Читать книгу Der Sohn des Verräters - Marion Zimmer Bradley - Страница 7
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ОглавлениеMikhail Hastur stand langsam auf und streckte sich. Seine Wirbelsäule knackte hörbar in der Stille des Krankenzimmers, und Lady Linnea, die auf der anderen Seite des Bettes saß, blickte auf; sie sah abgespannt und erschöpft aus. Mikhail hatte seit Stunden völlig still dagesessen und sich auf die reglose Gestalt auf dem Bett konzentriert. Seine rechte Hand mit der großen Matrix in Form eines Ringes, die er von Varzil dem Guten bekommen hatte, schmerzte von der Energie, die er durch sie hindurchgetrieben hatte.
Wie so oft, seit er im Besitz der Matrix war, hatte er sich eingebildet, Varzils ruhige Stimme zu hören, die durch die Zeit drang, um ihn zu beraten. Er konnte nie entscheiden, ob es nur an seiner eigenen Fantasie lag oder ob der längst verstorbene Laranzu tatsächlich durch die Matrix, die einst ihm gehört hatte, aus der Oberwelt zu ihm sprach. Nach fünfzehn Jahren spielte es keine Rolle mehr für Mikhail. Dennoch blieb es störend, die Worte im Kopf zu hören. Diesmal vermittelten sie weder Trost noch Ermutigung, sondern nur die sichere Erkenntnis, dass Regis Hastur im Sterben lag und dass Mikhail nichts tun konnte, um es zu verhindern. Er haderte mit der Grausamkeit des Schicksals, gern hätte er um den geliebten Mentor geweint, der nie mehr zu ihm sprechen würde, aber er war einfach zu müde.
Die Brust des Mannes unter der Bettdecke hob und senkte sich noch, aber er atmete nun sehr flach, und Mikhail spürte, dass Regis’ Ende bevorstand. Er hätte viel dafür gegeben, wenn sein Onkel die Augen geöffnet und das vertraute Funkeln unter den Lidern hervorgeleuchtet hätte. Er wünschte, Regis würde sich aufsetzen und nach einer Chervinekeule und einem Fass Wein verlangen. Wenn Mikhail dieses Wunder zu Stande gebracht hätte, Lady Linnea hätte das Fleisch zweifellos mit ihren eigenen kleinen Händen aufgetragen.
Diese törichte Vision verschaffte Mikhail einen Moment der Erleichterung, bevor ihm der Kummer erneut den Hals zuschnürte. Die Luft im Raum, die schwer nach glimmenden Kräutern und Kerzenwachs roch, ließ ihn plötzlich beinahe würgen. Er schluckte krampfhaft und fuhr sich mit den Fingern der linken Hand durch das lockige Haar. Dann starrte er düster auf seine Rechte, auf den Ring, und ballte sie zur Faust. Es war zum Verrücktwerden. Er hatte die letzten fünfzehn Jahre größtenteils damit verbracht, die Kunst des Heilens zu erlernen, möglichst viel über die Matrix herauszufinden, die er von Varzil dem Guten bekommen hatte, und dabei große Fertigkeiten entwickelt. Aber was war das alles wert, wenn es nicht ausreichte, seinen Onkel zu retten?
Hatte er wirklich alles versucht? Mikhail zermarterte sich noch einmal das Gehirn, die Vergeblichkeit dieses Tuns vermischte sich mit seiner Müdigkeit. Ja, er hatte alles versucht, genau wie Marguerida, die ihre eigenen Talente in der Heilkunst besaß. Sie hatte außerdem sämtliche fähigen Heiler Thendaras hinzugezogen und zwei aus Arilinn. Der Körper war noch am Leben, aber Regis war kaum mehr in ihm.
Mikhail wollte es nicht hinnehmen, er tobte innerlich wie ein Kind mit seinen dreiundvierzig Jahren. Er hatte Regis sein ganzes Leben lang gekannt und stellte plötzlich fest, dass er sich Darkover nicht ohne ihn vorstellen konnte. Seit Jahrzehnten bereitete er sich darauf vor, seinem Onkel nachzufolgen, aber er hatte nicht damit gerechnet, dass es so unerwartet, so früh geschehen würde. Die alten Zweifel nagten wieder an ihm, Ängste, die er längst überwunden glaubte. Er war noch nicht bereit, Darkover zu führen!
Das Rascheln von Stoff hinter ihm ließ ihn den Kopf wenden. Marguerida betrat die Kammer, sie trug ein Tablett mit mehreren Bechern darauf. Trotz allem, was sie im Lauf der Jahre gelernt hatte, tat sie hin und wieder die Arbeit einer Dienerin. Unter ihren goldenen Augen waren dunkle Ringe und neben dem sonst meist lächelnden Mund hatten sich tiefe Falten eingegraben. Ihr schönes rotes Haar klebte schlaff am Schädel, von den Locken war kaum mehr etwas zu sehen. Wortlos reichte sie Mikhail einen Becher, und er roch den erfrischenden Duft von Bergminze und das unverkennbare Aroma des Honigs aus Hali. Ihre Blicke begegneten sich kurz, in Margueridas lag eine Frage, auf die Mikhail antwortete. Keine Veränderung.
Lady Linnea sah von dem Körper des Mannes auf, der mehr als drei Jahrzehnte ihr geliebter Gefährte gewesen war. Sie ließ die Schultern sinken und rieb sich die Augen, als würden sie brennen. Ihre Augen hatten die Farbe von Glockenblumen, ein helles Blau, und sie waren so jugendlich wie zu Mikhails Knabenzeit. Aber es lag keine Hoffnung darin, nur ein tiefer Kummer, der ihm das Herz zerriss.
Marguerida ging mit dem Tablett zu ihr hinüber, und Linnea nahm sich schweigend einen Becher Tee. Dann ging sie zu Danilo Syrtis-Ardais, der am geschnitzten Kopfende des Bettes im Halbdunkel stand, und bot ihm ebenfalls einen an. Mikhail beobachtete, wie die sechsfingrige Hand des Friedensmannes seines Onkels in den Henkel des Bechers glitt, und er bemerkte die Erschöpfung und Verzweiflung in dem vertrauten Gesicht.
Marguerida stellte das Tablett auf einen kleinen Tisch und kam an seine Seite. »Dani ist gerade eingetroffen«, flüsterte sie. »Er wird jeden Moment hier sein.«
»Gut. Ich glaube, Regis wartet auf ihn. Du siehst furchtbar aus, Caria.«
»Wahrscheinlich – aber hast du in letzter Zeit einmal in den Spiegel geschaut? Ich habe Vater endlich dazu gebracht, dass er sich eine Weile hinlegt. Ach ja – Herm Aldaran ist in Thendara eingetroffen, mit Frau und Kindern. Rafael hat sie abgeholt und in seine Gemächer gebracht.«
»Was? Wieso?« Die Welt war für Mikhail vor vier Tagen stehen geblieben, und er hatte nahezu vergessen, dass außerhalb dieses Raums noch etwas existierte.
