben ihm. Jedenfalls hat er keine furchtsame Frau geheiratet, kam der sarkastische Gedanke.
»Auf dem Schiff konnte ich dir die Wahrheit wohl schlecht sagen, Katherine.«
»Aber jetzt kannst du es!« Sie kämpfte gegen ihre Angst an, die sie, so gut es ging, mit Wut tarnte.
»Ich hatte Grund zu der Annahme, dass die Premierministerin im Begriff stand, den Senat und die Kammer aufzulösen, und ich hielt es für keine gute Idee, abzuwarten, bis es tatsächlich so weit ist.« Er sprach in seinem vernünftigsten Ton, aber er merkte, dass Katherine sich nicht damit zufrieden gab – sie hatte ihren Zorn zu lange unterdrückt.
Rafael räusperte sich. »Es ist schon so weit – wir haben es gerade vor ein paar Stunden erfahren, nachdem wir von eurer Ankunft hörten. Alle Mitglieder des Senats und des Abgeordnetenhauses wurden verhaftet, glaube ich, darunter auch einige, die geschützte Planeten vertreten. Ich habe keine Informationen, was mit ihnen geschehen wird. Lew hatte nur wenige Minuten Zeit, mich zu unterrichten. Für mich hörte sich alles ziemlich verrückt an.«
»Was!«, brauste Katherine auf, ihre grauen Augen funkelten im düsteren Licht der Kutsche. »Wissen Sie das genau?« Renney, ihre Heimatwelt, war ein geschützter Planet wie Darkover, und eine Base von ihr war Gesandte. Herm bedauerte, dass er Cara, die er mochte, nicht mehr hatte warnen können.
»So genau wie eben möglich, da ich es von Lew erfahren habe, und der hat es von Ethan MacDoevid, der im Hauptquartier arbeitet – das heißt, ich habe es nur aus dritter Hand. Ich wünschte, Rafe Scott wäre noch im HQ, der könnte im Moment eine große Hilfe sein.« Rafael Hastur zuckte die Achseln. Rafe ist ein hervorragender Telepath und hätte sehr nützlich sein können.
»Dann wundert es mich, dass ich nicht verhaftet wurde, auch wenn Darkover geschützt ist.« Herm stellte die Frage, von der er wusste, dass sie auch Katherine beschäftigte.
»Wir haben noch ein paar Sympathisanten im Hauptquartier sitzen, und Bestechung ist immer noch möglich«, antwortete Rafael knapp. Er wirkte jetzt irgendwie verhalten, und sein freundliches Gesicht sah düster und traurig aus. Regis hat sich eine verdammt unpassende Zeit für seinen Schlaganfall ausgesucht! Und ich weiß nicht, wie lange wir es noch geheim halten können.
Herm hörte den Gedanken und fuhr zusammen. Regis ist etwas zugestoßen! Die Worte klangen in seiner Erinnerung. Dann hatte seine Vorahnung also gestimmt. Aber wessen Stimme hatte er über die Lichtjahre zwischen Darkover und Terra hinweg gehört? Seltsam. Tiefe Trauer um diesen Mann erfasste ihn, dem er persönlich nie begegnet war. Ein Schlaganfall – also war er zumindest nicht tot. Aber nach den aufgewühlten Gedanken seines Schwagers zu urteilen, rechnete man offenbar nicht mit einer Genesung. Das konnte doch nicht sein. Er konnte sich Darkover nicht ohne den weißhaarigen Monarchen vorstellen. Und Rafael wollte eindeutig nicht darüber sprechen.
Rafael räusperte sich wieder und fuhr fort. »Ich bin nicht mit allen Einzelheiten vertraut – Onkel Lew war ziemlich verschlossen.« Er verzog das Gesicht zu einer komischen Grimasse. Man wird mir wegen Gisela nie völlig vertrauen. Sie haben mich nur deshalb hierher geschickt, weil Herm mein Schwager ist und meine Anwesenheit kein Gerede zur Folge hat. Zur Hölle mit allen Aldarans! Er zuckte zusammen, als wäre ihm bewusst geworden, dass er seine Gedanken für alle, die hören konnten, praktisch herausschrie. Dann warf er Herm einen hilflosen Blick an. »Er hat mir nur gesagt, ich soll euch abholen und genügend Schmiergeld verteilen, damit man euch unter keinen Umständen verhaftet.«
Sichtlich erschüttert kauerte Katherine an der Wand des Gefährts. »Das ist Wahnsinn. Wieso hast du nicht irgendeine Möglichkeit gesucht, es mir zu sagen? Und woher hast du es gewusst, wenn es sonst niemand wusste?« Ich weiß, er hätte es mir nicht sagen können. Warum benehme ich mich nur so unvernünftig? Gab es denn wirklich keine Möglichkeit, es anzudeuten ... Nein. Hat er es überhaupt versucht?
Herm rutschte voll Unbehagen auf seiner Bank umher. Alle seine Lügengespinste würden nun auf ihn zurückfallen, viel eher, als ihm lieb war, wie es schien. Er hätte Katherine schon vor Jahren die Wahrheit sagen sollen, aber der richtige Moment für die Enthüllung war einfach nie gekommen. Das hatte er sich jedenfalls so eingeredet. Er würde lügen müssen – schon wieder. Und er war so müde, dass er es kaum für möglich hielt. »Ich wurde von einer Büroangestellten bei Nagy gewarnt, die ich mir warmgehalten habe«, erklärte er, überrascht, dass seine Stimme nicht im Geringsten zitterte. Es gab tatsächlich eine Angestellte, von der er früher Informationen erhalten hatte, eine hübsche Frau, die gern mit ihm flirtete. Er hatte Katherine nie betrogen, war aber aus politischen Gründen mehr als einmal nur knapp daran vorbeigeschlittert.
»Und das konntest du mir nicht sagen?«
»Nein. Ich durfte dich und die Kinder nicht in Gefahr bringen – es gibt zu viele Abhörgeräte an zu vielen Orten.« Katherine wusste, dass eine ungestörte Privatsphäre in den letzten Jahren so gut wie nicht existiert hatte, und auch, dass ihre Wohnungen nicht sicher waren, aber sie war nicht in der Stimmung, sich besänftigen zu lassen. Es gab allerdings nicht nur die Sicherheitskräfte, obwohl das die offensichtlichsten Spione waren. Da waren auch noch andere Gruppen, versteckte Banden zwielichtiger Leute, alle namen- und gesichtslos, die ihre eigenen Verdächtigungen gegen den Senator aus Darkover hegten und gegen alle anderen, die ihnen nicht gehörten. Herm hatte Spuren von ihnen in den ungeschützten Gedanken von Angestellten gefunden, die gar keine waren, und ebenso bei seinen Kollegen im Senat. Er fragte sich, ob die Expansionistische Partei wusste, dass es in ihren Reihen Verräter gab, die sich verschworen hatten, um die Macht über die dekadente Föderation an sich zu reißen. Aber das spielte eigentlich keine Rolle mehr. Was ihn anging, konnten sie sich zu Tode verschwören. Bei Aldones, war er müde!
