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Jaelle n’ha Melora
ОглавлениеJaelle träumte ... Sie ritt unter einem seltsamen, unheimlichen Himmel dahin, der wie vergossenes Blut auf dem Sand des Trockenlandes war ... Fremde Gesichter umgaben sie, Frauen ohne Ketten, ungebunden, die Art von Frauen, über die ihr Vater immer spottete, zu denen ihre Mutter aber einmal gehört hatte ... Ihre Hände waren gefesselt, aber mit Bändern, die zerrissen, so dass sie nicht wusste, wohin sie gehen sollte, und irgendwo schrie ihre Mutter, und Schmerz raste durch ihr Gehirn ...
Nein. Es war ein Rasseln, ein irgendwie metallisches Geräusch, und ein gleißendes gelbes Licht schnitt durch ihre Augenlider. Dann kam ihr zu Bewusstsein, dass Peters Lippen ihre Schulter berührten, während er sich über sie beugte und den schmetternden Ton abstellte. Jetzt erinnerte sie sich; es war ein Signal, eine Weckglocke, wie sie sie bei ihrem einzigen Besuch im Gästehaus des Klosters von Nevarsin gehört hatte. Aber ein so hartes und mechanisches Geräusch konnte nicht mit den lieblich klingenden Klosterglocken verglichen werden. Der Kopf tat ihr weh. Ihr fiel die Feier im Erholungszentrum des Terranischen HQ ein, bei der sie Peters Freunde kennen gelernt hatte. In der Hoffnung, dadurch ihre Scheu vor all diesen Fremden zu verlieren, hatte sie von dem ungewohnten starken Alkohol mehr getrunken, als es ihre Absicht gewesen war. Jetzt war der ganze Abend nur noch ein Wirrwarr von Namen, die sie nicht aussprechen konnte, und von Gesichtern, mit denen sich für sie keine Namen verbanden.
»Beeile dich lieber, Schatz«, drängte Peter. »Du willst doch nicht an deinem ersten Arbeitstag zu spät kommen, und ich kann es mir nicht leisten – ich habe schon eine schwarze Marke in meiner Personalakte.«
Peter hatte die Brause angestellt gelassen. Jaelles Rücken schmerzte von dem ungewohnten Bett; sie war sich nicht sicher, ob es zu hart oder zu weich war, auf jeden Fall hatte es sich nicht richtig angefühlt. Sei nicht albern!, schalt sie sich selbst. Sie hatte schon an allen möglichen fremden Orten geschlafen. Bestimmt würde eine eiskalte Dusche sie richtig aufwecken und erfrischen. Zu ihrer Überraschung war das Wasser jedoch warm und machte eher matt als munter, und ihr wollte nicht einfallen, wie man es kälter stellte. Immerhin war sie jetzt wach und konnte sich anziehen.
Von irgendwoher hatte Peter eine HQ-Uniform für sie besorgt. Jaelle kämpfte sich hinein in die Strumpfhosen, in denen sie sich so unbehaglich fühlte, als seien ihre Beine nackt, in die albernen dünnen, nicht einmal bis zum Knöchel reichenden Schuhe und die kurze schwarze, blau paspelierte Jacke. Peters Jacke sah ebenso aus, nur dass sie rot paspeliert war. Er hatte ihr erklärt, was die verschiedenen Farben bedeuteten, aber sie hatte es vergessen. Die Jacke war so eng, dass sie sie nicht über den Kopf ziehen konnte, und sie grübelte eine ganze Zeit darüber nach, warum man den langen Verschluss im Rücken angebracht hatte, wo es ihr Schwierigkeiten machte, ihn zu erreichen, statt vorn, wie es vernünftig gewesen wäre. Überhaupt, wer wünschte sich ein so enges Kleidungsstück? Weiter geschnitten und mit den Säumen, die sich zusammendrücken ließen, vorn, wäre es ungemein praktisch für eine Frau gewesen, die ein Kind nährte. So, wie es war, stellte es eine Verschwendung von Material dar – ein paar Zentimeter loser sitzend, und es hätte sich über den Kopf ziehen lassen und überhaupt keinen Verschluss gebraucht. Es fühlte sich rau an ihrer Haut an, denn eine Unterjacke hatte sie nicht bekommen, aber wenigstens besaß das Ding einen warmen gestrickten Kragen und anliegende Ärmel. Stirnrunzelnd musterte Jaelle sich im Spiegel. Peter, bereits angekleidet, trat hinter sie, fasste sie bei den Schultern, bewunderte ihr Spiegelbild und presste sie dann eng an sich.
»Du siehst hinreißend in Uniform aus«, sagte er. »Sobald sie dich zu sehen bekommen, werden mich alle Männer im HQ um dich beneiden.«
Jaelle wand sich innerlich; ihre Ausbildung hatte darauf gezielt, genau das zu vermeiden. Der Stoff schmiegte sich unschicklich eng um die Kurven ihrer Brüste und ihrer schmalen Taille. Sie machte sich Sorgen, aber als Peter sie zu sich herumdrehte und an sich zog und sie ihr Gesicht an seiner Schulter verbarg, schien in seinen Armen die ganze Anspannung aus ihr hinauszufließen. Sie seufzte und murmelte: »Ich wünschte, du müsstest nicht gehen ...«
»Mmmmmm, das wünschte ich auch.« Er liebkoste sie, grub seine Lippen in ihren bloßen Hals – hob dann abrupt den Blick und starrte das Chronometer an der Wand an.
»Autsch! Sieh mal, wie spät es ist! Ich sagte ja schon, ich wage es nicht, an diesem ersten Tag, den ich wieder zurück bin, zu spät zu kommen.« Er wandte sich zur Tür. Jaelle wurde es trotz der warmen Dusche eiskalt, als er sagte: »Tut mir Leid, Liebling, ich bin spät dran, aber du findest doch den Weg, nicht wahr? Wir sehen uns heute Abend.« Die Tür schloss sich, und Jaelle stand allein da. Immer noch erregt von seiner Berührung und seinem Kuss, stellte sie fest, dass er nicht einmal auf die Beantwortung seiner Frage gewartet hatte. Jaelle war sich überhaupt nicht sicher, ob sie durch das erschreckende Labyrinth des Hauptquartiers in das Büro hinunterfinden würde, wo sie sich heute Morgen melden sollte.
Blind starrte sie auf das Chronometer und versuchte, die terranische Zeit in die vertrauten Stunden des Tages zu übersetzen. Wenn sie richtig rechnete, war es noch nicht einmal drei Stunden nach Sonnenaufgang. Ihr fiel eine Neckerei Magdas ein: Ich glaube nicht, dass es dir in der Terranischen Zone besonders gefallen wird. Dort wird manchmal sogar nach der Uhr geliebt.
Doch auch sie hatte heute Morgen Pflichten. Sie konnte nicht hier stehen bleiben und verlegen ihr Spiegelbild angaffen. Andererseits vermochte sie sich nicht vorzustellen, dass sie in diesem unanständig engen Gewand zwischen fremden Männern – Terranern! – herumlief. Nicht einmal eine Prostituierte würde so angezogen ausgehen! Mit zitternden Händen löste sie den Verschluss der Jacke und zog ihre normalen Kleider an. Die Uniform war außerdem für das Spätfrühlingswetter draußen nicht warm genug. Innerhalb des Gebäudes, das zu fast erstickender Wärme aufgeheizt war, mochte sie genügen, aber Jaelle musste nach draußen gehen. Sie nahm sich die kleine Karte des HQ vor, die Peter ihr dagelassen hatte, und bemühte sich, Sinn in den unvertrauten Markierungen zu finden.