Er bekam jedoch keine Antwort auf seine ungläubige Frage, denn in diesem Augenblick betrat Danilo Hastur, Regis’ Sohn, das Zimmer. Er trug ein braunes Übergewand und eine schwere Hose, und er roch nach Schweiß und Pferd, ein gesunder Geruch gegen die stickige Luft in der Kammer. Er war nun ein kräftiger Mann von dreißig Jahren, nicht mehr der schlanke Junge, an den sich Mikhail so liebevoll erinnerte. Er lebte mit seiner Frau und den Kindern auf der Domäne Elhalyn, die sich von der Westseite des Sees von Hali bis zum Meer von Dalereuth erstreckte, und man sah ihm an, dass er einen langen und harten Ritt nach Thendara hinter sich hatte.
Linnea ließ beim Anblick ihres Sohnes den Becher aus den gefühllosen Händen fallen, sodass sich der Tee über ihr zerknittertes Gewand ergoss. Ihre blauen Augen füllten sich mit Tränen. Dani umarmte sie zärtlich, als fürchtete er, sie könnte in seinem Griff zerbrechen, und küsste sie sanft auf die Wange. Sie hielten sich einen Augenblick fest, ihr Kopf ruhte an seiner Schulter. Dann ließ er sie los und trat ans Bett.
Dani Hastur stand neben dem Krankenlager und sah auf die reglose Gestalt seines Vaters unter den Laken. Dann setzte er sich, nahm Regis’ Hand in die seine und streichelte sie leicht. Der Kranke rührte sich nicht. Nur das kaum merkliche Heben und Senken der Brust zeugte davon, dass er noch lebte.
»Vater.« Danis Stimme versagte bei dem Wort. »Ich bin es, Dani.«
Die Stille im Raum wurde nur durch Danis keuchenden Atem und das Schluchzen von Lady Linnea gestört. Mikhail beobachtete die Szene und spürte eine leichte Veränderung bei dem Mann im Bett. Einen kurzen Moment zog sich ihm das Herz in der Hoffnung zusammen, Regis würde aufwachen und zu seinem Sohn sprechen. Doch stattdessen sah er nur ein schwaches Beben über die Gestalt im Bett laufen, und wusste, er hatte vergeblich gehofft. Regis-Rafael Felix Alar Hastur y Elhalyn lebte nicht mehr.
In diesem Augenblick erfasste Mikhail eine seltsame Empfindung, ein warmer Hauch auf seinem Gesicht und ein Kribbeln in der rechten Hand. Er sah auf die schimmernde Matrix an seinem Finger hinab und beobachtete erstaunt, wie sie hell aufleuchtete und kleine Blitze in die Düsternis der Kammer sandte. Das hatte der Stein noch nie zuvor getan, und er tat es mit einer Heftigkeit, die schmerzte.
Mikhail wandte den Blick ab, unfähig, länger hinzusehen. Dann schaute er wieder zum Bett, seine Augen brannten. In den Vorhängen hinter dem Kopfteil flackerte etwas, ein Spiel aus Licht und Schatten. Für einen Moment glaubte er in den Falten des Stoffs zwei Frauen zu sehen, eine hell, die andere dunkel. Sie schienen durchsichtig zu sein, und er hätte es für eine optische Täuschung halten können, hätte er das helle Gesicht nicht schon einmal irgendwo gesehen, und zwar an einem anderen Ort, in einer anderen Zeit. Er sog vor Überraschung scharf die Luft ein, und die Vision verschwand. Sein Herz schlug heftig, und das Blut rauschte durch seine Adern, dass ihm schwindlig wurde. Die blonde Frau war Evanda, die Frühlingsgöttin, und die andere musste Avarra, die Dunkle Göttin, sein. Trotz der Trauer, die sich seiner bemächtigte, stieg auch eine andere Empfindung in ihm auf: die einer jenseitigen Ruhe.
Neben ihm weinte Marguerida lautlos, die Tränen liefen ihr über die bleichen Wangen. Mikhail legte den Arm um sie und zog sie sanft an seine Brust, wobei er sich gestattete, für einen kurzen Moment alles auf einmal zu fühlen. Er konnte noch nicht recht glauben, dass es vorbei war. Irgendwie hatte er in der Tiefe seines Herzens mit einem Wunder gerechnet, und nun war er erfüllt von einem großen Gefühl der Leere und des Versagens, weil es nicht eingetreten war. Was für ein Narr er doch war.
Danilo Syrtis-Ardais verließ seinen Platz im Schatten des Bettvorhangs. Der Friedensmann stellte seinen Becher ab und beugte sich über den Leichnam im Bett. Er umfasste das Handgelenk seines Freundes und hielt es fest, sein hageres Gesicht spiegelte zugleich Wachsamkeit und Resignation wider. Nach einer Minute löste er Danis Hand von der seines Vaters und faltete Regis’ Arme sorgfältig über der Brust. Danilo blickte in das leblose Gesicht des Mannes, der mehr als vierzig Jahre sein Gefährte gewesen war. Er berührte leicht die Stirn und strich über das weiße Haar, sein Blick war unendlich zärtlich. Dann beugte er sich hinab und küsste die bleiche Wange seines Herm, bevor er sich vor Schmerz bebend abwandte.
Dani Hastur sah seinen Vater lange an, ein sehnsüchtiger Ausdruck stand in seinem Gesicht. Eine Weile blieb er wie betäubt auf dem Bett sitzen, dann endlich hob er das Laken vorsichtig an und zog es über Regis Hasturs friedvolles Gesicht. Er erhob sich mit zitternden Knien, dann beherrschte er sich. Er schloss Lady Linnea wieder in die Arme, und sie schien in seinem Griff zusammenzubrechen, als trügen ihre Beine sie zuletzt nicht mehr. Sie legte den Kopf an seine Schulter und weinte hemmungslos.
Die Einzelheiten der Szene blieben noch einige Sekunden deutlich vor Mikhails Augen stehen, bevor sie zu verschwimmen begannen, als regnete es. Er erkannte, dass die Tränen, die er zurückgehalten hatte, so lange er um das Leben seines Onkels kämpfte, sich nicht länger unterdrücken ließen. Überwältigt von der Macht seiner Gefühle drehte er sich abrupt um und verließ den Raum.
Mikhail saß in dem schäbigen Arbeitszimmer seines Onkels hinter dem großen Schreibtisch, an dem Regis oft seinen Regierungsaufgaben nachgegangen war, starrte in den Kamin und weinte. Der Teppich war ziemlich abgenutzt, aber Regis hatte sich geweigert, ihn ersetzen zu lassen oder sonst etwas an dem Raum zu verändern. Die Diener durften nur fegen und Staub wischen. Es war ein merkwürdiges Gefühl, an die gutmütigen Streitereien zwischen seinem Onkel und Linnea über den Zustand des Zimmers zu denken – der Disput war stets fröhlich und liebevoll gewesen.