Als Senator hatte Herm einen anderen Weg gewählt als sein Vorgänger Lew Alton und sich schlau als Bonvivant ausgegeben, ein freundlicher Bursche, der gelegentlich käuflich war. Denn Herm besaß nicht Lews Gabe des erzwungenen Rapports, konnte also niemandem seinen Willen aufzwingen, wie es Lew mehr als einmal mit großer Raffinesse und nicht wenig schlechtem Gewissen getan hatte. Aber Lew hatte eben eingesetzt, was er hatte, und den Preis dafür bezahlt. Lews Kräfte hatten einen hohen Preis gefordert, und in den Jahren, in denen Herm ihn erlebt hatte, war er ein schwerer Trinker gewesen. Ob er noch immer einer war?
Anstelle von Gewalt hatte Herm Verschlagenheit eingesetzt. Im Wesentlichen hatte er verhindern können, dass Darkover ein Planet wurde, der Aufmerksamkeit verlangte, der in irgendeiner Weise als Bedrohung erschien. Das war nicht leicht gewesen, denn die Paranoia der Expansionisten grenzte inzwischen an Besessenheit. Überall sahen sie Feinde, und viele von ihnen glaubten aufrichtig, dass geschützte Planeten irgendwelche Dinge ungestraft tun konnten. Sie wussten nie genau zu definieren, um welche »Dinge« es sich dabei handelte, aber das hielt sie nicht von dem Verdacht ab, sie würden irgendwie betrogen.
Herm hatte mit seinen eigenen Talenten gekämpft und so getan, als wäre Darkover nur ein rückständiger Planet, arm an Metallen, die man zum Bau von Schiffen oder Rüstungsgütern brauchen konnte, kaum in der Lage, genügend Nahrung für seine Bewohner zu produzieren. Er zeichnete das Bild einer verarmten Welt, und Darkover war weit weg und immer noch so unbekannt, dass nur wenige genauer nachgefragt hatten. Lew war es während seiner Amtszeit als Senator gelungen, einen großen Teil von Informationen über Darkover entweder zu unterschlagen oder irgendwie als geheim einstufen zu lassen, so dass der Zugang zu ihnen begrenzt war. Und zum Glück hatte Darkover keinerlei strategischen Wert, was sich allerdings schnell ändern konnte. Wer wusste, was die Zukunft bringen mochte, wenn die Föderation zerfiel oder sich in einzelne Fraktionen aufspaltete?
Das eigentliche Problem war der Geisteszustand der Expansionisten selbst. Sie bildeten sich überall Feinde ein, und im letzten Jahrzehnt hatten sie einen Großteil ihrer Energie dem Bau von Kriegs- statt Handelsschiffen und der Vorbereitung auf den Kampf gewidmet. Nur weil die Föderation noch nie einer anderen Raumfahrtmacht begegnet sei, so argumentierten sie, folge daraus nicht, dass es immer so bleiben müsse. Herm wusste, sie irrten sich, die Feinde, die sie fürchteten, waren bereits innerhalb der Föderation am Werk, und es war fast unausweichlich, dass eines Tages der ehrgeizige Gouverneur irgendeines Planeten rebellieren und den Krieg beginnen würde, den sie erwarteten. Das würde gewiss eine sehr unangenehme Überraschung werden, und Herm konnte nur hoffen, dass es am anderen Ende der Galaxis passierte. Darkover konnte es nun wirklich nicht gebrauchen, in einen Konflikt mit dem Ziel der gegenseitigen Vernichtung zu geraten.
Während die Kutsche über Kopfsteinpflasterstraßen ratterte, schaukelte der Wind das Gefährt hin und her. Sie fuhren die breiteren Straßen entlang, und Herm sah die offenen Läden der Geschäfte, verziert mit farbenfrohen Schildern. Sie kamen am Gerberweg vorbei, und der stechende Geruch von kochend heißen Bottichen mit Leder erfüllte die Enge der Kutsche. Terése verzog das Gesicht, sagte aber nichts. Amaury schaute aus dem beschlagenen Fenster, seine blauen Augen leuchteten vor Neugier und Interesse.
Schließlich meldete sich Katherine zu Wort. »Ich bin sicher, du hast das Beste getan, Hermes«, sagte sie, und ihre Stimme klang erschöpft. Bis zu diesem Augenblick war ihm nicht bewusst gewesen, wie viel Katherine das Schweigen während der Reise abverlangt hatte. Was ist mit meiner Familie? Ich wünschte, wir wären dorthin gereist, statt auf diesen gottverlorenen Planeten – aber warum konnte mich Herm nicht irgendwie warnen? Nein, ich darf ihm keine Vorwürfe machen. Er hat schon immer alles für sich behalten – ich wünschte, es wäre anders. Es ist nicht so, als hätte ich nicht gewusst, dass die Dinge schlecht standen, dass sich die Föderation an ihren Nähten aufzulösen begann. Ich habe nur nicht glauben wollen, wie schlecht es wirklich stand. Ich wollte es nicht wissen, obwohl ich in den Nachrichten ständig Dinge bemerkte, die mich erschreckten. Selbst bei der Rebellion auf Campta und den Unruhen auf Enoch. Und ich wusste nur, was mich die Föderation wissen lassen wollte! Jetzt muss ich das Beste daraus machen. Zumindest hat er mir ein wenig von der Sprache beigebracht, und die Kinder konnten nie unterscheiden, welche Worte von Renney stammen und welche von hier. Es ist so kalt! Was wird aus Nana und den anderen werden, wenn sie Truppen der Föderation im Pfarrhaus unterbringen wollen? Sie wird sie wahrscheinlich mit einem Fluch belegen oder ihnen etwas von ihren Zaubertränken ins Essen mischen. Nana mag sehr alt sein, aber ich denke, sie kann sich durchaus noch um sich und meine Schwestern kümmern. Wann kommen wir an? Ich friere und ich bin so müde. Bestimmt geht es mir besser, wenn mir warm ist und ich erst einmal richtig ausgeruht bin.
Herm beugte sich vor und tätschelte Katherines Hand durch die Wolldecke. Sie öffnete die Augen und sah ihn einen langen Moment an, dann ließ sie die Hand unter der Decke hervorgleiten und umfasste sein Handgelenk. Sie spürte die Wärme seiner Haut. »Jetzt dauert es nicht mehr lange«, sagte er ruhig, als hätte er ihre unzusammenhängenden Gedanken gehört. Und vielleicht hatte er sie ja gehört, denn oft schien er zu wissen, was sie dachte, ohne dass sie ein Wort sagte. Nein, das war unmöglich! Er war nur sehr intuitiv. Was immer es war, es machte ihn zu einem guten Liebhaber. Bei ihrem einzigen Besuch auf ihrem Heimatplaneten hatte Nana gemeint, Herm habe das zweite Gesicht, und auch wenn sie das als den Aberglauben der alten Frau abtat, konnte sie nicht leugnen, dass ihr Gatte ein sehr ungewöhnlicher Mann war. Als Terése noch klein war, stand er oft auf, bevor das Kind zu weinen begann, lief zu ihrem Bettchen und hob sie genau in dem Moment an seine breite Schulter, in dem sich der rosa Mund zu einem Wehklagen rundete. Und er schien immer zu wissen, ob die Kleine nass oder hungrig war oder ob sie einfach nur gewiegt werden wollte.