Im morgendlichen Nieselregen erschauernd, suchte sie sich den Weg bis zum Hauptgebäude und zeigte dort den vorläufigen Pass, den Peter ihr gegeben hatte. Der Sicherheitsmann sagte: »Mrs. Haldane? Sie hätten bei diesem Wetter durch den unterirdischen Tunnel gehen sollen.« Jaelle sah sich um und stellte fest, dass sich tatsächlich kein Mensch auf den verwickelten Gehwegen und Rampen befand.
Es gelang ihr, die Hinweisschilder zu enträtseln. Peter hatte ihr einen Schnellkurs im Lesen der häufigsten Zeichen verpasst, und sie hatte ein bisschen Terra-Standard gelernt, das sich von Casta gar nicht so sehr unterschied – irgendjemand hatte ihr einmal erzählt, dass beides einer gemeinsamen Sprachfamilie angehört habe, bevor Darkover besiedelt worden war, und dass Casta der gebräuchlichsten terranischen Sprache ähnlich sei. Es widerstrebte ihr, jemanden von den Männern und Frauen, die in den Kaninchengehegen der Gebäude umherliefen, nach dem Weg zu fragen. Sie sahen in ihren Strumpfhosen, den Jacken in verschiedenen Farben und den ausgeschnittenen, dünnen Sandalen alle gleich aus. Jaelle fuhr zwei- oder dreimal im Aufzug hinauf und hinunter, bis sie herausgefunden hatte, wie er funktionierte. Es war gar nicht kompliziert, wenn es nur zu verstehen gewesen wäre, warum die Leute sich die Mühe machten. War eine Lähmung der Beine eine rassisch bedingte Krankheit bei den Terranern, so dass sie keine Treppen benutzen konnten? Sicher waren Aufzüge sinnvoll, wenn ein Gebäude zwanzig oder dreißig Stockwerke besaß, aber warum wurde es so hoch gebaut? Die Terraner hatten mit ihrem Raumhafengelände doch Platz genug erhalten, um vernünftig zu bauen!
Zumindest stimmte mit Peters Beinen alles, dachte sie lächelnd. Vielleicht waren die Terraner einfach gewohnheitsmäßig faul.
Vor dem Eingang zu der Abteilung, die Peter auf der Karte markiert hatte – es gab dort außerdem ein Schild, auf dem, wie sie erkannte, das terranische Wort für KOMMUNIKATION stand –, stellte sich Jaelle einem dort Wache haltenden Mann vor. Sie sagte: »Mein Name ist Jaelle n’ha Melora«, und hielt ihm ihren Pass hin.
»Treten Sie bitte vor den Bildschirm und stecken Sie den Pass in den Schlitz«, antwortete er gleichgültig. Jaelle steckte den Pass in den Schlitz, und der Glasschirm begann, mit einem merkwürdigen Piepen zu flackern.
»Was ist los?«, fragte der Mann.
Hilflos stand Jaelle vor dem blinkenden, piependen Schirm.
»Ich weiß es nicht ...«, begann sie. »Mein Pass ist wieder herausgekommen ...« Bestürzt zog sie ihn aus dem Schlitz.
Der Mann betrachtete den Pass und den Bildschirm. Stirnrunzelnd meinte er: »Sie tragen keine Uniform, und die Kamera erkennt Sie nach dem Bild nicht – verstehen Sie? Und der Name, den Sie nannten, stimmt nicht mit dem Namen auf dem Pass überein, Miss.« Jaelle nahm das letzte Wort für eine höfliche Anrede, ähnlich Damisela. Sollte sie ihn verbessern? Er zeigte geduldig auf den Namen, der im Pass stand. »Sie müssen den Namen in der Form wiederholen, wie er hier angegeben ist. Verstehen Sie? Haldane, Mrs. Peter. Versuchen Sie, es so zu sagen.«
Sie wollte protestieren, ihr Name sei Jaelle, einer Entsagenden sei es aufgrund ihres Eides verboten, den Namen eines Mannes zu tragen, aber sofort überlegte sie es sich anders. Den Wachposten ging es nichts an, und wie sollte sie es überhaupt einem Terraner erklären? Gehorsam wiederholte sie »Haldane, Mrs. Peter« vor dem Schirm, und die Tür glitt zurück und ließ sie ein. Sie erinnerte sich, dass einige von Peters Freunden – nicht die besten Freunde – sie gestern Abend Mrs. Haldane genannt hatten und sie sie hatte korrigieren müssen. Aber war das nicht auch Magdas Name?
Sie trat in einen großen, hellen Raum mit dem allgegenwärtigen gelben Licht. Entlang der Wand standen seltsame, ihr unbekannte Maschinen. Eine junge Frau erhob sich hinter einem schmalen Tisch, um sie zu begrüßen.
»Ich bin Bethany Kane«, sagte sie. »Du musst Jaelle sein.« Ihr Cahuenga, die Sprache der Handelsstadt, war so schlecht, dass Jaelle kaum ihren eigenen Namen verstand. Bethany führte sie an einen Tisch mit Glaspaneelen und merkwürdigen Ausrüstungsgegenständen. »Du kannst deine Sachen hier lassen. Dann gehen wir gleich nach oben; ich soll dich zur Verwaltung und zur Medizinischen Abteilung bringen.«
Man merkte nur zu deutlich, dass es eine vorher auswendig gelernte Ansprache war. Jaelle hatte offensichtlich keine »Sachen«, die sie hätte dalassen können, und die junge Frau machte den Eindruck, als hätte sie gern mehr gesagt, könne aber nicht. Einem Impuls folgend, erwiderte Jaelle auf Casta: »Magda erzählte mir von ihrer Freundin Bethany – bist du das?«
Bethany war eine kleine Frau mit mittelbraunem Haar und braunen Augen – wie Tieraugen, dachte Jaelle –, und sie sah in der alle Kurven nachzeichnenden terranischen Uniform verführerisch aus. Wie konnte sich die Frau in einem Büro, wo Männer und Frauen gemeinsam arbeiteten, so zur Schau stellen! Wären nur Frauen zugegen gewesen, hätte es vielleicht nicht so – Jaelle suchte nach dem Wort – so absichtlich provozierend gewirkt. Aber diese Frauen gingen ganz ungezwungen mit den Männern um, und niemand schien ihre Aufmachung zu bemerken. Während sie an einer ganzen Reihe von Türen mit den jeweiligen Wachposten entlanggingen, nahm sich Jaelle vor, später darüber nachzudenken. Ihr war, als führe Bethany, die ihren Pass an sich genommen hatte, sie unter Zuhilfenahme von Tunnels und Aufzügen durch Meilen und Meilen von Korridoren. Bis sie ihr Ziel erreicht hatten, taten Jaelle die an fest verschnürte Stiefel gewöhnten Füße in den Sandalen weh. Sie verwarf ihre Theorie, Terraner seien faul. Wenn sie so viel herumrasen mussten, brauchten sie ihre Aufzüge und Rolltreppen vielleicht wirklich.
Die nächsten Stunden waren die verwirrendsten ihres Lebens. An einer Stelle blitzten Lichter und blendeten ihre Augen, und gleich darauf rutschte aus einem Schlitz ein beschichtetes Kärtchen mit einem Bild, auf dem Jaelle sich erst gar nicht erkannte. Es zeigte eine kleine, ernst blickende rothaarige Frau mit etwas ängstlichen Augen. Bethany sah, wie sie beim Betrachten des Bildes das Gesicht verzog, und lachte.