Er war vor Stunden hierher gekommen, unfähig zu schlafen, zu denken, zu arbeiten, die Pflicht, das Leben fliehend. Es brannte kein Feuer im Kamin, deshalb war der Raum kalt, und die Luft war abgestanden. Er hatte eine Flasche Feuerwein auf dem Schreibtisch stehen und daneben einen Becher. Der Pegel in der Weinflasche war um einiges gesunken, seit er hier saß, aber das hatte seinen lähmenden Schmerz nicht eine Spur gemindert. Er war nicht einmal betrunken. So groß war die Macht von Varzils Matrix, dass er seine Sinne nicht betäuben konnte, wie sehr er es auch versuchte.
Undeutlich fühlte Mikhail das alltägliche Treiben auf Burg Comyn um sich herum. Nicht einmal der Tod Regis Hasturs hatte das gleichmäßige Funktionieren des riesigen Gebäudekomplexes ganz zum Erliegen bringen können. Er wusste, dass Donal Alar, sein junger Friedensmann und Neffe, vor der Tür des Arbeitszimmers stand, um ihm Ungestörtheit zu garantieren, obwohl der arme Donal sicherlich zum Umfallen müde war. Es war Margueridas Idee gewesen, den jungen Mann in Pflege zu nehmen, und er war inzwischen froh darüber. Donal und seine Schwester Alanna dem ängstlichen Griff von Ariel Lanart-Alar zu entreißen, war nicht leicht gewesen, aber Mikhail war überzeugt, dass es die beiden sehr wahrscheinlich vor dem Verrücktwerden bewahrte. Ariel war seit Alannas Geburt nicht mehr die Gleiche, was Mikhail zutiefst betrübte.
Irgendwo wusste er, dass Marguerida ihr Bestes tat, um alle Vorkehrungen zu treffen, die nun nötig waren. Es würde eine Begräbnisfeier geben müssen, aber erst wenn alle Oberhäupter der einzelnen Domänen eingetroffen waren, und das würde wenigstens einige Tage dauern. Seine Eltern weilten noch in Armida, obwohl ihm klar war, dass er Javanne sofort hätte benachrichtigen sollen, als Regis erkrankte. Aber Lady Linnea, sonst die Sanftmütigkeit in Person, war diesmal unnachgiebig geblieben. »Ich kann es gerade ertragen, ihn in diesem Zustand zu sehen, Mikhail. Aber ich werde diese Frau nicht auf Burg Comyn dulden, solange es nicht sein muss.« Unter den gegebenen Umständen hatte er sich ihren Wünschen gebeugt. Und mit einem leichten Schuldgefühl hatte er Linnea Recht gegeben. Seine Mutter war zu keiner Zeit einfach, und es wäre unerträglich gewesen, sie jetzt um sich zu haben.
Seine Gedanken wanderten zu Marguerida. Er wusste, sie war ebenso müde wie er selbst, und dennoch nahm sie die Mühen der Begräbnisvorbereitungen auf sich. Ein solches Ereignis hatte es seit Jahrzehnten nicht gegeben, und auch wenn ihr der Coridom von Burg Comyn sicher nach besten Kräften helfen würde, so war der Mann doch sehr alt und wahrscheinlich derart gramgebeugt, dass man ihn kaum gebrauchen konnte. Mikhail hätte es vorgezogen, Marguerida läge mit einem warmen Ziegel an den Füßen im Bett, aber wahrscheinlich lief sie herum und erledigte die Dinge, die er selbst hätte tun sollen. Er überlegte, um welche Aufgaben es sich handeln könnte, aber immer wieder überkamen ihn Kummer und Verzweiflung. Er war nicht bereit!
Draußen war es dunkel, und sein Magen knurrte. Wie lange hatte er nichts gegessen? Mikhail erinnerte sich nicht, und obwohl sein Körper Nahrung brauchte, verspürte er keinen Appetit. Seine Augen waren geschwollen vom Weinen und Mangel an Schlaf, und die Schultermuskeln waren hart vor Anspannung. Die Kerzen brannten nicht, und er brachte nicht die Energie auf, sich zu erheben und sie anzuzünden.
Das Licht vom Flur warf einen hellen Streifen auf den Boden, als die Tür des Arbeitszimmers aufging und Lew Alton eintrat. Mikhail starrte seinen Schwiegervater sprachlos an, verärgert über die Störung und einen Moment lang wütend, weil Donal jemandem den Zutritt zu seinem Heiligtum gestattet hatte, auch wenn es sich um jemand Besonderen handelte. Doch dann kam ihm zu Bewusstsein, dass dieses Zimmer mit dem ramponierten Schreibtisch und dem abgetretenen Teppich nicht sein Privatbereich war, sondern der von Regis. Der Raum war noch so erfüllt von der Gegenwart seines Onkels, dass es wehtat. Es schien ihm, als wäre das alles, was ihm von Regis geblieben war, und er war noch nicht bereit, es mit einem anderen zu teilen. Donal folgte Lew ins Zimmer, weil er selbst diesen höchst vertrauenswürdigen Ratgeber nicht mit seinem Herm allein lassen wollte, und schloss die Tür. Dann lehnte er sich an den Türpfosten, verschränkte die Arme und bemühte sich, unsichtbar zu werden.
Lew sagte nichts, sondern nahm einen Feueranzünder und kniete sich vor den kalten Kamin. Es blitzte kurz auf, dann flackerte das Zündmaterial, das darin lag. Mikhail beobachtete, wie die Flammen an den Scheiten züngelten, sie umschlangen und mit Licht und Farbe auffraßen. Er sah, wie Lew einen brennenden Span aus dem Feuer nahm und die Kerzen anzuzünden begann. Der tröstliche Duft von heißem Wachs und brennendem Holz erfüllte den Raum.
Lew goss sich einen Becher Wein ein und nahm gegenüber von Mikhail am Schreibtisch Platz. Sein Haar war vollständig ergraut, und die Narben in seinem Gesicht waren kaum zu sehen, weil sie völlig in den Falten und Furchen verschwanden. Er war ein wettergegerbter Mann mit rauer, trockener Haut, und an diesem Abend sah er so alt aus, wie er war. Mikhail bemerkte die Röte um die Augen seines Schwiegervaters und wusste, er hatte geweint.
»Marguerida hat mich geschickt«, begann Lew, nachdem er seinen Becher halb ausgetrunken hatte.
»Bist du gekommen, um mir zu sagen, dass ich meine Trauer beiseite schieben und an meine Pflicht gegenüber Darkover denken muss?«, fuhr ihn Mikhail an, selbst überrascht von seiner Heftigkeit. Er spürte, wie er vor Verlegenheit rot wurde. Donal regte sich an seinem Platz an der Tür und sah ihn merkwürdig an.