Seit dem Tag, an dem sie sich zum ersten Mal begegneten, an dem er sie antraf, wie sie im Büro von Senator Kendai ein Porträt malte, war Katherine bewusst, dass Hermes Aldaran anders war als alle Männer, die sie kannte und die sie wahrscheinlich jemals kennen lernen würde. Seine Augen schienen alles zu sehen, bis hin zu Details, die sie selbst übersehen hatte. Sie fand ihn charmant und intelligent, aber auch geheimnisvoll, auf eine Weise, die sie nicht benennen konnte. Das hatte ihn fast unwiderstehlich gemacht.
Und nun, nach mehr als zehn Jahren, hatte sie immer noch das Gefühl, nicht sehr viel von ihrem Mann zu wissen. Sie wusste, er hatte mehrere Geschwister, seine Schwester Gisela und seinen Bruder Robert und noch weitere, die nedestro waren, was immer das bedeutete. Aber das war so ziemlich alles. Anfänglich hatte er kaum von Darkover gesprochen und wenn, dann von gewaltigen Schneefallen, hohen Bergen und endloser Wildnis. Seine Kindheit war ihr ein ziemliches Rätsel, obwohl er sich sehr für ihre interessierte, und er behielt immer eine gewisse Distanziertheit bei. Das faszinierte und frustrierte sie zugleich, und sie hatte gelernt, nicht mehr von ihm zu fordern, als er bereitwillig gab. Jetzt, da sie erschöpft und dadurch unbarmherzig auf sein Verhalten zurücksah, fühlte sie sich betrogen und unglaublich verloren. Doch dann tadelte sich Katherine für ihr Unglücklichsein und versuchte, das hässliche Gefühl loszulassen.
Gleich nach ihrer Hochzeit hatte Herm begonnen, ihr Casta beizubringen, und sie hatten entdeckt, dass es dem Dialekt von Renney ähnelte, beide verwandt mit dem alten Bretonisch. Die Beugungen waren zwar tückisch und verschieden, aber ein großer Teil des Vokabulars war so ähnlich, dass sie es rasch lernte. Sie wiederum hatte ihn im Rennischen unterrichtet, und beides hatte sich zu einem harmonischen Spracheintopf vermischt, den die Kinder lieber benutzten als das farblosere Terranisch.
Aber Katherine hatte nicht erwartet, je nach Darkover zu kommen, und sie stand immer noch unter Schock wegen der plötzlichen Abreise. Eine Erste-Klasse-Kabine auf einem Raumkreuzer war nicht gerade geräumig, und mit der Kutsche hatten sie sich nicht verbessert. Katherine hatte ein klaustrophobisches Gefühl, als würde sie nicht genügend Luft bekommen. Bei jeder Unebenheit in der Straße wurden ihre schmerzenden Glieder durcheinander geschüttelt, und obwohl die Kohlenpfanne im Boden ein wenig Wärme bot, fror sie bis ins Mark. Sie konnte ihren Ärger nur mühsam bezähmen, aber sie wollte vor den Kindern nicht mit Herm streiten, und schon gar nicht, wenn dieser praktisch Fremde zuhörte. Dennoch sehnte sie sich danach, die Stimme zu heben, ihre Wut und ihre Angst hinauszuschreien. Hermes-Gabriel Aldaran konnte von Glück reden, wenn er sie in den nächsten Wochen auch nur küssen durfte.
Herm seufzte, während er seine Frau und seine Kinder betrachtete und sich darüber klar wurde, dass er vielleicht nicht ganz so heimlichtuerisch hätte sein sollen. Das war eine Politik, die er noch bedauern würde, und zwar bald. Aber er hatte Darkover dreiundzwanzig Jahre lang als einen ziemlich primitiven Ort dargestellt, mit wenig Ressourcen, die es auszubeuten lohnte, damit seitens der Neugierigen kein Interesse aufkam. Er wollte nicht erleben, dass man die Hellers abholzte oder darkovanische Nahrungsmittel auf andere Planeten exportierte, um die stetig wachsenden Populationen zu ernähren. Und auf keinen Fall wollte er, dass das Wissen um die Türme Darkovers zu Allgemeingut wurde, wie es vor einer Generation fast geschehen wäre. Die expansionistischen Truppen würden den Planeten im Handumdrehen besetzen und es kaum erwarten können, die darkovanischen Telepathen für ihre Träume von Vorherrschaft einzuspannen.
Die Kutsche hielt an, und die Tür wurde geöffnet. Eine kalte Bö fuhr ins Wageninnere; die Kinder zitterten. Katherine zog sich nur tiefer in ihren glänzenden Allwettermantel zurück und schaute grimmig. Ein Diener wartete in der Livree der Burg, und sie stiegen einer nach dem anderen aus.
Zwei breite Treppen führten aus dem gepflasterten Hof, und Herm trieb seine Familie rasch nach oben. Hinter ihm luden die Diener das Gepäck ab. Rafael führte die Neuankömmlinge durch eine Tür in eine bescheidene Eingangshalle. An den steinernen Wänden hingen Wandteppiche, und die Fliesen unter ihren Füßen bildeten ein Schachbrettmuster. Es roch nach Holzrauch und feuchter Wolle, und an Haken neben der Tür hing eine Reihe wollener Umhänge. Aber nach der Kälte draußen war es hier wunderbar warm und behaglich.
Sie folgten Rafael eine lange Treppenflucht hinauf zum nächsten Stockwerk, dann einen Korridor entlang und eine weitere Treppe nach oben. Herm spürte das Erstaunen der Kinder über die Treppen, da auf Terra selbst die bescheidensten Bienenstöcke, wo die Armen sich in ihrem Elend drängten, über Aufzüge verfügten. Er war nie auf Burg Comyn gewesen, aber er hatte gehört, dass das Gebäude ein regelrechtes Labyrinth aus Fluren und Treppen war. Die Kinder warfen ihre Mäntel ab und beobachteten die neue Umgebung mit Interesse, Katherine hingegen hatte den Blick beim Gehen starr geradeaus gerichtet, sie hielt den Rücken steif und ihr Gesichtsausdruck war leer wie bei Überlebenden einer ungeheuerlichen Katastrophe.
»Wir haben erst spät von deiner Ankunft erfahren, Herm, deshalb wird euer Quartier wahrscheinlich ein bisschen chaotisch aussehen. Aber das Bettzeug ist bestimmt sauber, auch wenn die Vorhänge leicht von Motten zerfressen sind.«
»Nach den Kabinenkojen der letzten Tage wird es uns wie der reinste Luxus Vorkommen, Rafael. Wo hast du uns untergebracht?« Er wollte sich jetzt unterhalten, brauchte sinnlose Geräusche, damit seine innere Anspannung nachließ.
»In der zweiten Storn-Wohnung, die abgesehen von Mittwinter seit einer Ewigkeit nicht benutzt wurde. Die vor Jahren einmal für Lauretta Lanart-Storn ausgebaut wurde. Gisela und ich bewohnen die Aldaran-Suite, und die ist wirklich nicht groß genug für eine zweite Familie.« Er klang, als würde er sich dafür ein wenig schämen, und Herm grinste ihn nur an.
»Wer ist das, Lauretta Lanart-Storn?«, fragte Amaury.
»Sie war die Frau meines Großvaters, obwohl sie keine Blutsverwandte von mir ist«, antwortete Herm.