»Oh, so sehen wir alle auf Passfotos aus, als wären wir fürs Verbrecheralbum aufgenommen worden. Das muss an der Beleuchtung und an der Pose liegen. Du müsstest mal meins sehen!« Jaelle erwartete, jetzt werde sie es ihr zeigen, aber das tat sie nicht. Also war es wohl eine bildliche Redensart gewesen, eine soziale Geste. Dann befragte sie ein älterer Herr, rund und gutmütig, der das Darkovanische ausgezeichnet beherrschte, sie lang und breit über ihren Geburtsort (»Shainsa? Wo genau liegt denn das?«, wollte er wissen und brachte Jaelle tatsächlich dazu, den Weg zwischen den Trockenstädten und Thendara zu skizzieren), ihr Alter und ihr Geburtsdatum. Er bat sie mehrmals, ihren Namen zu nennen, und fand dafür eine genaue Umschreibung. Das, so meinte er, werde anderen helfen, ihn korrekt auszusprechen. Jaelle fragte sich, warum er es den anderen nicht einfach sagte oder einen dieser überall herumstehenden Stimmaufzeichner benutzte – es hatte sie sehr erschreckt, als aus einem von ihnen plötzlich ihre eigene Stimme gekommen war. Doch sie hatte gewusst, dass es hier viele ihr fremde Dinge geben würde. Einmal redete er sie mit »Mrs. Haldane« an, und als sie ihn korrigierte, lächelte er milde und meinte: »Das ist Landesbrauch, mein liebes Mädchen.« Er benutzte den Ausdruck, der bei einem Darkovaner von beleidigender Intimität gewesen wäre, auf so väterliche Art, dass er Jaelles Sympathie gewann, statt bei ihr Anstoß zu erregen. »Vergessen Sie nicht, junge Frau, Sie befinden sich jetzt unter terranischen Barbaren, und Sie müssen uns unsere Stammesbräuche zugestehen. Es ist einfacher für die Akten. Sie teilen sich die Wohnung mit Haldane, nicht wahr? Na, da haben Sie es.«
»Ja, aber ich bin eine Entsagende, und bei uns ist es nicht Brauch, den Namen des Mannes zu tragen ...«
»Wie ich sagte, es ist unser Brauch«, antwortete der Mann. »Gibt es bei Ihnen ein Sprichwort des Sinnes: ›Wenn du in Rom bist, verhalte dich wie ein Römer‹?«
»Wer waren die Römer?«
»Gott weiß es; ich weiß es nicht. Irgendein altes territoriales Volk, könnte ich mir vorstellen. Es ließe sich übersetzen: ›Wenn du unter Barbaren lebst, folge ihren Bräuchen, so gut du kannst.‹«
Jaelle dachte darüber nach und spürte, dass sich ihr Gesicht zum Lächeln verzog. »Ja, wir sagen: ›Wenn du in Temora bist, iss Fisch.‹«
»Wie ich mich entsinne, liegt Temora am Meer«, überlegte er. Dann begann er, mit bemerkenswert flinken Fingern auf der seltsamen Tastatur zu tippen – Jaelle hoffte, man werde von ihr nicht verlangen, eine Maschine zu benutzen, die eine solche Geschicklichkeit erforderte –, und lautlose Lichter flossen über eine Glasplatte vor ihm. Ein Piepton war zu hören, und der Mann hob seinen Blick von den Signallampen.
»Das habe ich vergessen. Beth, sind Sie so nett und besorgen mir ihre Abdrücke?«
»Finger oder Retina oder beide?«
»Beide, denke ich.«
Bethany brachte Jaelle zu einer anderen Maschine und führte ihre Hand an eine flache Glasplatte, die Lichter aufflammen ließ. Dann musste Jaelle das Gesicht in eine Öffnung stecken, die eine Stütze für das Kinn hatte. Sie zuckte erschrocken zurück, als die Lichter ihren Augen wehtaten. Beth redete ihr zu: »Nein, halte den Kopf still und die Augen offen. Wir nehmen Retinaabdrücke der eindeutigen Identifikation wegen. Fingerabdrücke können manchmal gefälscht werden, Retinamuster nie.«
Es waren zwei weitere Versuche erforderlich, bis Jaelle die unwillkürliche Reaktion, zurückzuzucken und die Augen zuzukneifen, unterdrücken konnte. Schließlich steckte man ihr ein Kärtchen an die Jacke, auf dem in einer Ecke ihr Bild und ansonsten die merkwürdigen Krakel zu sehen waren, die, wie man ihr sagte, kodierte Abdrücke darstellten.
Bethany meinte: »Du musst die Uniform einfach tragen, weißt du. Du hast heute schon zweimal bei den Monitoren den Alarm für unbefugtes Eindringen ausgelöst – sie sind darauf programmiert, Leute ohne Uniform zu melden. In den Jackenkragen ist ein Kode eingelassen.« Sie führte Jaelles Finger an eine raue Stelle im Stoff. Jaelle hatte gedacht, der Kragen sei zerrissen und repariert worden, aber offenbar musste das wohl so sein.
»Glücklicherweise hat uns der Mann, der am Haupteingang deinen Pass gesehen hat, gewarnt, du trügest heute keine Uniform. Aber willst du sie bitte morgen wie ein braves Mädchen anziehen? Das macht alles so viel einfacher.«
Einfacher, ja! Alle sehen gleich aus wie lauter bemalte Spielzeugsoldaten aus einer Schachtel!
»Ich weiß, Sie arbeiten unter Lorne«, ergriff der Mann wieder das Wort. »Aber sie konnte auf ihren Dienstgrad pochen, wenn sie darkovanische Kleidung trug.« Lorne war natürlich der Name, den Magda im HQ benutzte. Der Rest war Jaelle unverständlich, ausgenommen die Anweisung, dass sie – aus irgendeinem seltsamen Grund, vielleicht eines abergläubischen Rituals wegen – die Uniform zu tragen hatte, damit sie innerhalb des Gebäudes keinen Alarm auslöste. Wahrscheinlich war es nicht wert, lange darüber zu diskutieren.
»Heute, an Ihrem ersten Tag, ist es nicht so schlimm«, setzte der Mann hinzu, »aber morgen kommen Sie in Uniform, ja? Und tragen Sie jederzeit das Abzeichen. Es identifiziert Ihre Abteilung und Ihr Gesicht.«
Jaelle fragte: »Warum muss ich die Aufzeichnung meines Gesichts tragen, wo ich doch mein Gesicht selbst mit mir führe?«
»Damit wir sehen, ob Ihr Abzeichen Ihrem Gesicht entspricht, und keine unbefugte Person in Sicherheitsgebiete gelangt«, antwortete der Mann, und Jaelle verzichtete auf die Frage, aus welchem Grund jemand den Wunsch haben sollte, einen Ort aufzusuchen, wo er nichts zu tun hatte. Es war schließlich nicht so, als gäbe es hier drinnen irgendetwas Interessantes zu sehen.
»Bringen Sie sie zur Medizinischen hinauf, Beth, wir sind fertig mit ihr«, sagte der Mann. »Viel Glück, Mrs. Haldane – Jaelle, meine ich. Wo wird sie arbeiten, Beth? Ins Büro des Chefs kann man sie nicht gut stecken, er neigt dazu ...« – der Mann zögerte – »... unhöfliche Bemerkungen über die Herkunft mancher Leute zu machen.«
Jaelle fragte sich, ob der Mann sie für taub oder schwachsinnig hielt. Sie hatte Montray kennen gelernt, und niemand mit einem Anflug von telepathischen Fähigkeiten konnte daran zweifeln, dass er Darkover und die Darkovaner nicht mochte. Immerhin hatte der Mann hier ihre Gefühle schonen wollen, und das war die erste Höflichkeit, die ihr von einem Terraner widerfuhr. Sie waren oft freundlich, selten höflich. Jedenfalls nicht in der Art, die sie als Höflichkeit verstand; anscheinend hatten sie andere Vorstellungen davon. Erst als sie wieder draußen im Flur waren, fiel Jaelle auf, dass sie zwar eine große Menge Fragen über sich selbst beantwortet hatte, doch niemand auf den Einfall gekommen war, ihn ihr vorzustellen. Seinen Namen hatte sie bis zum Schluss nicht erfahren.