»Keineswegs! Von mir aus kannst du noch eine Woche im Dunkeln sitzen – ich hoffe allerdings, du tust es nicht. Aber deine Abwesenheit bereitet uns Sorge.«
Mikhail zog den Kopf ein. »Ich könnte es einfach nicht ertragen, ihn aufgebahrt zu sehen – noch nicht. Ich stehe noch unter Schock.«
»Dafür ist später noch genügend Zeit, Mikhail. Bis alle eingetroffen sind, bis die Bahre gebaut und aufgestellt ist, wird fast die ganze Woche vergehen. Und ich verstehe dich sehr gut. Als Dio schließlich starb, habe ich viele Tage gebraucht, bis ich es wirklich fassen konnte, und das obwohl ich es lange vorher wusste, obwohl Marguerida sie mir für noch einmal fünf Jahre zurückgegeben hatte. Es gab Zeiten, da verfluchte ich meine eigene Tochter dafür, denn auf diese Weise musste ich Dio zweimal verlieren. Dadurch hatte ich Zeit, mich darauf vorzubereiten – nur, ich tat nichts dergleichen! Ich glaube, irgendetwas in uns verleugnet den Tod. Wir reden uns ein, dass er sich irgendwie umgehen oder verschieben lässt, dass uns all diejenigen überleben, die wir lieben, damit wir den Verlust nicht erleiden oder uns vielleicht auch nicht eingestehen müssen, dass unsere Lieben sterblich sind. Als mein Vater auf Vainwal starb, war ich völlig fassungslos und wütend. Und so nahe, wie du Regis standest, ist es für dich wahrscheinlich fast so, als wäre dein Vater gestorben.«
Mikhail hörte die Worte, aber sie schienen nicht in seinen Verstand zu dringen. Er fühlte nur eine riesige, nicht enden wollende Betäubung. Nach einigen Augenblicken des Nachdenkens jedoch kam ihm zu Bewusstsein, dass Regis tatsächlich wie ein Vater für ihn gewesen war und nicht nur ein Onkel. Eine Zeit lang hatte ihn das von Dom Gabriel, seinem richtigen Vater, entfremdet. Und jetzt erkannte er wie nie zuvor, dass auch der Alte einmal sterben und er einen weiteren Verlust erleiden würde. Und den von Lew, der ihm gegenübersaß und Feuerwein trank. Mikhail war Margueridas Vater in den letzten fünfzehn Jahren so nahe gekommen, dass er ihm ebenso teuer war wie Regis oder Dom Gabriel.
Gleichzeitig war da noch etwas, das ihn beunruhigte. Er versuchte sich die unstete Regung, die ihn quälte, bewusst zu machen. Es war Schuldgefühl, entschied er schließlich, doch warum er sich schuldig fühlen sollte, konnte er nicht auf Anhieb sagen. Hatte er auch wirklich alles unternommen? Gab es noch etwas, das er hätte tun können, um Regis’ Leben zu verlängern?
Mikhail sah auf seine rechte Hand hinab, die nun wieder in einem Handschuh aus feinstem Leder steckte, da er keine Heiltätigkeit mehr verrichtete. Die große, glitzernde Matrix, die auf seinem Finger saß, war verborgen, aber er spürte stets ihre Gegenwart. Sie war so mächtig, dass es Momente gegeben hatte, in denen er sie am liebsten weggeworfen hätte, um diese Bürde los zu sein. Sie hatte ihn zur mächtigsten Person auf Darkover gemacht, zu mächtig für das Wohlergehen mancher Domänenherren wie Francisco Ridenow und sicherlich auch zu mächtig für den Seelenfrieden seiner Mutter Javanne. Darüber hinaus hatte sie ihn fünfzehn Jahre lang fast zu einem Gefangenen auf Burg Comyn gemacht, umgeben von Wächtern und Beobachtern, stets gewahr, dass alles, was er tat, verfolgt und beurteilt wurde. Man respektierte ihn, doch man fürchtete ihn auch, selbst sein Onkel, den er so geliebt hatte.
Und nun? Er würde Regis nachfolgen. Hatte er sich auf diesen Augenblick nicht sein ganzes Leben lang vorbereitet? Warum fühlte es sich nur so falsch, so leer und beängstigend an? Er war nicht mehr der Junge, der einmal davon geträumt hatte, Darkover zu regieren, aber auch nicht der Mann, der dieses Ziel für eine Weile aufgegeben hatte. Er war ein anderer, und Mikhail fragte sich, ob er sich überhaupt kannte. Er wollte nicht länger darüber nachdenken. Er war zu müde für Selbsterforschung, und er hegte den Verdacht, dass er ohnehin einem bloßen Schwelgen in Selbstmitleid näher war.
Er zwang sich, nicht länger bei dem schmerzlichen Verlustgefühl zu verweilen, und suchte nach einem Gesprächsthema. Schließlich sagte er: »Marguerida hat mir erzählt, dass Herm Aldaran eingetroffen ist. Was ist passiert?«
»Ach, das.« Lew lächelte grimmig und langte nach der Weinflasche auf dem Schreibtisch. Sie war fast leer, und er goss die letzten Tropfen in seinen Becher. »Herm und seine Familie, um genau zu sein. Ich erfuhr erst Stunden vor seiner Ankunft, dass er unterwegs ist, und es schien mir nicht so wichtig, als müsste ich es dir sofort mitteilen. Du hattest genug am Hals, Mikhail. Wie es aussieht, wurde die gesamte Legislative auf Anordnung der Premierministerin aufgelöst, bis Neuwahlen abgehalten werden können. Meine Vermutung geht dahin, dass es keinen Kongress der Föderation mehr geben wird – nie mehr – oder wenn, dann wird man ihn mit Leuten besetzen, die ganz auf der Linie der Expansionisten sind. Angesichts der Geistesverfassung der Expansionisten war dieser Coup fast unvermeidlich, und ich befürchte, aus den Überresten der Föderation wird eine Militärdiktatur oder gar Schlimmeres hervorgehen.«
Mikhails Gehirn war zu übermüdet, um vollständig zu begreifen, was Lew da sagte, deshalb konzentrierte er sich auf das, was er verstand. »Wahlen? Die Hälfte der Welten in der Föderation kann mit Demokratie nicht mehr anfangen als ein Esel mit Tanzschuhen.« Es war eine Wohltat für Mikhail, seine verbliebene Energie in Ungläubigkeit und Sorge über diese neue Entwicklung fließen lassen zu können, obwohl ihm vollkommen klar war, dass die Sache unabsehbare Folgen für Darkover haben würde. Aber mit diesen Befürchtungen würde er sich beschäftigen, wenn er wieder klarer denken konnte.