»Wie geht das?«
»Mein Vater war nicht ihr Sohn, Amaury.«
»Klingt kompliziert.«
Herm lachte leise; er war froh über die Aufmunterung. »Das ist es auch. Darkovanische Stammbäume sind ziemlich schwierig und oft verwirrend, selbst für diejenigen von uns, die sie von klein auf kennen.«
»Wie kommt das, Vater?« Amaury wirkte aufrichtig interessiert, während sie den langen Flur entlanggingen, vorbei an brennenden Lampen und ausgebleichten Wandbehängen.
Herm blickte auf seinen Stiefsohn hinab und fragte sich zum ersten Mal, ob es richtig gewesen war, den Jungen nach Darkover zu bringen. Er war ein sehr empfindsames Kind, mit dem raschen Verstand und der tiefen Intuition seiner Mutter, und wer weiß was von seinem Vater. Die Spannung zwischen seinen Eltern hatte ihm Angst und Sorge bereitet, auch wenn er es ziemlich gut verbarg. Er versuchte, beschwichtigend zu wirken, so wie Herm selbst es vor langer Zeit bei seinem Vater gemacht hatte. Welchen Platz konnte der Junge hier finden? Herm war zu müde, um darüber nachzudenken. »Darkover hat nicht viele Einwohner, daher haben die Familien der einzelnen Domänen wie die Altons oder die Aldarans und die niedrigeren Familien wie die Lanarts und die Storns seit Jahrhunderten untereinander geheiratet. Wenn man weit genug zurückgeht, ist jeder mit jedem verwandt. Rafael hier, zum Beispiel, ist von der Seite seines Vaters ein Lanart, aber ich habe keine Ahnung, wie er mit Lauretta verwandt sein könnte.«
»Genauso wenig wie ich«, warf Rafael ein und grinste leichthin. »Aber Gisela würde es wissen. Sie kennt sich gut aus in solchen Dingen.«
»Du erstaunst mich, denn das Letzte, was ich meiner Schwester zugetraut hätte, ist Interesse an Ahnenforschung«, antwortete Herm. »Als ich Darkover verließ, war sie noch ein Mädchen, und ihre einzigen Beschäftigungen schienen Jagen, terranische Romane und neue Kleider zu sein, sooft sie Vater welche abbetteln konnte.«
»Das hat sich nicht geändert«, gab Rafael zu, »aber sie ist zu intelligent, um sich derart zu beschränken. Sie arbeitet seit Jahren an einem Buch über Schach, und was ich davon gesehen habe, klingt sehr gut. Und sie dürfte so ziemlich jedes Buch im Burgarchiv gelesen haben.«
»Meine Schwester schreibt Bücher? Ich staune!«
»Sie sagt, es verhindere, dass sie sich langweilt, denn Kinder hüten sei überhaupt nicht nach ihrem Geschmack.«
»Wie viele sind es denn inzwischen? Ich habe den Überblick verloren.«
»Da wären einmal Caleb und Rakhal, ihre Kinder aus erster Ehe, dann unsere Tochter Casilde und unsere Söhne Gabriel und Damon. Rakhal ist in Arilinn und beabsichtigt, dort auch zu bleiben, Casilde wird demnächst dorthin gehen.« Ich hoffe, sie gibt diese verrückte Idee auf, eine Entsagende zu werden. Ein Jammer, dass Margueridas Freundin Rafaella so attraktiv ist und die Entsagenden so romantisch wirken lässt. Sie wird schon noch klüger werden, denn es kann kein angenehmes Leben sein. Außerdem ist Vater sein viel schwerer, als ich dachte. »Und die Jungen sind eben Jungen, und ich hab genug zu tun, sie von allzu viel Unfug abzuhalten.«
»Und Caleb?«
Rafael runzelte die Stirn. »Er ist in Nevarsin«, sagte er ein wenig abrupt. Herm verstand seinen Unwillen, darüber zu sprechen, denn Caleb musste mittlerweile über zwanzig sein, und wenn er noch in Nevarsin war, dann beabsichtigte er wahrscheinlich, ein Cristoforo-Mönch zu werden. Auch wenn die Söhne der Domänen seit Jahrhunderten von Cristoforos erzogen wurden, war es heutzutage selten, dass sich einer dieser sonderbaren Gemeinde im hohen Norden, in der Schneestadt, anschloss, wie sie manchmal genannt wurde.
»Hier wären wir endlich.« Rafael trat vor und öffnete eine Doppeltür. Er stieß beide Flügel auf und winkte sie in einen großen Salon. Im Kamin brannte ein Feuer, der Duft von kürzlich aufgetragenem Bienenwachs stieg von den schweren, hölzernen Stühlen davor auf und strafte Rafaels Andeutung über den Zustand ihrer Unterkunft Lügen. Der dicke Teppich unter ihren Füßen war staubfrei, und die Vorhänge vor dem Fenster sahen relativ neu aus.
Ein hübscher Raum, der für eine Frau möbliert war. Die Wände waren in einem hellen Goldton gehalten, und der Wandteppich stellte eine Gruppe von Damen dar, die sich über einen riesigen Stickrahmen beugten. Es gab kleine, mit dickem Samt gepolsterte Fußschemel und mehrere kleine Tische ebenso wie einen größeren, an dem bequem sechs Leute sitzen konnten. In seiner Mitte stand eine Vase mit Blumen, deren schwacher Duft sich mit dem Geruch des Feuers vermischte.
Katherine sah sich um, ihr Künstlerblick erholte sich nach der Öde der Schiffskabine zusehends. Sie drehte sich einmal um sich selbst und entspannte sich in der Wärme des Raumes, dann schenkte sie Rafael ein strahlendes, wenn auch müdes Lächeln. »Es ist sehr schön hier. Danke. Sie haben keine Vorstellung, wie ... Dieser Raum ist fast so groß wie unser gesamtes Quartier auf Terra. Und Holz, richtige Holzmöbel. Die haben wir auf Renney auch, und ich habe sie wohl vermisst, ohne dass ich es richtig merkte. Ich hoffe, es war nicht zu viel Mühe.«
Rafael zuckte nur die Achseln. »Die Diener haben alles hergerichtet. So, das Hauptschlafzimmer ist durch diese Tür, Bad und Abtritt sind den Flur entlang, zweite Tür rechts. Ihr könnt es nicht verfehlen. Dort findet ihr Bademäntel und Handtücher und alles. Ich lasse euch etwas zu essen bringen, wenn ihr mir sagt, ob ihr Frühstück oder Mittagessen vorzieht. Lew meint, das Essen auf den Schiffen ist bodenlos schlecht, und ihr wollt bestimmt sofort etwas Schmackhaftes.«
»Was ist hinter der anderen Tür?« Terése deutete zu einem geschlossenen Portal am anderen Ende des Raums.
»Da sind die anderen Schlafzimmer, und du kannst dir aussuchen, welches du haben möchtest«, antwortete Rafael. Er hatte offensichtlich viel Erfahrung mit Kindern und trotz seiner eigenen Zweifel auch ein angeborenes Talent für sie.
Teréses Miene hellte sich auf. »Ein eigenes Zimmer? Ich muss es mit niemandem teilen?«
»Du bist alt genug für ein eigenes Zimmer, Terése – was für ein schöner Name.« Rafael warf Herm einen Blick zu, der Bände sprach, und Herm wurde leicht verlegen, auch wenn die beengten Lebensverhältnisse auf Terra ihm keine große Wahl gelassen hatten. Aber Rafael hatte Recht. Seine Tochter war tatsächlich viel zu alt dafür, sich ein Zimmer mit einem ihrer Brüder zu teilen.