»Nächste Station ist die Medizinische«, bemerkte Bethany. Jaelle kannte das terranische Wort mittlerweile nach den langen Debatten, ob es Entsagenden erlaubt werden könne, sich zu medizinisch-technischen Assistentinnen ausbilden zu lassen. Sie protestierte: »Ich bin nicht krank!«
»Vorschrift«, sagte Bethany. Diese Antwort hatte Jaelle an dem Tag schon so oft erhalten, dass sie darin, obwohl sie die eigentliche Bedeutung noch nicht herausgefunden hatte, eine rituelle Entgegnung sah, die die Diskussion abschneiden sollte. Nun, ihr war gesagt worden, es sei unhöflich, nach den religiösen Ritualen anderer zu fragen, und die Terraner mussten ein paar sehr seltsame haben.
Diesmal ging es höher hinauf als zuvor. Jaelle erhaschte zufällig einen Blick aus einem Fenster und schüttelte sich unwillkürlich. Sie mussten so hoch sein wie auf dem Scaravel-Pass. Schwindelig klammerte sie sich an das Treppengeländer. Sollte damit ihr Mut geprüft werden? Nun, eine Frau, die sich von Schneestürmen in den Hellers und Banshees auf den Gebirgspässen nicht hatte unterkriegen lassen, würde nicht wegen bloßer Höhe jammern. Merkwürdig, Bethany schien sie nichts auszumachen.
In diesem Stockwerk wurde eine andere Uniform getragen, und da Jaelle sich vorgenommen hatte, diesmal bei jedem merkwürdigen Ritual mitzumachen, widersetzte sie sich nicht, als man ihr ihre Amazonenkleidung aus Wolle und Leder auszog und sie in einen weißen Kittel aus Papier steckte. Die Leute, die hier arbeiteten, trugen alle das gleiche Abzeichen an ihren Jacken, einen Stab, um den sich so etwas wie eine Schlange ringelte. Ob das Arbeitsabzeichen bei den Terranern die Embleme von Clan und Familie ersetzt hatte? Jaelle saß auf Bänken herum und wartete, dass eigentümliche Prozeduren an ihr vorgenommen wurden. Maschinen tasteten an ihr herum und stachen sie mit Nadeln in den Finger. Davor zuckte sie zurück, und Bethany erklärte: »Sie wollen sich dein Blut unter einem ...« – Jaelle verstand das Wort nicht – »... ansehen.« Sie setzte erläuternd hinzu: »Ein spezielles Glas, mit dem man die Zellen in deinem Blut sehen – sich vergewissern kann, dass es gesundes Blut ist.« Sie schoben ihr ein Glasplättchen in den Mund, wickelten sie von der Brust bis zu den Knien in ein schweres, metallbeschichtetes Tuch und ließen sie mit der Maschine allein. Die Maschine begann zu summen, und Jaelle erschrak und riss den Kopf zurück. Die junge Technikerin, ein Mädchen etwa in Jaelles Alter mit hellem, lockigem Haar, machte eine ärgerliche Bemerkung, und wieder erklärte Bethany hastig, es solle nur ein Bild von Jaelles Zähnen gemacht werden, um festzustellen, ob sie Löcher oder beschädigte Wurzeln hätten.
»Sie hätten mich fragen können«, gab Jaelle gereizt zurück. Aber beim nächsten Versuch hielt sie den Atem an und rührte sich nicht. Die Technikerin betrachtete die Platte mit den abgebildeten Zähnen und sagte zu Bethany, so etwas habe sie noch nie gesehen.
»Sie sagt, deine Zähne seien perfekt«, übersetzte Bethany, und Jaelle, die sich irgendwie gekränkt fühlte, meinte, das hätte sie ihnen gleich sagen können.
Dann kamen sie in einen Raum voller Maschinen. Der Mann, der sich um diese Maschinen kümmerte, sprach besser Darkovanisch als alle anderen, den Mann ausgenommen, der sie in dem Zimmer, wo sie fotografiert worden war, so lange befragt hatte. Er forderte Jaelle auf: »Treten Sie hinter die Vorhänge dort und legen Sie alle Ihre Kleider ab. Ziehen Sie sich bis auf die Haut aus. Dann kommen Sie an jenem Ende heraus und gehen sofort da hinunter, an dem aufgemalten weißen Streifen entlang. Verstanden?«
Jaelle sah ihn entsetzt an. Ein gutes Drittel der Techniker an den Maschinen waren Männer!
»Ich kann nicht.« In panischer Angst umklammerte sie Bethanys Arm. »Meint er wirklich, ich soll vollständig nackt durch all diese Maschinen gehen?«
»Die Maschinen tun dir nichts«, antwortete Bethany. »Das sind die neuen computerisierten Aufnahmegeräte, keine Röntgenstrahlen, nichts, was dir oder deinen Genen schaden könnte. Ich gehe als Erste und zeige es dir, ja?« Sie steckte den Kopf hinaus, sagte etwas auf Terranisch zu den Technikern und übersetzte für Jaelle: »Ich habe ihnen gesagt, ich würde als Erste gehen, um dir zu zeigen, dass es nicht wehtut.« Sie zog sich aus, und Jaelle sah ihr interessiert zu. So also wird man mit dem Verschluss im Rücken fertig? Reißen die Strumpfhosen wirklich so leicht, dass sie so Acht gibt, nicht mit den Fingernägeln hineinzugeraten?
»Programmieren Sie den Metalldetektor auf die Füllungen in meinen Zähnen, Roy. Das letzte Mal hat er mich angepiept, und man hat mich den halben Vormittag hin- und zurückmarschieren lassen.«
»Füllungen in den Zähnen, geht in Ordnung.« Der Mann nahm irgendeine Einstellung an der Maschine vor. »Das ist noch gar nichts. Wir hatten neulich Lucy von der Kommunikation hier oben und vergaßen, in den Unterlagen nachzusehen und die Metallnadel in ihrer Hüfte zu programmieren. Da war vielleicht etwas los! Sind Sie so weit, Beth?« Während Bethany splitternackt an den aneinander gereihten Maschinen entlangging, stellte Jaelle fest, dass die Männer sie ignorierten, als sei sie ebenfalls ein Mann oder eine angezogene Frau. Dann kam Bethany zurück und wollte sie aus der Umkleidekabine schieben, aber Jaelle zögerte immer noch.
»Ich sage dir doch, die Maschinen tun dir nicht weh. Das ist nichts als Licht!«
»Aber – das sind Männer ...«
»Das sind Mediziner«, erklärte Bethany. »Du bist für sie nichts weiter als eine Ansammlung von Knochen und Organen. Eine Colles-Fraktur würde sie mehr interessieren als deine Brüste, und wenn sie die herrlichsten des Universums wären. Nun geh schon – du lässt sie warten!«
Jaelle verstand das nicht so ganz. Sie nahm an, Bethany wolle ihr klarmachen, diese Männer – Mediziner? – seien wie Mönche oder Heiler-Priester und an nichts als ihrer Arbeit interessiert. Sie nahm allen Mut zusammen und trat aus der Kabine. Zu ihrer Erleichterung hob niemand, ob männlich oder weiblich, den Blick; alle blieben über die Maschinen gebeugt. Eine der Frauen fragte in fehlerhaftem Darkovanisch: »Haben Sie irgendwelches Metall an sich? Zähne, Ausrüstungsgegenstände, sonst etwas?«
Jaelle spreizte die leeren Hände. »Wo sollte ich das wohl gelassen haben?«, fragte sie, und die Frau lächelte. »Richtig. Gehen Sie dahin – diese Seite – umdrehen. Stehen bleiben. Heben Sie einen Arm. Den anderen.« Jaelle fühlte sich wie ein zahmes Chervine, das Kunststücke vorführt. »Wieder umdrehen – den Arm senken – sehen Sie wohl? Es tut nicht weh ...«
Jaelle zog sich wieder an und fragte Bethany: »Was haben diese Maschinen denn gemacht?«
»Bilder von deinem Inneren, das sagte ich doch. Es verrät ihnen, dass du gesund bist.«
»Und wie ich gesagt habe, hätten sie mich danach nur zu fragen brauchen.« Abgesehen von einer oder zwei in der Schlacht erhaltenen Wunden – während ihrer ersten Jahre in der Gilde hatte sie an Kindras Seite als Söldnerin gekämpft – und einem Bruch des Handgelenks, den sie sich mit sechzehn bei einem Sturz vom Pferd zugezogen hatte, war sie immer vollkommen gesund gewesen.