»Richtig, Mikhail. Viele der Senatoren und Abgeordneten wurden – so wie ich – von Königen, Gouverneuren und Oligarchen ernannt. Und diese ererbten oder durch Ernennung erlangten Positionen sind den Expansionisten schon lange ein Dorn im Auge, und nun haben sie ihn fürs Erste offenbar herausgerissen. Ich denke, die Handlung der Premierministerin war unüberlegt und dürfte Folgen haben, die sie später bereuen wird. Sandra Nagy ist nicht klar, dass sie den Fuchs im Hühnerstall losgelassen hat, aber genauso verhält es sich. Wahrscheinlich glaubt sie, die Partei im Griff zu haben, und wenn sie merkt, dass dem nicht so ist, wird es viel zu spät sein.« Solange Mikhail ihn kannte, sagte Lew schon alle möglichen grässlichen Dinge für die Föderation voraus, und er schien eine grimmige Befriedigung aus den derzeitigen Ereignissen zu ziehen.
»Dann muss sie ein Dummkopf sein. Denkt sie denn ernsthaft, Welten wie Darkover werden sich diesem durchsichtigen Plan fügen?«
»Da ich in die jüngsten Gedanken von Sandra Nagy nicht eingeweiht bin, kann ich dazu nichts sagen, Mik. Ich kannte sie vor Jahren, als sie in den Handelsausschuss berufen wurde. Sie ist schlau und politisch äußerst geschickt, hat aber wenig bis gar kein moralisches Empfinden. Ich mochte sie nicht, hatte aber einen gewissen Respekt vor ihrer Gerissenheit. Es macht mich traurig, dass meine schlimmsten Befürchtungen über die Föderation anscheinend bald wahr werden, aber ich stelle fest, dass es mich weniger entmutigt, als ich dachte.«
»Was bedeutet das für Darkover?« Mikhail interessierte sich nicht sonderlich dafür, was aus der Föderation wurde. Sie blieb eine abstrakte Anhäufung von Orten, die er nie gesehen oder von denen er in vielen Fällen nicht einmal gehört hatte. Egal, wie viel Lew und Marguerida ihm darüber erzählten, es blieb mehr Vorstellung als Wirklichkeit für ihn. Zudem hatte er nach dem Erhalt der großen Matrix erkannt, dass es ihm nie möglich sein würde, auf andere Welten zu reisen, wie er es sich gewünscht hatte, als er noch jünger war. Und obwohl Mikhail interessiert und sogar neugierig blieb, hatte er feststellen müssen, dass es ihn schmerzte, über weit entfernte Planeten zu sprechen, die er nie zu Gesicht bekommen würde. Er war neidisch, weil Marguerida so ausgedehnte Reisen unternommen hatte, und manchmal nahm er sie seiner Frau sogar ein wenig übel, gerade so viel, dass er sich für dieses Gefühl heftig schämte.
Lew schüttelte den Kopf. »Das weiß ich wirklich nicht. Möglicherweise bilden sich die Terraner ein, sie könnten uns in die Knie zwingen, indem sie ihre technischen Errungenschaften entfernen, den Raumhafen schließen und sich zurückziehen.«
»Das ist doch lächerlich! Wir hatten nie Verwendung für ihre Technik. Wahrscheinlich wäre es ein Segen für uns, wenn sie abzögen.« Lew ließ ein raues Lachen hören, ein leises Brummen, so als würde ein Bär zu lachen versuchen. »Politische Körperschaften sind selten logisch, Mikhail.«
»Wie können sie dann funktionieren?«
Lew blickte nachdenklich drein. »Sie speisen sich aus Idealen und Machtkämpfen – oft entstehen politische Bewegungen aus Idealen, verkommen aber zu Machtgerangel, Größenwahn und der Auflösung genau jener Wunschbilder, der die betreffende Bewegung ihre Entstehung verdankt. In diesem Fall, glaube ich, besteht das Ideal darin, dass in der Föderation alle gleich sein werden und dass es möglich ist, einen Konsens auf dem Verfügungsweg zu erlangen. Die Expansionisten glauben, das ließe sich erreichen, wenn alle ihrem expansionistischen Weg zustimmen. Und da sie sich einer starken Opposition gegenübersehen, versuchen sie, ihre Leitbilder den Leuten mit Gewalt einzutrichtern.«
Mikhail runzelte die Stirn. Ihm war ganz dumpf im Kopf, aber er war froh um die Ablenkung, die es ihm bot, sich auf dieses sperrige Problem konzentrieren zu können, egal wie schlecht es ihm gelang. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich dich richtig verstehe. Willst du etwa sagen, diese Leute glauben, sie könnten ganze Planeten zwingen, ihre Bräuche aufzugeben und so zu werden wie Terra? Das ist das Lächerlichste, was ich seit langem gehört habe.«
»Ich weiß, es klingt unmöglich. Aber ich glaube, du hast keine Ahnung, wie stark die Wirkung von Propaganda auf die breite Masse sein kann, denn Darkover hat keinerlei Erfahrung mit einem pausenlosen Nachrichtenfluss, der nur das verkündet, was die Bürger nach dem Willen ihrer Regierung wissen sollen. Aber es ist in der menschlichen Geschichte immer wieder geschehen, wie ein ständig wiederkehrender Albtraum.«
»Erzähl mir davon.« Mikhail sah, wie Donal hinter seinem Schwiegervater Haltung annahm, und wusste, sein Friedensmann hörte aufmerksam zu. Er empfand einen Anflug von Freude, die noch größer wurde, weil sie völlig unerwartet kam. Donal hatte sich klugerweise Danilo Syrtis-Ardais zum Vorbild genommen und bereits erkannt, dass seine Aufgabe weit mehr umfasste, als nur Leib und Leben von Mikhail Hastur zu schützen. Im Laufe der Zeit und durch Erfahrung würde Donal gewiss zu einem klugen Berater werden. Zu Mikhails Erstaunen tröstete ihn dieser Gedanke mehr, als er für möglich gehalten hätte.
Lew Alton ließ eine Art Knurren hören, ein vertrautes Vorspiel, bevor er zu Erklärungen ansetzte. Seltsamerweise beruhigten die Gewöhnlichkeit dieses Geräuschs und die Erwartung der folgenden Rede Mikhails strapazierte Nerven. Wenigstens das war gleich geblieben. »Als Erstes verkündet jemand, der an der Macht ist, alles würde rapide den Bach runtergehen, und schuld daran sei irgendeine Gruppe, ein Stamm oder eine Oppositionspartei. Die Sitten würden verfallen oder Eltern ihre Kinder nicht anständig erziehen. Sie behaupten, die Antwort liege in einer Reform, alle müssten sich gemäß einem Ideal verhalten, das zu ihren Vorstellungen von einer guten Gesellschaft passt. Sie verlangen absolute Konformität, und jeder, der sich nicht fügt, wird als potenzieller Feind betrachtet, wenn nicht sogar als regelrechter Verräter. Das ist zu unseren Lebzeiten so passiert, zum Beispiel vor dreißig Jahren auf Benda V.«
»Von diesem Planeten habe ich noch nie etwas gehört.« Die Föderation hatte mehrere hundert Mitglieder, und Mikhail hatte sich nur mit zwanzig oder dreißig davon ausführlich beschäftigt. Doch obwohl er für jemanden, der Darkover nie verlassen hatte, ziemlich gut informiert war, kam er sich jedes Mal schrecklich unwissend vor, wenn die Sprache auf einen Planeten kam, den er nicht kannte. Das war reichlich kindisch, denn es gab unglaublich viele Planeten in der Föderation, und selbst weit gereiste Leute wie Marguerida und Lew wussten nicht über alle Bescheid.