Herm beobachtete, wie Katherine den Mantel auszog und sich umsah, wo sie ihn aufhängen konnte. Da erschien eine Dienerin, ein rotbackiges Mädchen, dessen Haar von einer Schmetterlingsspange am Hinterkopf zusammengehalten wurde. Es nahm Katherine den Mantel ab und machte rasch einen Knicks. »Willkommen auf Burg Comyn, vai Domna. Dom Aldaran.«
»Danke.«
»Ich bin Rosalys, und ich werde mich um euch kümmern. Domna Marguerida hat mich geschickt. Sie sagt, sie bedauert, dass sie nicht selbst kommen kann, um euch zu begrüßen, ebenso wenig wie Domna Linnea, und hofft, ihr werdet verzeihen.«
»Selbstverständlich«, antwortete Herm. »Wir verstehen vollkommen.« Er warf Rafael einen raschen Blick zu. Liegt Regis tatsächlich im Sterben?
Ja. Es war ein massiver Schlaganfall, und bis jetzt sind die Heiler nicht in der Lage, etwas für ihn zu tun. Selbst Mikhail und Marguerida mit ihren unglaublichen Fähigkeiten konnten ihm nicht helfen, und glaub mir, sie haben es versucht. Mein armer Bruder ist vor Enttäuschung außer sich, und ich kann es ihm nicht verübeln. Er hat all diese Macht und ist doch hilflos.
Dieser letzte Gedanke ergab für Herms müdes Gehirn nicht sofort einen Sinn, deshalb schob er ihn beiseite. Es besteht wohl keine Möglichkeit, dass das Medizinische Zentrum im Hauptquartier helfen könnte?
Die? Sie erlauben Darkovanern seit fünf Jahren nicht mehr, ihre Einrichtungen zu benutzen – seit der neue Stützpunktleiter ein paar Medienschirme in einer Kneipe in der Handelsstadt installieren wollte und Regis sie sofort wieder abbauen ließ. Belfontaine rächte sich, indem er das Krankenhaus schloss, außer für das Personal der Föderation. Darunter sind natürlich auch einige Darkovaner, aber ... unter den jetzigen Umständen können wir ihnen wohl kaum trauen, oder?
Nein. Dumm von mir, es überhaupt vorzuschlagen. Sie würden vermutlich die Chance ergreifen, ihn zu erledigen.
Herm bemerkte, dass seine Frau ihn genau beobachtete. Die plötzliche Stille zwischen ihm und Rafael musste ihr seltsam erschienen sein. Er war ohne zu überlegen in die alte Gewohnheit der wortlosen Unterhaltung abgerutscht – das fiel ihm im Moment leichter als Reden! Aber seine Kate war aufmerksam und klug, und im Gegensatz zu ihm selbst hatte sie während der Reise relativ viel geschlafen. Er wusste, sie hatte versucht, im Schlaf dem Schrecken in ihrem Innern zu entrinnen, um die Stimmen des Protests zum Schweigen zu bringen, die in ihr laut wurden. Er räusperte sich, um seinen Kummer zu verschleiern. »Ich denke, so etwas wie ein Mittagessen wäre jetzt richtig – Suppe, Brot, Tee. Wir haben vor der Landung eine Art Frühstück bekommen.«
»Ich kümmere mich darum, vai Dom«, antwortete Rosalys rasch. Sie machte wieder einen Knicks, öffnete ihnen die Tür zum Elternschlafzimmer und verließ die Gemächer.
Herm folgte Katherine in das Schlafzimmer, während die Kinder zum anderen Ende der Gemächer gingen. Mit geröteten Wangen und funkelnden Augen fiel sie über ihn her. »Was geht verdammt noch mal hier vor, Hermes! Schau mich bloß nicht so gekränkt an! Du zerrst mich mitten in der Nacht aus dem Bett, weigerst dich, mir etwas zu erklären, außer dass wir sofort nach Darkover aufbrechen müssen, und dann ... du und dieser Mann ... was habt ihr gemacht?«
»Gemacht?« Er sah sie gekränkt an und versuchte unschuldig zu wirken, aber das Herz rutschte ihm irgendwo in die Gegend seines Bauchnabels. Verdammt, was musste die Frau auch so genau aufpassen!
Katherine knirschte hörbar mit den Zähnen. »Erzähl mir einfach alles.«
»Ach, Rafael hat mich nur ... informiert... dass ...« Er kam sich nicht sehr schlau vor, nur erschöpft und ziemlich dumm.
»Wie? Mit geheimen Handzeichen? Was habt ihr beiden getrieben?!«
Katherines Stimme klang unheimlich wie die seiner alten Kinderschwester auf Burg Aldaran, der Klang einer Autorität, die sich nicht eher zufrieden gab, bevor sie einer Sache auf den Grund gegangen war. Er fühlte sich zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder klein, schwach und hilflos. »Nein, nicht mit Handzeichen.«
Als er nicht fortfuhr, sah sie ihn an und forschte mit ihren durchdringenden Augen in seinem Gesicht. Er blickte zu Boden, auf das Muster des Teppichs und scharrte mit den Füßen. Er musste die Worte herausbringen, bevor er völlig die Nerven verlor, aber er fürchtete den Aufruhr, der mit Sicherheit folgen würde. Wenn die Sache doch nur hätte warten können, bis er ausgeruhter war. »Also, wenn du es unbedingt wissen willst, ich habe mich auf telepathischem Weg mit Rafael unterhalten.« So viel zu meiner gerühmten Listigkeit, dachte er bitter.
Katherine blieb im ersten Moment stumm »Tele ... Ausgerechnet ... du meinst es ernst, oder?«
»Ja.«
Katherine sank auf der Bettkante nieder und krallte die zitternden Finger in den Vorhang. »Das ist es also. Ich habe mich immer gefragt, wie du mir in allem so zuvorkommen konntest. Ich würde dich am liebsten umbringen, Hermes! Wie konntest du nur all die Jahre meine Gedanken lesen und es mir nicht sagen? Alle meine privaten ...« Er spürte, dass sie ihm nicht wirklich glaubte, dass ihr Verstand nicht wahrhaben wollte, was sie eben gehört hatte. »Ich hätte es doch spüren müssen ...«, flüsterte sie.
»Nein, nein!«, beeilte er sich zu protestieren. »Ich kann nicht nach Belieben in deine Gedanken eindringen, allerdings gibt es einige Leute auf Darkover, die so etwas können. Aber ich schnappe nur ab und zu einen oberflächlichen Gedanken von dir auf. Denk doch an all die Gemälde, bei denen ich dich nicht unterbrochen habe«, flehte er, um ihren Zorn abzulenken.
»Aber warum hast du es mir nie gesagt?« Der Schmerz und der Vorwurf des Betrugs in ihrer Stimme schnitten ihm mitten ins Herz.
»Wenn ich behaupte, dass es aus politischen Gründen war, bringst du mich um.« Er seufzte und setzte sich neben sie. »Du weißt so gut wie ich, dass die Föderation überall ihre Spitzel hat, und dieses Geheimnis wollte ich unter keinen Umständen mit ihnen teilen.«
»Wieso?« Ihre Stimme war kalt und distanziert.