Dann drückte man sie auf eine Konturenliege und klebte ihr Plättchen an den Kopf. Sie musste eingeschlafen sein, und als sie erwachte, hatte sie tobende Kopfschmerzen, nicht unähnlich jenen, die sie im Alter von fünfzehn Jahren ausgestanden hatte, nachdem Lady Alida sie gezwungen hatte, in ein Matrix-Juwel zu sehen.
»Sie ist sehr resistent«, hörte sie einen Mann sagen, und ein anderer antwortete: »Das ist normal für die eingeborene Bevölkerung. Nicht an eine technologische Umgebung gewöhnt. Beth sagt, sie habe vor den Fluoroskopie-Maschinen zurückgescheut. He – halt den Mund, sie ist schon wach. Können Sie uns verstehen, Miss?«
»Ja, tadellos – oh, jetzt weiß ich es, das ist eine Maschine, die Sprachen lehrt.« Das war gar nichts; die Comyn hätten das mit nichts als einer Matrix und einem gut ausgebildeten Telepathen tun können.
»Kopfweh?« Ohne auf ihre Antwort zu warten, reichte der Mediziner ihr einen kleinen Pappbecher, auf dessen Boden sich etwa ein Löffel voll einer hellgrünen Flüssigkeit befand. »Trinken Sie das.«
Sie trank. Der Mann nahm ihr den Becher ab, zerdrückte ihn in der Hand und warf ihn in einen Abfallsammler. Fasziniert sah Jaelle zu, wie er sich in blassen Schleim verwandelte und im Abfluss verschwand. Eben noch war es ein Becher gewesen, gleich darauf wurde er übergangslos zu einem bisschen Schleim, absichtlich weggeworfen und zerstört. Und doch war er nicht alt oder abgenutzt gewesen, ihre Hand hatte das Gefühl von etwas Glattem, Neuem bewahrt, von etwas Wirklichem. Sie spürte das Ding noch, aber es selbst war verschwunden. Warum? Ein paar Minuten später, als sie ihre eigenen Sachen wieder anzog, sagte Bethany ihr, sie solle ihren Papierkittel in einen Abfallsammler der gleichen Art werfen. Es verwirrte sie, dass Dinge sich auflösten und wegflossen und nicht mehr existierten. Der Mann, der die Sprachenmaschine bediente – sie hatte gehört, dass man sie einen D-Alpha-Kortikator nannte, was sie nicht klüger machte – reichte ihr ein Päckchen.
»Hier sind Ihre Sprachlektionen in Standard für den Rest der Woche«, sagte er. »Bitten Sie Ihren Mann, Ihnen zu zeigen, wie Sie den Schlaflerner benutzen sollen. Dann können Sie allein weitermachen.«
Schon wieder eine Maschine! Auch dieser Mann war ihr nicht vorgestellt worden, aber inzwischen hatte sie sich an Unhöflichkeit gewöhnt und wunderte sich gar nicht mehr, als Bethany sie drängte, sich zu beeilen, da sie sonst zu spät zum Lunch kämen. Sie hatte sich den ganzen Vormittag beeilt, aber die Terraner waren immer in Eile, angetrieben von den Uhren, die sie überall sah, und vermutlich gab es gute Gründe, die Mahlzeiten zu bestimmten Zeiten zu servieren. Vielleicht wollte man die Köche nicht warten lassen. Allerdings waren keine Köche sichtbar, nur Maschinen, und es verwirrte sie, dass sie Knöpfe drücken musste, um Essen zu bekommen, doch sie tat, was Bethany tat. Das Essen war ihr sowieso fremd, dicke Breie und heiße Getränke und milde, texturierte Massen. Die Gabel in ein eigentümlich rotes Zeug steckend, erkundigte Jaelle sich, was es sei, und Bethany zuckte die Schultern.
»Die Ration des Tages; irgendein synthetisches Karbo-Protein, nehme ich an. Was es auch sein mag, es ist angeblich gut für einen.« Dessen ungeachtet aß sie ihre Portion mit Appetit auf, und Jaelle versuchte, wenigstens etwas hinunterzuwürgen.
»Das Essen in der Haupt-Cafeteria ist besser«, erzählte Bethany, »dafür geht es hier schnell. Ich weiß, das war ein langweiliger Vormittag, aber so ist es immer bei einem neuen Job.«
Langweilig? Jaelle dachte an ihre letzte Aufgabe: Mit ihrer Partnerin Rafaella hatte sie eine Handelskarawane nach Dalereuth organisiert. Einen Tag hatten sie für Gespräche mit ihrem Auftraggeber gebraucht. Sie mussten herausfinden, was für Männer und wie viele Tiere er hatte, die Packtiere inspizieren und die Lasten berechnen, die Sattelmacher besuchen und geeignetes Geschirr herstellen lassen. Jaelle hatte die Männer nach ihren Vorlieben beim Essen befragt, hatte Vorräte eingekauft und ihre Auslieferung arrangiert. Monoton vielleicht und harte Arbeit, aber gewiss nicht langweilig!
Die Speisen waren ihr zu ungewohnt, als dass sie viel davon hätte verzehren können, und wäre sie nicht heißhungrig gewesen, nachdem sie heute Morgen ohne Frühstück weggegangen war, hätte sie überhaupt nichts hinunterbekommen. Alles hatte zu wenig Biss, es war zu süß oder zu salzig, und einmal geriet ihr ein Geschmack von so feuriger Bitterkeit auf die Zunge, dass sie spucken musste. Wenigstens versuchte Bethany, freundlich zu sein.
Im Geist alle Ereignisse noch einmal durchgehend, stellte Jaelle fest, dass sie immer noch zornig über die Zumutung war, nackt zwischen zwei Reihen von Maschinen hindurchzugehen. Keiner der Männer war beleidigend gewesen, sie hatten keine Notiz davon genommen, dass sie eine Frau war. Aber sie hätten Notiz davon nehmen sollen – nicht etwa, indem sie sie unverschämt ansahen, sondern indem sie anerkannten, dass es ihr peinlich war, sich vor fremden Männern zur Schau stellen zu müssen. Vielleicht hätte man ausschließlich Frauen damit beauftragen können, die Maschinen zu bedienen, nur um zu zeigen, dass man Verständnis für ihre natürlichen Gefühle hatte. Jaelle verabscheute den Gedanken, dass man sie als ein Nichts betrachtete, als eine weitere Maschine, die zufällig lebte und atmete, eine Maschine, die niemand beachtet hätte, wäre da nicht die Tatsache gewesen, dass sie die vorgeschriebene Uniform nicht trug! Eine Ansammlung von Knochen und Organen, hatte Bethany gesagt. Jaelle fühlte sich entpersönlicht, als hätten diese Leute sie, als sie sie wie eine Maschine behandelten, zur Maschine gemacht.