»Das überrascht mich nicht, denn es ist eine ziemlich abgelegene Welt. Soweit ich mich erinnere, ist Folgendes passiert: Der orthodoxe Hohepriester verkündete, er habe ein Vision von Gott gehabt, und der einzige Weg, den Planeten vor äußerster Zerstörung zu bewahren, bestehe in einem heiligen Krieg gegen die Mitglieder der Kirche von Elan, den Rivalen der Orthodoxen, die auf Benda sehr einflussreich geworden waren. Man beschuldigte sie aller möglichen Taten, vom Vergiften des Getreides bis zur Ermordung der orthodoxen Säuglinge, deren Blut sie angeblich tranken. Und da die Orthodoxen die Medien kontrollierten, endete das Ganze in einem planetenweiten Blutbad. Rund sechzig Millionen Leute wurden in einem Zeitraum von drei Monaten ermordet – Männer, Frauen, Kinder.«
Mikhail war bestürzt. »Aber hat die Föderation denn nicht eingegriffen? Ich dachte, so etwas erwartet man in solchen Situationen von ihr?«
»Ja, ich weiß. Mit den Steuern, die man von den Planeten der Föderation eintreibt, wird angeblich die Raumwaffe unterhalten, die genau solche Ereignisse verhindern soll. Die wirkliche Funktion der Truppe besteht jedoch darin, die terranischen Kassen zu füllen, dafür zu sorgen, dass der Handel nicht gestört wird, die Steuern bezahlt werden und alle Mittel weiterhin nach Terra fließen. Sie haben nicht eingegriffen, weil man entschied, es handle sich um eine planetarische Angelegenheit und keine der Föderation. Und so ist Benda seit drei Jahrzehnten soviel ich weiß ein Gottesstaat, wo jeder jeden beschnüffelt und wo man hingerichtet werden kann, wenn man während der Messe rülpst. Diese Messen nehmen meines Wissens täglich mindestens vier Stunden in Anspruch. Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass daraus große wirtschaftliche Not entstanden ist, denn wenn man den ganzen Tag nicht aus der Kirche kommt, kann man schließlich seine Felder nicht bestellen und seine Waren nicht verkaufen. Zudem hat der Verlust all jener armen Leute, die der Kirche von Elan angehörten, die Sache auch nicht besser gemacht, denn das waren produktive Mitglieder der Gesellschaft.«
»Sechzig Millionen? Das ist dreimal mehr als die gesamte Bevölkerung Darkovers!« Mikhail sah Lew fassungslos an, er konnte nicht glauben, was er da eben gehört hatte. »Und niemand hat versucht, sich zu wehren?«
»Jeder, der es riskiert hat, war so gut wie tot, Mikhail.« Er seufzte wieder, als er die ungläubige Miene Mikhails bemerkte. »Ich weiß, du kannst diese Dinge nicht recht begreifen, weil sie deine Erfahrung übersteigen. Darkover ist eine ganz besondere Welt, und es gehört zum Klügsten, was Regis getan hat, dass er uns aus der Föderation heraushielt, vom Status als geschützter Planet einmal abgesehen.«
»Als ich noch jünger war, dachte ich immer, er tut es, um Leute wie meine Mutter zufrieden oder wenigstens ruhig zu stellen!« Mikhail erlaubte sich ein leises Kichern über den lächerlichen Gedanken, Regis könnte eine so bedeutsame Entscheidung treffen, nur um Javanne Hastur zu besänftigen. Sie gab nie Ruhe, und bald würde sie auf Burg Comyn kommen und ihm das Leben schwer machen. Er hatte im Augenblick nicht das Gefühl, ihren Intrigen und Wutausbrüchen gewachsen zu sein.
Lew nickte, als verstünde er genau, was Mikhail dachte. »Er war der Ansicht, es könnte uns teuer zu stehen kommen, und die darkovanische Kultur würde nicht überleben, wenn wir uns die Werte der Terraner vollständig zu Eigen machten. Die schlichte Wahrheit ist, dass wir die Föderation nicht brauchen. Was meinst du, würde wohl geschehen, wenn die Präsenz der Föderation hier zu Ende ginge, Mik?«
»So weit ich sehe, würden dann keine Raumkreuzer mehr hier landen, und das Krankenhaus im Hauptquartier würde schließen. Die Terraner würden uns keine Miete mehr für den Raumhafen bezahlen. Wobei sie es in den letzten Jahren mit ihren Zahlungen sowieso nicht allzu genau genommen haben.« Nach kurzem Nachdenken fügte er an: »Und Marguerida könnte keinen Kaffee mehr zu astronomischen Preisen besorgen, um sich hin und wieder eine Freude zu machen. Ein Jammer, dass es uns nie gelungen ist, die Pflanze auf Darkover zu kultivieren.« Mikhail hatte sich nie etwas aus Kaffee gemacht, aber er wusste, seine Frau liebte das seltsame, bittere Zeug. »Nichts davon kommt mir direkt welterschütternd vor.«
Lew lachte. »Das ist eine ziemlich gute Einschätzung der Auswirkungen, da die Föderation die Raumfluglinien kontrolliert. Es gibt zwar eine Reihe von interplanetarischen Handelsgesellschaften, aber für interstellare Flüge braucht man die Technologie der Raumkreuzer, und die haben nur die Terraner und hüten sie eifersüchtig. Was das andere betrifft, so läuft der Mietvertrag demnächst aus, und Belfontaine hat mit allen möglichen Tricks versucht, Regis zu Zugeständnissen zu bewegen. Aber das gehört nun mal zu seinem Job.«
Mikhail dachte amüsiert an die Ausreden, die für die verspäteten Zahlungen vorgebracht worden waren. »Regis hat mir von einem Vorschlag Belfontaines erzählt, was den neuen Mietvertrag angeht. Und zwar sollte Darkover die Föderation dafür bezahlen, dass sie hier einen Stützpunkt unterhält, und nicht die Föderation uns. Er fand es zum Schreien.« Es tat weh, sich daran zu erinnern, aber es berührte ihn gleichzeitig. Und es ließ ihn an Regis’ Lächeln denken – sein Lächeln hatte immer zu seinen größten Aktivposten gehört.