»Ich wollte nicht in irgendein Labor verschwinden, und das wäre mein Schicksal gewesen, wenn man mich entdeckt hätte.« Er unterdrückte ein Seufzen und überlegte, was er als Nächstes sagen sollte. »Zunächst einmal ist nicht jeder auf Darkover Telepath, tatsächlich tritt diese Gabe nur bei einem kleinen Teil der Bevölkerung auf. Und von denen haben nur wenige große Kräfte, allerdings sind es genügend, um ...«
»Wie viele? Und wie kommt es, dass die Föderation nichts davon weiß?«
»Ich kenne keine genaue Zahl – vielleicht zwei Prozent der Gesamtbevölkerung.« Er rieb sich den kahlen Schädel. »Und was das andere angeht, das ist eine lange Geschichte und keine sehr fröhliche dazu. Einmal, vor Jahren, erklärten wir uns bereit, bei einem so genannten Projekt Telepathie mitzumachen. Gerade noch rechtzeitig merkten wir, dass kein Verlass darauf war, dass die Föderation unsere Talente nicht missbrauchen würde. Es gelang Lew Alton, gewissen einflussreichen Wissenschaftlern einzureden, die Behauptungen seien übertrieben gewesen, es gebe viel weniger Telepathen auf Darkover als angenommen, außerdem handle es sich um eine seltene und unbeständige Fähigkeit, die es kaum weiter zu verfolgen lohne. Dann ließ er die Mittel für das Projekt streichen. Er befürchtete, genau wie ich, als ich seinen Platz einnahm, dass wir uns wie Blaise II als besetzter Planet wiederfinden würden, wenn herauskäme, dass Darkover über eine Population fähiger Telepathen verfügt.«
»Aber ich bin deine Frau! Ich dachte, zwischen uns gibt es keine Geheimnisse.« Nein, das stimmt nicht! Ich wusste, es gab Geheimnisse, und ich fürchtete mich davor, zu entdecken, wie sie aussahen. Aber darauf wäre ich nie gekommen ...
»Es tut mir Leid, Katherine. Ich habe einmal versucht, es dir zu sagen, als wir auf Renney waren, aber ich wusste einfach nicht, wie ich anfangen sollte.« Er hielt inne, ihm war klar, wie armselig das von ihm klang, dem zungenfertigen und schlauen Herm Aldaran. »Ich wünschte, ich hätte mir eine Mätresse gehalten und einen Haufen unehelicher Bälger gezeugt, anstatt dir nichts von dieser Sache zu sagen.« Er seufzte erneut, schwer diesmal, und zwang sich, die ganze Wahrheit zu sagen, weil er befürchtete, er hätte kein zweites Mal den Mut dazu. »Ich hätte es dir bald sagen müssen, weil die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass Terése etwas von meinem Laran, meinen paranormalen Fähigkeiten geerbt hat. Ich habe keine Ahnung, welcher Art das sein könnte, ich habe nur das starke ...« Er wollte Katherines Zorn, ihre Aufmerksamkeit von seiner Dummheit weglenken.
»Für eine Mätresse hätte ich dich tatsächlich umgebracht«, unterbrach Katherine ihn, fast als könnte sie es nicht ertragen, die Worte zu hören, die er über ihre Tochter sagen wollte, und als versuchte sie, die Stimmung mit einem harmlosen Scherz aufzuheitern. »Du schwörst, dass du nie absichtlich in meine Gedanken eingedrungen bist?«
»Ich schwöre es, beim Wort eines Aldaran! Ebenso wenig, wie ich dein Tagebuch lesen würde, Liebes. Verstehst du, damit eine Gemeinschaft von Telepathen fortbestehen kann, mussten wir von frühester Jugend an lernen, die Privatsphäre von anderen zu achten. Wir Darkovaner sind ein sehr moralischer Haufen.«
»Du? Moralisch?« Katherine brach in ein schallendes, aber freudloses Gelächter aus. »Du bist der verschlagenste Mensch in der ganzen Föderation, Hermes-Gabriel Aldaran, und du weißt es! Nana hat mir gesagt, dass du etwas verbirgst, aber ich habe ihr nicht geglaubt. Vielmehr, ich wollte ihr nicht glauben.« Sie sah ihn mit einer Mischung aus Kummer und Misstrauen an, bei der sich sein Herz zusammenzog. Dann richtete sie sich auf und reckte das Kinn vor, als wappnete sie sich, das Beste aus der Sache zu machen. »Vermutlich kann ich dir in zehn oder zwanzig Jahren verzeihen – vielleicht aber auch nicht. Telepathen! Das muss das bestgehütete Geheimnis in der ganzen Föderation sein.«
»Ja, wahrscheinlich.«
Sie behielt die steife Haltung vielleicht eine halbe Minute lang bei, dann sank sie kraftlos gegen seine Schulter. Er roch ihre Müdigkeit und den Gestank des Raumschiffs auf ihrer Haut. Ihr Haarknoten löste sich, und er spürte ihr seidenes Haar über seine Hand streichen. »Was noch? Da ist doch noch etwas.«
»Ja. Regis Hastur, der Darkover zwei Generationen lang geführt hat, liegt im Sterben. Jedenfalls behauptet Rafael das, und ich glaube nicht, dass er bei einer so schrecklichen Sache übertreiben würde. Deshalb kann uns seine Gattin, Lady Linnea, nicht willkommen heißen, wie sie es unter anderen Umständen tun würde, und deshalb hat Lew Alton Rafael zu unserer Begrüßung abkommandiert.«
»Hast du gewusst, dass er ...? Was genau hat dich veranlasst, uns aus den Betten zu holen und Hals über Kopf hierher zu bringen?«
»Eine Vision, Liebes, falls man Stimmen so nennen kann. Ich verfüge über das, was wir die Aldaran-Gabe nennen, die gelegentliche Fähigkeit, die Zukunft vorherzusehen, obwohl ich sie in diesem Fall eher vorhergehört als gesehen habe. Ich wusste plötzlich, dass die Legislative aufgelöst werden würde, und erkannte welche Auswirkungen das hatte. Also tat ich, was ich für das Beste hielt, nämlich uns alle so weit und so schnell wie möglich vom Territorium der Föderation wegzuschaffen.«
»Dann wusstest du also nicht, dass Regis krank ist?« Nana wusste, dass er hat das zweite Gesicht hat – aber das ist zu viel... erst Telepathen und dann auch noch Hellseher. Ich frage mich, was er mir noch verschwiegen hat. Nein, ich will es gar nicht wissen. Nicht jetzt, nicht heute. Ich ertrage keine weiteren Enthüllungen mehr.