»Zwinge dich nicht, das Zeug zu essen, wenn es dir nicht schmeckt.« Bethany hatte Jaelles Kampf mit den Speisen bemerkt. »Früher oder später wirst du herausfinden, was du magst und was nicht, und in deiner Wohnung kannst du Eingeborenenessen – oh, Verzeihung, ich meine natürlich gekochtes Essen – bekommen, Dinge, an die du gewöhnt bist. Manche Leute ziehen eben synthetische Nahrungsmittel vor – die Alphas, zum Beispiel, weigern sich aus religiösen Gründen, irgendetwas zu essen, das einmal lebendig gewesen ist, weshalb wir für sie eine vollständige synthetische Diät zusammenstellen müssen, und es ist einfacher und billiger, damit das gesamte Personal hier oben zu versorgen. Es schmeckt gar nicht so schlecht, wenn man sich daran gewöhnt hat«, plapperte sie weiter. Jaelle versuchte, sich eine Welt auszumalen, auf der alle Menschen dieses Zeug aßen, nicht weil es bequem oder billig war, sondern weil sie religiöse Skrupel hatten, etwas hinunterzuschlucken, das einmal mit Leben erfüllt gewesen war. Im Grunde zeugte das von einer sehr hoch entwickelten Ethik. Aber sie hatte im Augenblick andere Probleme.
Mittlerweile immun gegen Schocks geworden, warf Jaelle ihren halb geleerten Teller in einen der überall herumstehenden Abfallbehälter und beobachtete, wie der Schleim abfloss. Kein großer Verlust, dachte sie. Wieder in einem der oberen Stockwerke angelangt, überkam sie in einem der großen, fensterlosen Büroräume das Unbehagen einer beginnenden Klaustrophobie. Es störte sie, nicht zu wissen, ob sie sich im vierten oder im vierundzwanzigsten Stock befand. Sie sagte sich, dass sie nicht erwarten dürfe, bei den Terranern werde ihr alles vertraut sein, und wenigstens sei es eine neue Erfahrung. Aber das Hintergrundgeräusch, das die Maschinen erzeugten, hörte nicht auf, an ihren Nerven zu zerren. Bethany wies ihr einen Schreibtisch an.
»Das ist Lornes Platz. Auch wenn sie da ist, benutzt sie ihn nicht oft; sie arbeitet meistens oben in Montrays Büro. Als ich erfuhr, dass du zu uns kommen würdest, ließ ich den Schreibtisch für dich einrichten. Es würde dir nicht gefallen, unter Montray zu arbeiten, er ist ein ...« Jaelle verstand den Ausdruck nicht, der ihn mit einem ihr unbekannten Tier verglich, wohl aber den herabsetzenden Ton. Ihr fiel ein, was sie über ihn in der Medizinischen Abteilung gehört hatte ... Montray war der Mann, dem niemand zutraute, er werde Darkovaner mit normaler Höflichkeit behandeln. Wie, fragte sich Jaelle, war er nur auf diesen hohen Posten gelangt, wenn seine charakterlichen Mängel so extrem waren, dass die Angehörigen seines eigenen Stabes nichts dabei fanden, Bemerkungen darüber auszutauschen? Sie nahm sich vor, Peter zu fragen, denn sie wusste nicht, wie sie die Frage für Bethanys Ohren formulieren sollte, ohne dabei alle möglichen Beleidigungen gegen Terraner im Allgemeinen anklingen zu lassen.
Bethany erklärte ihr im Tempo eines Schnellfeuergewehrs, wie der Stimmschreiber, das Kehlkopfmikrofon und die Löschtaste zu benutzen seien und wie die Wörter auf dem Bildschirm vor ihr entstanden. »Du brauchst sie nicht laut auszusprechen, nur zu subvokalisieren.« Sie drückte eine Taste. »Pass auf – so.«
Auf dem Schirm erschien in blassen Leuchtbuchstaben: »Pass auf – so.« Jaelle schluckte und sprach es langsam nach.
»Wäre es nicht einfacher, wenn ich es der Person, die es wissen soll, sagen würde?«
Bethany zuckte die Schultern. »So könnte man es auch machen, aber wir brauchen die Aufzeichnung für das Archiv – dann kann es sich der nächste und auch der übernächste Einsatzleiter noch nach Jahren in deinen eigenen Worten anhören.«
»Warum sollte es irgendwen in, sagen wir, fünfzig Jahren interessieren, wenn wir nicht mehr da sind und Rumal di Scarp tot ist?«
»Nun, es kommt ins Archiv.« Wieder dieses Wort! »Schon nächste Woche wird deine Erinnerung die Ereignisse verzerrt haben ... Man hätte dich, und ebenso Magda, sofort befragen müssen, nachdem es geschehen war, wenn ich auch einsehe, dass es sich nicht machen ließ ... ihr alle wart den ganzen Winter in Ardais eingeschneit, nicht wahr? Jedenfalls müssen wir alles so klar wie möglich aufzeichnen. Dann haben andere Abteilungsleiter oder sogar Leute auf anderen Imperiumsplaneten Zugang zu der Information, auch in hundert Jahren noch. Die ganze Geschichte kommt in den Dauerspeicher.«
Das brachte doch kein Mensch fertig, dachte Jaelle, mit einer so eiskalten, für die Ewigkeit bestimmten Objektivität zu berichten! Sorgfältig ihre Worte setzend und bemüht, sich ihre Bestürzung nicht anmerken zu lassen, sagte sie: »Aber die Wahrheit, die ich über die Geschehnisse auf Sain Scarp jetzt sage, ist nicht die Wahrheit, die ich damals gesagt hätte, und nicht die Wahrheit, die fünfzig Jahre von heute gelten wird. Ich werde mir in fünfzig Jahren das alles ins Gedächtnis zurückrufen müssen, um zu erkennen, was dann die Wahrheit sein wird, denn die einzige Wahrheit wird die sein, an die wir uns erinnern, nicht ich allein, sondern auch Margali – Magda – und Peter und sogar Lady Rohana und Rumal di Scarp.«
Bethany schüttelte den Kopf. Offensichtlich verstand sie nicht, was Jaelle ihr klarzumachen versuchte. »Ich fürchte, das ist zu kompliziert für mich. Erzähle einfach alles, an was du dich erinnerst, und über diese ultimate Wahrheit werden wir uns ein anderes Mal den Kopf zerbrechen – in Ordnung?«
»Aber wem erzähle ich es?«
»Spielt das eine Rolle? Erzähle es, als habe dich irgendwer gefragt, was da draußen geschehen sei. Füge jedes kleine Detail ein, an das du dich erinnerst – jemand anders wird den Text redigieren und streichen, was wirklich irrelevant ist.«
»Wie soll ich denn wissen, was ich sagen soll, wenn ich nicht weiß, wem ich es sage?« Jaelle war von neuem verwirrt. »Ich meine, wenn du mich bätest, es dir zu erzählen, würde ich es auf die eine Weise tun, und wenn, sagen wir, der Comyn-Rat mich dazu aufforderte, würde ich es auf eine andere Weise tun ...« Bethany seufzte, und Jaelle spürte, wie frustriert sie war.
»Ich glaube, mein Casta ist nicht so gut, wie ich dachte«, sagte Bethany. »Für mich hörte sich das eben an, als würdest du uns und deinen eigenen Leuten zwei verschiedene Geschichten erzählen wollen. Das hast du aber gar nicht gemeint, nicht wahr?« Auf Jaelles heftiges Kopfschütteln hin nickte sie. »Das hatte ich auch nicht angenommen. Du machst auf mich einen ehrlichen Eindruck, und Magda hat so nett von dir gesprochen; du kannst nicht so doppelzüngig sein. Ich will dir was sagen. Sprich in den Schreiber, als berichtetest du einer der Ältesten von eurer Gilde – wie nennt ihr sie?«
»Gildenmütter?«
»Das meine ich. Willst du es versuchen?«
Sie steckte das Kehlkopfmikrofon mit seinem schwarzen, schlangenähnlichen Anhängsel an das Kragenband von Jaelles Jacke. »Das ist ein weiterer guter Grund, Uniform zu tragen. Die Standarduniform für deinen Sektor hat im Kragenband eine Tasche für das Schreibermikrofon, und du kannst es einfach hineinschieben, statt mühsam mit einem Clip herumzuhantieren.« Sie zeigte es an ihrer eigenen Uniformjacke. Jaelle grauste es etwas davor, an eine Maschine angeschlossen zu werden, aber sie sagte sich, wahrscheinlich werde sie sich daran gewöhnen. Es war nicht gefährlich, und sie war nicht die Barbarin, für die man sie zu halten schien. An ihr lag es jetzt, nicht wie ein Fisch auf einem Baum in Panik zu geraten!