»Das stimmt allerdings, und ich werde nie Belfontaines Gesichtsausdruck vergessen, als ich das Vergnügen hatte, ihm mitzuteilen, die Antwort sei ein definitives Nein. Aber welche wirtschaftlichen Folgen hätte der Abzug der Terraner für uns, Mikhail?«
»Keine sehr großen, glaube ich. Die Handelsstadt würde sicherlich einiges an Geschäft einbüßen, und die Freudenhäuser wären nicht gerade glücklich. Lady Marilla könnte ihre Keramik nicht mehr exportieren, aber die Domänen Aillard und Ardais würden auch so überleben. Wir haben eigentlich nicht viel Handel entwickelt, oder? Deshalb wollen uns die Terraner wahrscheinlich als Mitglied statt als geschützten Planeten, denn dann können sie ihre Produkte hier vermarkten. Wir produzieren nicht genügend Nahrungsmittel, um sie exportieren zu können, und wir besitzen nicht genügend Metalle zum Bau von Schiffen und anderen Dingen. Marguerida meint, der Sand oben in den Trockenstädten sei für technische Produkte auf Silikonbasis verwendbar, aber irgendwie kann ich mir keine Fabrik in Shainsa vorstellen. Wenn ich das Verfahren richtig verstehe, würde man außerdem eine Menge Wasser brauchen, und davon gibt es in dieser Region nicht eben reichlich.«
»Nein, und das ist eines der Hauptprobleme, wenn man terranische Methoden übernimmt – die ökologischen Auswirkungen wären enorm, und sie wären verheerend. Du hast nie eine industrialisierte Welt gesehen, ich schon. Die Luft ist voll Rauch und schlechten Gerüchen, und die Leute leben im Elend. Wir haben keine Slums auf Darkover – du weißt nicht einmal, was das ist, hab ich Recht? Glaub mir, Mik, die ärmste Familie auf Darkover lebt besser als viele Leute auf fortgeschrittenen Planeten. Wir sind eine unbedeutende Welt, und dafür sollten wir dankbar sein, denn wenn wir mehr erkennbare Ressourcen hätten, wären wir auch interessanter für Eindringlinge. Man würde unser Holz fallen und an Orte exportieren, von denen wir nie gehört haben, und unsere Ernten nehmen, um Leute auf anderen Planeten zu ernähren, und wenn das Land unsere Bevölkerung nicht mehr unterhält, weil die Flüsse voller Schlick sind, würden sie uns entweder aufgeben oder zwingen, ungeheure Preise für Nahrungsmittel von anderen Planeten zu bezahlen.«
»Du meinst, so etwas ist schon passiert?«
»Auf jeden Fall. Ich weiß von wenigstens zwei Planeten, die durch die Gier der Gesellschaften, denen sie gehörten, fast vernichtet wurden, dann ließ man sie mit einem ruinierten Ökosystem zurück, und die Bevölkerung hatte kaum noch genug zu essen. Und seit ich nicht mehr im Senat bin, sind wahrscheinlich noch einige hinzugekommen.«
»Das kann ich kaum glauben. Wieso? Ich meine, das kommt mir sehr kurzsichtig vor.«
»Genau. Die Föderation wurde durch Expansion am Laufen gehalten, indem man immer neue Planeten suchte, die man ausbeuten konnte. Das war die Politik der letzten hundert Jahre, zehn Jahre hin oder her. Aber in den letzten fünfzig wurde nur noch eine Hand voll bewohnbarer Welten entdeckt – der Rest waren Planeten, auf denen der Aufbau einer neuen Kolonie entweder untragbar teuer wäre oder die so unattraktiv sind, dass man nur Leute dort ansiedeln kann, wenn man sie hinverfrachtet und zwingt, dort zu leben, was ebenfalls ziemlich kostspielig ist. Die grundlegende Idee besagt aber, dass keine Zurückhaltung nötig ist. Das ist das Fundament der expansionistischen Philosophie, nach der unbegrenztes Wachstum nicht nur möglich, sondern auch wünschenswert ist. Sie bleiben blind gegenüber den Tatsachen, nämlich dass immer weniger bewohnbare Planeten in dieser Gegend des Weltraums zur Verfügung stehen. Und weil die Welten, die sie ausbeuten, immer weiter entfernt vom Zentrum der Föderation liegen, wird es zunehmend schwieriger, sie zu regieren, deshalb erfordert es mehr und mehr Mittel, den Kontakt mit ihnen zu halten, und immer längere Reisen mit immer höheren Kosten, um die Rohstoffe nach Terra zu schaffen. Deshalb wollen sie, dass die Mitgliedswelten alles abliefern, was sie haben, und dafür auch noch Steuern zahlen. Die Heimatwelt und ein paar andere Planeten sind zu Schmarotzern bei der restlichen Föderation geworden.«
»Sie zahlen Steuern, wenn sie ihre Lebensmittel nach Terra schicken?« Mikhail wusste, er war müde, aber er war sich nicht sicher, ob er seinen Schwiegervater richtig verstanden hatte.
»Ja.«
»Aber das ist doch Wahnsinn, Lew. Warum sollte irgendwer dafür bezahlen, dass man sein Getreide woandershin schickt?«
»Indem man der Bevölkerung mit Hilfe der Medien weismacht, dass sie einen Nutzen daraus zieht, wenn sie Steuern zahlt und gleichzeitig hungert.«
»Aber welcher Nutzen ...?«
»Man redet den Leuten ein, dass sie durch die Steuern, die sie für den Unterhalt der Raumwaffe zahlen, vor einem imaginären Feind geschützt sind – Aliens, die ohne Frage am Himmel auftauchen werden, um sie zu erobern. Sie sehen nicht, dass der wahre Feind mittlerweile die Föderation selbst ist. Es gibt inzwischen Waffen, die einen Planeten binnen Stunden in flüssige Schlacke verwandeln können, Dinge, die für die Verteidigung gegen diese Phantomrasse entwickelt wurden, aber tatsächlich dafür eingesetzt werden, die Mitgliedswelten auf Kurs zu halten. Das Einzige, was verhindert, dass die ganze Situation in völliges Chaos ausufert, sind die enormen Kosten solcher Dinge – es kostet einen hübschen Batzen, eine Flotte von Schiffen loszuschicken, damit sie einen Planeten zerstört, ganz zu schweigen davon, dass es ein politisches Armutszeugnis darstellt. Es ist sehr schwer, etwas so Monumentales aus den Nachrichten herauszuhalten, und es macht die anderen Welten eher nervös statt gehorsamer. Die Föderation ist zu einer Art Schulhoftyrann geworden, der die kleineren Kinder verprügelt, nur weil er es kann. Und bis jetzt hat die Existenz des Senats und der Abgeordnetenkammer solchen hirnlosen Unternehmungen Beschränkungen auferlegt.«
»Glaubst du, dass dann Elitetruppen der Föderation Thendara besetzen?« Mikhail sagte es halb im Spaß.