»Ich hatte eine Ahnung, könnte man sagen. Aber obwohl ich gleichzeitig die Empfindung von etwas Schrecklichem in Bezug auf Regis und die Maßnahme von Nagy hatte, verriet mir nichts, wann das sein würde. Regis’ Erkrankung hätte Wochen oder Jahre in der Zukunft stattfinden können, sie konnte aber auch bereits passiert sein. Die Aldaran-Gabe ist nicht präzise, und nicht alles, was wir vorhersehen, tritt auch ein. Zum Beispiel kann es sein, dass ich jemanden an einem Unfall beteiligt sehe – einem Luftautoabsturz, vielleicht – aber an dem Tag, an dem es passiert, beschließt der Betreffende, lieber daheim zu bleiben. Was die Auflösung der Legislative angeht, war ich mir meiner Sache ziemlich sicher, denn wir waren seit fast zwei Monaten nicht fähig gewesen, richtig zu arbeiten, alle hielten gewissermaßen den Atem an und warteten auf das Henkersbeil. Ich nehme an, auch manche meiner Kollegen ohne jegliche paranormalen Fähigkeiten haben teilweise kommen sehen, was schließlich eintrat. Ich hatte lediglich den Vorteil, wenn man es so nennen will, dass ich ein bisschen deutlicher vorgewarnt wurde. Es war von meiner Seite vor allem eine Frage des Vertrauens – zu glauben, was ich vorhersah, und danach zu handeln. Das ist im Wesentlichen alles, was ich dir erzählen kann.«
»Wer kommt an die Macht, wenn Regis nicht mehr ist?«
Herm lachte leise. »Mein Schwager Mikhail, der jüngere Bruder von Rafael. Ich habe ihn noch kennen gelernt, kurz bevor ich Darkover verließ, damals war er Anfang zwanzig. Ein tüchtiger Mann.«
»Der jüngere Bruder? Ist das nicht ein bisschen merkwürdig?«
»Doch. Es ist so: Regis hat seinen jüngsten Neffen schon vor langer Zeit zu seinem Erben bestimmt, noch bevor er Lady Linnea geheiratet hat. Mikhail ist der Sohn seiner Schwester, Javanne Hastur. Regis hatte andere Kinder, aber die wurden bereits in der Wiege ermordet, wie viele andere Leute damals, und zwar von den Weltenzerstörern, einer Geheimorganisation der Terraner. Dann heiratete er Linnea, und sie hatten drei Kinder: einen Sohn namens Danilo und zwei Töchter.«
»Aber warum wird Mikhail dann sein Nachfolger?« Katherine ließ sich beinahe unbewusst ablenken. Hauptsache, sie dachte an etwas anderes als an Telepathen. Das war ihr für den Augenblick zu viel. Und sie musste immer weiterreden, damit sie nicht zum Nachdenken kam.
»Das ist eine komplizierte Angelegenheit, aber im Wesentlichen hat Danilo Hastur auf die direkte Thronfolge verzichtet, um durch seine Heirat mit Miralys Elhalyn zum Erben der Domäne Elhalyn zu werden. Die Elhalyn stellen seit Beginn der überlieferten Geschichte die Könige Darkovers, aber die eigentliche Regierungsgewalt blieb immer in den Händen der Familie Hastur. Die beiden Familien sind verwandt, und Regis’ Mutter war Alanna Elhalyn ... Deine Augen werden glasig.«
»Ja? Das wundert mich nicht, in meinem Kopf geht es zu wie in einem Bienenstock. Ich bin unglaublich müde, Herm! Ich habe geschlafen und geschlafen, weil ich wusste, du würdest mir nicht sagen, was los ist, und es hat mir solche Angst gemacht. Wenn ich wach war, hätte ich dich jedes Mal erwürgen können! Und trotzdem fühle ich mich so ausgelaugt. Und ich habe Angst. Was wird aus uns werden?«
»Nun, als Erstes werden wir etwas zu essen bekommen, richtiges Essen, und dann werden wir in einem richtigen Bett schlafen.«
»Du weißt, was ich meine!«
»Ja. Ich glaube, wir werden auf absehbare Zeit hier auf Darkover bleiben, Liebes. Es tut mir Leid, dass ich dich nicht nach deiner Meinung fragen konnte, aber ich musste mich rasch entscheiden, sonst hätte ich riskiert, als Staatsfeind in einem Gefängnis der Föderation zu landen. Und misstrauisch, wie die Terraner in letzter Zeit waren, hätte man dich und die Kinder wahrscheinlich mit mir eingesperrt.«
Katherine nickte. »Ja, bei meinen Kontakten zu den Separatisten dürftest du Recht haben. Aber was wird mit Renney geschehen?«
»Ich habe keine Ahnung. Ich denke, dass die geschützten Planeten sich selbst überlassen sind oder es bald sein werden. Nach meiner Vermutung – und es ist wirklich nur eine Vermutung – wird die Föderation damit drohen, ihre Präsenz aufzugeben, ihre geliebten technischen Errungenschaften abzuziehen, in der Annahme, die geschützten Welten werden dann gezwungen sein, sich ihrem Willen zu beugen und ihnen das zu geben, was sie am meisten wünschen, nämlich die totale Vorherrschaft über alle Planeten. Ich kann nur raten, ob sie eine solche Drohung tatsächlich wahr machen, und ehrlich gesagt, bin ich zu müde, um mir darüber den Kopf zu zerbrechen.«
»Das alles zeichnet sich doch bestimmt schon lange ab.«
»Ja. Die Föderation sieht schon seit Jahren Gespenster, noch bevor ich Lews Posten als Senator übernommen habe. Sie haben nach einer Art Konflikt gesucht, um all die Plünderungen zu rechtfertigen, die sie in den letzten beiden Generationen begangen haben. Sie haben sich auf einen Krieg vorbereitet, und es gibt niemanden außer ihnen selbst, gegen den sie kämpfen könnten. Also haben sie beschlossen, dass die Kolonien der Feind oder der potenzielle Feind sind und dass sie gewaltsam auf Linie gebracht werden müssen.«
»So wie bei der Besetzung des Sonnensystems Enki?« Ihre Stimme klang leise und müde.
»Das ist ein Beispiel von vielen. Jetzt aber genug davon. Lass uns jetzt essen und ein Bad nehmen, damit wir den Gestank vom Schiff loswerden. Danach fühlst du dich viel besser, das verspreche ich dir. Darkover mag in manchen Dingen ein wenig rückständig sein, aber was Komfort und Sauberkeit angeht, sind wir die zivilisierteste Welt der gesamten Galaxis.«
Gisela Aldaran-Lanarts Füße ruhten auf einem gepolsterten Schemel vor ihrem Sitzplatz, auf ihren Knien lag eine weiche Wolldecke. Sie starrte auf die gläsernen Scheiben des Schachspiels, das ihr Marguerida vor drei Jahren zu Mittwinter geschenkt hatte, aber sie war so vertraut mit dem Brett, dass sie es gar nicht mehr richtig wahrnahm. Es war wunderschön, mit von Meisterhand geschnitzten Spielsteinen, so dass die Furchen und Faltenwürfe das Licht einfingen und die Figuren beinahe lebendig wirkten. Das waren sie jedoch nicht, vielmehr waren sie eingeschlossen in Stein, und Gisela fühlte sich häufig wie eine von ihnen.
Wenn sie einsam war, nahm sie oft die Figuren zur Hand, strich über die Falten, spürte den Knochen und das Holz, aus denen sie geschnitzt waren. Gisela hatte Plastiken immer gemocht, und als sie noch klein war, hatte sie dies und jenes aus Feuerholz geschnitzt, bis ihr Kindermädchen erklärte, das sei eine schmutzige Gewohnheit, und sie zwang, damit aufzuhören. Gisela hatte immer geglaubt, die Gestalten existierten bereits im Holz und warteten nur darauf, befreit zu werden. So wie sie selbst sich danach sehnte, aus diesem Gefängnis von Palast freizukommen.