»Du brauchst nur leise hineinzusprechen, eigentlich nur zu subvokalisieren. Ich werde mich nicht neben dich stellen, das würde dich nur nervös machen, aber ich bin gleich da drüben an meinem Schreibtisch, falls du mich für irgendetwas brauchst.« Damit ging Bethany.
Jaelle saß still da und versuchte zu entscheiden, was sie als Erstes tun sollte. Sie sagte halblaut: »Mir ist immer noch nicht klar, wie ich mit diesem Ding umgehen muss ...« und hörte das leise Summen und Rattern. Leuchtbuchstaben schwammen über den Schirm, und sie sah in den ihr noch nicht recht vertrauten Buchstaben der Standardsprache ihre Worte auf Casta: »Mir ist immer noch nicht klar ...«
Bekümmert drückte sie die Löschtaste. Die Buchstaben lösten sich in Lichtblitze auf, wie ihr Pappbecher und ihr Essensteller ins Nichts verschwunden waren. Ist hier gar nichts dauerhaft? fragte sie sich. Aber Bethany hatte davon gesprochen, dass ihr Bericht für alle Zeiten zugänglich sein würde. Das war ein ernüchternder Gedanke.
Langsam sagte Jaelle: »Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll ...«
Die Maschine summte wieder los, und die Worte leuchteten auf. Diesmal beunruhigte es sie nicht mehr. Wie oft hatte sie mit genau diesen Worten begonnen, Kindra oder einer der Gildenmütter über eine mit oder ohne Erfolg abgeschlossene Mission zu erzählen! Als sitze sie in dem großen Versammlungsraum des Gildenhauses von Thendara, wo die Gildenmütter und ihre Schwestern darauf warteten, dass sie berichtete, was sie getan hatte, begann sie auf gesammelte, formelle Art:
»An einem Abend etwa zehn Tage vor Mittwinter reiste ich nordwärts zum Nevarsin-Kloster. Bei mir war eine Gruppe von Comhi’Letzii, die mich, Jaelle n’ha Melora, zur Anführerin gewählt hatten. Gwennis n’ha Liriel, Sherna n’ha Lia und Devra n’ha Rayna sollten unsere drei Schwestern ablösen, die in Nevarsin Aufzeichnungen kopierten. Dazu kam Camilla n’ha Kyria, meine Eidesschwester, als Eskorte und Kämpferin. Vor einem schweren Sturm suchten wir Zuflucht in einer Reiseunterkunft, die eine halbe Tagesreise nördlich vom Andalune-Pass liegt. Wir fanden dort eine Gruppe fremder Männer vor, etwa zwölf an der Zahl, aber im Vertrauen auf die traditionelle Neutralität der Reiseunterkünfte grüßten wir sie höflich und lagerten am anderen Ende des Gebäudes. Kurz nach Dunkelwerden trat eine allein reisende Frau ein. Sie trug die Tracht einer Entsagenden, stellte sich als Mitglied des Temora-Gildenhauses vor und wurde an unserm Feuer willkommen geheißen. Wie ich später erfuhr, war diese Frau Magdalen Lorne ...« Sie kämpfte mit Magdas terranischem Namen und war sich ganz sicher, dass das, was auf dem Bildschirm erschien, nicht nach Magdas Namen in terranischen Buchstaben aussah. Sie musste ihn so falsch ausgesprochen haben, dass die Maschine ihn nicht verstanden hatte und auf eine phonetische Umschreibung ausgewichen war. Jaelle schlug auf die Löschtaste, biss sich auf die Unterlippe, rief Bethany und fragte nach der richtigen Schreibweise.
Zu ihrer großen Erleichterung fand Bethany gar nichts dabei und gab ihr nicht das Gefühl, eine schrecklich dumme Frage gestellt zu haben. Sachlich buchstabierte sie den Namen und kehrte an ihren eigenen Schreibtisch zurück. Jaelle fuhr fort:
»Wir wussten nicht, dass sie Terranerin und eine Agentin des Nachrichtendienstes war. Wir nahmen sie einfach in unseren Kreis auf und teilten unser Essen mit ihr, wie es üblich ist, wenn Entsagende sich unterwegs begegnen. Während wir alle schliefen, ereignete sich ein Zwischenfall ...«
Jetzt kamen ihr die Worte wie von selbst. Jaelle erzählte, wie einer der Räuber den gesetzlichen Frieden der Reiseunterkunft gebrochen und Magda angegriffen hatte. Die Frauen wiesen die Räuber aus dem Haus. Magda wurde verhört und als Eindringling entlarvt. Wie das Gesetz es vorschrieb, war sie aufgefordert worden, den Eid abzulegen. Am nächsten Tag hatte Jaelle das Amt der Anführerin an Camilla n’ha Kyria abgetreten, damit sie ihre neue Eidestochter ins Gildenhaus von Neskaya bringen konnte. Kaum waren die anderen fort, fielen zwei zurückgekehrte Räuber über sie und Magda her. Im Kampf mit ihnen wurde Jaelle schwer verwundet. Magda, selbst blutend, hatte Jaelle das Leben gerettet, und obwohl sie hätte fortreiten und sich ihrer eigenen Aufgabe widmen können, blieb sie, um die lebensgefährlich verletzte Jaelle zu pflegen. Später hatte Jaelle Magdas wahre Identität entdeckt und war mit ihr gezogen, um Peter Haldane, der von Rumal di Scarp gefangen gehalten wurde, auszulösen.
Nun umriss Jaelle kurz die Begegnung mit einem Banshee-Vogel im Scaravel-Pass, die Übergabe des Lösegeldes und, so gut es ihr möglich war, die anschließende Reise – denn ihre Erinnerung daran war vom Wundfieber verwischt, und genau wusste sie nur noch, dass Peter sie vor sich auf den Sattel genommen hatte, als sie nicht mehr fähig gewesen war, allein zu reiten.
Sie sagte wenig über ihren Aufenthalt auf Burg Ardais, außer dass Lady Rohana sie mit großer Herzlichkeit behandelt und Dom Gabriel ihnen gern die traditionelle Gastfreundschaft erwiesen habe, obwohl er die Entsagenden nicht billige. Sie erwähnte ganz kurz, Rohana sei ihre Verwandte und früher ihr Vormund gewesen, und noch kürzer, sie und Peter Haldane seien übereingekommen, bei ihrer Rückkehr nach Thendara zu heiraten, was sie auch getan hätten. Wenn man darüber mehr wissen wollte, sollte man sie fragen. Wie konnte sie ahnen, was man wissen wollte, und was ging es die Terraner überhaupt an? Sie war bereit, darüber auszusagen, welche Rolle sie bei der Auslösung Peters gespielt hatte – vermutlich würde er darüber von seinem eigenen Standpunkt aus ebenfalls berichten –, aber damit war Schluss. Den Gildenmüttern hätte sie gern anvertraut, wie es gewesen war, als sie Peter näher kennen lernte und sich in ihrer Krankheit an ihn klammerte, als das Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen ihnen wuchs und sie nach dem Mittwinterfest zum ersten Mal sein Bett teilte. Sie dachte jedoch nicht daran, das alles einer gesichtslosen Maschine mitzuteilen, damit es Terraner erfuhren, die keinen von ihnen kannten.