»Ich hoffe, nicht. Und eigentlich erwarte ich keinen solchen Anschlag, es sei denn, jemand kommt zu dem Schluss, dass Darkover strategische Bedeutung hat. Nein, die größte Gefahr besteht darin, dass die Föderation zerbricht und dass sich Splittergruppen mit jeweils eigenen Ambitionen nach Macht und Vorherrschaft bilden. Ein planetarischer Gouverneur oder irgendein Provinzkönig mit ein paar erbeuteten Schlachtschiffen könnte ernsthaft zum Problem werden. Oder – noch schlimmer – ein Admiral der Truppe entschließt sich zur Meuterei und zieht los, um seinen eigenen Profit zu machen.« Lew Altons Miene hatte sich verdüstert.
»Wissen die Terraner das?«
»Manche von ihnen sicherlich. Es gibt Leute in der Föderation, die im Lauf der Jahre wahrscheinlich ebenso darüber nachgedacht haben wie ich. Das ist Problem ist jedoch, dass diese Leute keine Macht haben und keine Politik machen. Es ist wahrscheinlich der Albtraum des Generalstabs, dass es einem Planeten gelingen könnte, genügend Waffen in die Hand zu bekommen, um die Sicherheit Terras zu bedrohen. In den letzten fünfzehn Jahren gab es ein paar Aufstände, Planeten, auf denen das Volk rebellierte oder wo der Gouverneur auf eigene Faust handelte. Sie wurden gewaltsam niedergeschlagen, jedoch noch mit so viel Zurückhaltung, dass die Dinge nicht völlig aus dem Ruder liefen. Auch hier war es wieder dem Senat zu verdanken, dass es nicht so weit kam, er hat die Regierungschefin und den Generalstab davon abgehalten, auf zu vielen Welten einen offenen Krieg zu beginnen. Aber ich glaube, du solltest mit Herm reden, denn der hat neuere Informationen als ich.«
»Ja, muss ich wohl. Ich fühle mich einfach noch nicht bereit. Alle Leute erzählen mir seit Jahren, wie mächtig ich bin, weil ich diesen verfluchten Ring besitze«, sagte Mikhail und ballte die Finger im Handschuh zur Faust. »Aber ich fühle mich nicht mächtig. Ich habe weder Regis’ Charme noch seine Schläue und auch nicht seine Erfahrung, obwohl ich mich bemüht habe, möglichst viel von ihm zu lernen.«
»Du wirst deine Sache sehr gut machen, Mikhail. Regis war davon überzeugt, und ich bin es auch.«
»Ich bin froh, dass ich dich als Berater habe, Lew, und Herm ebenfalls. Und vor allem bin ich froh, dass ich nicht über die Aldaran-Gabe verfüge, denn ich glaube, wenn ich in die Zukunft sehen könnte, hätte ich zu viel Angst, um überhaupt noch etwas zu tun. Ich würde gewiss viel geben, wenn ich ein wenig von meiner jugendlichen Sicherheit hätte, anstatt dieser vielen Zweifel.«
»Wenn du keine Zweifel hättest, Mikhail, wäre ich sehr besorgt.«
»Das ist selbst für deine Verhältnisse eine komische Aussage.« Lew war auf ganz Burg Comyn berüchtigt dafür, dass er die empörendsten Ansichten äußerte, als wären es die größten Gemeinplätze.
»Ein Mann, der sich seiner absolut sicher ist, ist viel gefährlicher als einer, der Zweifel hegt. Robert Kadarin war so ein Mann und der alte Dyan Ardais ebenfalls. Sie haben einen hohen Preis für ihren Stolz gezahlt und diese Welt dabei fast zu Grunde gerichtet. Du bist ein besonnener Mensch, und das ist genau das, was wir im Augenblick brauchen.«
»Danke für dein Vertrauen. Es bedeutet mir sehr viel, gerade jetzt.« Er war zu müde, um weiter über die Zukunft nachzudenken. Sie war zu bedeutend und sehr Furcht erregend. Er musste das Thema wechseln, über belanglosere Dinge reden. »Du sagst, Herm hat seine Familie mitgebracht? Hast du sie schon getroffen? Hat man sie auch anständig versorgt?«
»Ich habe auf dem Weg zu dir kurz vorbeigeschaut und sie begrüßt. Da ich das Gefühl hatte, ich sollte die Burg nicht verlassen, habe ich sie von Rafael abholen lassen, und ich glaube, er war froh, weil er auf diese Weise den Klauen Giselas eine Weile entrinnen konnte. Herms Frau, Katherine, ist sehr hübsch, sie stammt von Renney, hat pechschwarzes Haar und ein kräftiges Kinn. Sie hat einen Sohn namens Amaury aus ihrer ersten Ehe – sie ist verwitwet – und sie und Herm haben auch noch eine Tochter, Terése. Ein hübsches Mädchen, und sie sieht Marguerida als Kind so ähnlich, dass es mir einen Stich ins Herz versetzte. Sie sind alle erschöpft, und ich vermute, Katherine und die Kinder sind einigermaßen verängstigt von der Aussicht, den Rest ihres Lebens im Exil auf Darkover zu verbringen. Herm dagegen ist anscheinend froh, wieder daheim zu sein – und ich verstehe sehr gut, wieso!«
»Renney? Wieso kommt mir dieser Planet so bekannt vor?«
»Weil Korniel, einer von Margueridas Lieblingskomponisten, vor langer Zeit dort zur Welt kam. Es ist ebenfalls ein geschützter Planet und hat schon zahlreiche Aufstände und Rebellionen erlebt. Es gibt dort eine starke Bewegung der so genannten Separatisten, die von Zeit zu Zeit Ärger machten, als ich noch im Senat war. Renney wurde vor mehreren hundert Jahren von Kolonisten aus Avalon, Neukaledonien und einigen anderen Plätzen besiedelt, und damit ist mein Wissen über den Planeten auch schon erschöpft, außer dass er sehr schön sein soll.«
»Ich muss sie willkommen heißen.« Regis hätte bestimmt gewollt, dass er sie begrüßte. Abgesehen davon hatte er Herm seit Jahren nicht gesehen und wollte sich mit dem alten Knaben neu bekannt machen. Aber angewidert musste Mikhail feststellen, dass er beim besten Willen nicht einmal diese kleine Höflichkeitsgeste in Angriff nehmen konnte.
Lew schüttelte den Kopf. »Was du jetzt brauchst, ist ein Bad, ein wenig Schlaf und vielleicht eine anständige Mahlzeit. Marguerida hat die Aldarans mit allem versorgen lassen, und sie plant für morgen Abend ein Essen für sie. Bis dahin hast du nichts weiter zu tun, als dich auszuruhen. Burg Comyn wird ganz gut ein, zwei Tage ohne dich auskommen. Die Welt ist mit Regis’ Tod nicht stehen geblieben.«
»Mag sein, aber warum fühlt es sich dann so an?«
Beide Männer hatten Tränen in den Augen, als sie sich erhoben. Lew blies die Kerzen aus und dämpfte das Feuer. Dann standen sie noch eine Weile Schulter an Schulter, vereint in dem Wunsch, ihre Welt durch die schweren Zeiten zu führen, die vor ihnen lagen. Schließlich öffnete Donal die Tür, und sie verließen den Raum.