Nur wenige Menschen auf Burg Comyn verstanden sich auf dieses komplexe Schachspiel und konnten eine Partie mit ihr wagen: Lew Alton, Marguerida, Danilo Syrtis-Ardais und Donal Alar, der Neffe ihres Mannes und Friedensmann von Mikhail Hastur. Ihrer Schwägerin ging sie möglichst aus dem Weg, obwohl es immer noch gefahrloser war, ihr über den acht durchsichtigen Ebenen des Spiels zu begegnen als in den Fluren der Burg. Lew Alton war ein guter Gegner, aber sein Spiel war unberechenbar, und Danilo war viel zu geschickt, sodass Giselas Spielweise ihn enttäuschte. Damit blieb noch Donal, dem seine Pflichten wenig Zeit ließen, aber er versuchte sie so oft wie möglich herauszufordern. Sie waren ebenbürtige Gegner, und Gisela genoss ihre Begegnungen beinahe – sosehr sie sich eben gestattete, etwas zu genießen.
Alles war so furchtbar öde! Sie hatte das Schachspiel und die alten Ahnentafeln satt, und sie hatte es satt, nichts weiter als eine kleine Figur in den wechselnden Machtspielen auf der Burg zu sein. Sie müsste eigentlich Königin sein und wäre es vielleicht auch geworden, ohne Marguerida. Aber dieser Gedanke war schon ganz abgenutzt, so oft hatte sie ihn bemüht, und sie ließ ihn wieder fallen.
Wenn sie sich doch nur aus dieser Niedergeschlagenheit befreien könnte, die seit Jahren von ihr Besitz ergriffen hatte, seit der Geburt ihres letzten Kindes. Gisela hatte Heiler aufgesucht, scheußlich schmeckende Sude getrunken und Tiefenmassagen erduldet – alles umsonst. Sie hatte kein Interesse an der Art öffentlicher Bemühungen, denen sich Marguerida hingab, und hielt diese nur für einen Dreh ihrer Rivalin, mit dem sie zeigte, was für eine großherzige Dame sie war. Das Schlimmste war, dass es ihr nach fünfzehn Jahren in Thendara und beinahe täglichem Kontakt mit ihrer Schwägerin noch nicht einmal gelang, sie zu hassen. Abneigung war da, natürlich – eine gemeine und kleinliche Empfindung, für die sie sich lediglich hässlich und schmutzig vorkam. Wenn Marguerida doch nur so herrschsüchtig und schwierig wäre wie Javanne Hastur, und nicht so verdammt anständig. Wie ärgerlich!
Etwas wie ein Kichern stieg in ihre Kehle, und ihre trübe Stimmung begann aufzubrechen. Für einen Moment versuchte sie sich daran festzuhalten, in ihren düsteren Freuden zu verweilen, aber sie war ihrer überdrüssig und ihre Trübsal entfloh, wohin auch immer solche Dinge gehen. Sie brauchte eine Aufgabe, eine richtige Aufgabe, nicht diese blassen Intrigen, die sie auf Geheiß ihres Vaters in den ersten zehn Jahren in der Stadt gesponnen hatte. Sie hatten ihr nichts eingebracht, außer dem Misstrauen von Regis Hastur und, als Folge davon, den Ausschluss ihres Mannes von jedweder tatsächlichen Macht. Rafael hatte sich nie beschwert, nie etwas gesagt, aber sie wusste, es gärte in ihm, und sie hatte ihn tief verletzt.
Dabei hatte sie das gewiss nicht gewollt. Auch wenn sie in ihrer Jugend völlig in Mikhail Hastur vernarrt gewesen war, wusste sie nun, dass es weiter nichts gewesen war, eine mädchenhafte Zuneigung, verbunden mit dem noch stärkeren Wunsch nach Macht. Nach ihrer gnädigerweise kurzen Ehe mit ihrem ersten Mann, der die Güte hatte, sich beim Jagen den Hals zu brechen, bevor sie Mittel und Wege fand, ihn zu ermorden, hatte sie sich geschworen, sich nie wieder zur Schachfigur ihres Vaters machen zu lassen. Und der beste Weg dazu schien ihr damals eine Heirat mit Mikhail zu sein, durch die sie zur Gattin des designierten Erben wurde. Was für eine Närrin sie doch war!
Nichts stellte sie zufrieden, und sie wusste, das lag an ihrem eigenen Charakter und an nichts anderem. Jahre bitterer Nabelschau hatten Narben auf ihrer Seele hinterlassen, obwohl sie sich heftig bemühte, ihrer Existenz einen Sinn zu verleihen. Da waren die Kinder, aber sie hatte nie vermocht, mehr als ein gespieltes Interesse für sie aufzubringen. Und da war Rafael, die einzige Konstante in ihrem Leben. Seltsam eigentlich, wie sie ihren Mann mit der Zeit zu schätzen gelernt hatte, obwohl seine Nachsicht und sein stummes Erdulden sie mit den Zähnen knirschen ließen. Wenn er sie doch nur manchmal anschreien würde. Sie wünschte, er würde ihr Manieren beibringen, und wusste, er würde es nie tun. Das war seine Charakterschwäche, so wie Missgunst die ihre war.
Gisela hörte ihn kommen, bevor er den Raum betrat, diesen besonderen Schritt, den sie überall erkannt hätte. Dann war er neben ihr, seine Kleidung roch nach der frischen Luft außerhalb der Burg, nach Holzkohlenfeuer und der warmen Ausdünstung von Pferden. Er hatte Herm vom Raumhafen abgeholt und kam eben zurück. Er beugte sich zu ihr herab und küsste sie auf die Stirn.
»Und, geht es meinem Bruder gut?« Sie zwang sich zu ein wenig Interesse, wenngleich sie sich wie durch eine dicke Watteschicht zurück in die Gegenwart schleppen musste.
»Ja, allerdings ist er sehr müde. Seine Frau und die Kinder sehen aus, als kämen sie aus einer von Zandras Höllen.«
»Es ist schwer, sich Herm vermählt vorzustellen. Wie ist sie?«
»Na ja, ich kenne sie jetzt seit einer Stunde, und die meiste Zeit hat sie ihm mächtig Zunder gegeben, weil er sie nach Darkover geschleift hat.« Er lachte leise. »Sie ist sehr hübsch – dunkles Haar, helle Haut und ein nettes Lächeln. Auch klug, glaube ich, und nicht leicht unterzukriegen. Mir hat sie gefallen.«
»Wieso?« Der Dämon der Missgunst streckte seine Klauen aus, eifersüchtig auf alles und jeden.
»Ähm ... ich kann es nicht genau erklären. Sie ist müde und durcheinander – sie heißt übrigens Katherine – aber sie hat Haltung bewahrt. Ich habe die Fragen gehört, die sie ihm stellte, warum er sie und die Kinder weggebracht hat, und ihr ist so gut wie nichts entgangen, obwohl er sich alle Mühe gegeben hat, sich aus der Sache herauszuwinden.«
»Wenigstens das hat sich nicht geändert. Hermes ... schwindelt gerne. Ich sollte wohl hinübergehen und sie begrüßen, oder?«
»Wenn du dich dazu aufraffen kannst.« Sie hörte die leise Kritik aus seinen Worten und zuckte zusammen – manchmal dachte sie, es wäre ihr fast lieber, wenn er sie schlagen würde. »Morgen reicht allerdings auch noch.«
»Ja, dann morgen.« Hübsch und klug – Gisela hasste die Frau praktisch jetzt schon.