Innerhalb des fensterlosen Raums verlor sie das Gefühl für die Zeit. Erst als sie aufblickte und sah, dass die anderen ihre Schreibtische und Geräte abschlossen, erinnerte ihr Magen sie eindringlich an den eiligen und ungenießbaren Lunch.
Sie trat aus dem Gebäude auf die HQ-Plaza. Die Sonne war bereits untergegangen, und es nieselte. In der Haupt-Cafeteria, die wenigstens geräumig und mit Fenstern versehen war, empfand sie weniger von der Platzangst als in dem ummauerten Büro mit seinen vielen Schreibtischen. Aber alle Anwesenden sahen sich in ihren Uniformen so ähnlich, dass sie Peter nicht bemerkte, bis er ihre Schulter berührte.
»Jaelle! Warum trägst du keine Uniform?« Bevor sie antworten konnte, fuhr er fort: »Ich hörte, irgendwer habe bei sämtlichen Monitoren auf der Station Alarm ausgelöst, aber ich hätte mir nicht im Traum einfallen lassen, dass du es warst!«
Sie wunderte sich über den Zorn in seiner Stimme, sie wollte anfangen, es ihm zu erklären, doch er hörte nicht zu.
»Stellen wir uns zum Dinner an – um diese Tageszeit ist es immer voll.«
Das Essen sah besser aus und schmeckte besser als die synthetischen Speisen, die es in dem anderen Gebäude zum Lunch gegeben hatte. Manches davon war Jaelle beinahe vertraut, gebratenes Fleisch und darkovanische Getreide- und Gemüsesorten. Erleichtert stellte sie fest, dass Peter und sie fast die gleiche Auswahl getroffen hatten. Natürlich, auch er war in der Nähe von Caer Donn aufgewachsen und an darkovanische Nahrung gewöhnt. In jeder Beziehung, auf die es für sie ankam, war er Darkovaner, obwohl seine Schutzfärbung hier unter den anderen Terranern ausgezeichnet war. Es war ein beunruhigender Gedanke: Welches war der wirkliche Peter?
Er erklärte ihr, warum sie ihr Identitätsabzeichen in den Schlitz stecken musste, bevor sie ihr Essen bekam. »Als Angestellten steht uns eine bestimmte Zahl von Mahlzeiten zu; Extras werden uns vom Gehalt abgezogen. Suchen wir uns eine ruhige Ecke, ja?«
Es gab keine wirklich ruhigen Ecken in der Cafeteria, jedenfalls nicht so, wie Jaelle das Wort verstand. Aber sie fanden einen Tisch für zwei Personen und setzten sich gemeinsam hin. Rings um sie waren Gelächter, sich unterhaltende Angestellte, die meisten in Uniform oder in den weißen Kitteln mit dem Emblem des Medizinischen Dienstes. Eine Mannschaft sah nach Straßenarbeitern aus; sie waren noch dabei, sich Schnee von den schweren Parkas zu bürsten, die sie über den Uniformen trugen. Ganz so unterschiedlich von einem Abendessen im Gildenhaus war es nicht einmal, dachte Jaelle. Für einen Augenblick überfiel sie heftiges Heimweh. Sie dachte an Magda, die ihre erste Mahlzeit dort zu sich nahm. Dann sah sie zu Peter hinüber und lächelte. Nein, sie war hier bei Peter, und das war der Ort, wo sie zu sein wünschte.
Aber er sah immer noch erzürnt aus. »Verdammt noch mal, du musst die Uniform tragen, solange du dich im Gebäude aufhältst, Jaelle!«
Steif erwiderte sie: »Mir ist erklärt worden, dass es ein Problem für die Maschinen bedeutet. Ich will es ... versuchen.«
»Wo liegt die Schwierigkeit, Jaelle?«
Ob sie es ihm begreiflich machen konnte? »Die Uniform ist ... unschicklich. Ich sehe darin ... zu sehr nach Frau aus.«
Tat er absichtlich so, als sei er schwer von Begriff? Er lächelte ihr vielsagend zu und meinte: »Das ist das Gute daran, nicht? Warum willst du denn nicht wie eine Frau aussehen?«
»Das meine ich doch nicht«, begann sie ärgerlich und brach ab. »Warum ist es für dich von Wichtigkeit, Piedro? Es ist mein Problem, und ich muss es auf meine eigene Art lösen. Wenn du möchtest, will ich erklären, dass du nichts dafür kannst – du habest mich aufgefordert, die Uniform zu tragen, aber ich hätte mich geweigert.«
»Das kannst du nicht machen!«, entsetzte er sich. »Ich arbeite jetzt unter Montray, und ich werde mit ihm genug Ärger bekommen, ohne dass er denken muss ...« Den Rest verschluckte er, aber Jaelle war es zu ihrer eigenen Überraschung, als habe er das, was ihm durch den Kopf ging, laut ausgesprochen: »... ich würde nicht mit meiner eigenen Frau fertig.«
Das machte sie wütend. Zwischen zusammengebissenen Zähnen stieß sie hervor: »Warum glaubst du, es könne Rückwirkungen auf dich haben?«
»Verdammt noch mal, Frau!«, entfuhr es ihm. »Du trägst meinen Namen! Alles, was du tust, hat Rückwirkungen auf mich, ganz gleich, ob es in deiner Absicht liegt oder nicht! Du bist bestimmt intelligent genug, um das zu begreifen!«
Sie starrte ihn konsterniert an. Begreifen würde sie das niemals! Am liebsten wäre sie aufgestanden und hinausgegangen, noch lieber hätte sie ihn angeschrien. Aber sie sah ihn nur an. Ihre Hände zitterten. Bevor sie irgendeine Bewegung machen konnte, erklang eine Stimme hinter ihr: »Peter! Ich habe nach dir gesucht. Und das muss Jaelle sein.«
Eine hoch gewachsene, braunhäutige Frau mit silberweißem Haar zog einen Stuhl an ihren Tisch. »Darf ich mich euch anschließen? Ich habe heute Morgen mit Magda gesprochen.«
Peters Gesichtsausdruck veränderte sich mit solcher Geschwindigkeit, dass Jaelle dem Zeugnis ihrer Sinne misstraute. »Cholayna? Ich hörte schon davon, dass du hier seist. Jaelle, das ist Cholayna Ares. Sie war Leiterin der Akademie des Nachrichtendienstes, als Magda und ich dort studierten.«
Die Frau hatte ein Tablett mit den synthetischen Speisen mitgebracht, die Jaelle beim Lunch verschmäht hatte, aber sie ignorierte das Fleisch und das dampfende Gemüse auf den Tellern der beiden anderen. »Darf ich mich zu euch setzen? Oder störe ich bei einer privaten Diskussion?«
»Bitte, nehmen Sie Platz«, sagte Jaelle. Nichts wünschte sie sich weniger, als mit Peter, wenn er in dieser Stimmung war, allein zu sein. Cholayna stellte ihr Tablett auf den Tisch und glitt auf den Stuhl.
»Wie schön, jemanden zu sehen, der für dies Klima zweckmäßig angezogen ist. Man hat mir erzählt, dass Magda versuchte, ein Beispiel zu geben, indem sie für das Wetter hier geeignete Kleidung trug, aber diese Schafsköpfe in der Abteilung konnten an nichts anderes denken als an ihre elenden Maschinen. Wer ist hier übrigens der Boss? Der alte Russ Montray?« Sie gab ein verächtliches Geräusch von sich. »Ich wollte, jemand in der Zentrale würde einige Intelligenz zeigen und ihn auf eine Raumstation zurückversetzen. Den Anforderungen dort könnte er durchaus gewachsen sein. Dumm ist er eigentlich nicht, wisst ihr, er hat nur keine Geduld mit fremden Planeten und andersartigen Sitten. Ich hatte gedacht, die wichtigste Aufgabe eines Koordinators auf einem geschlossenen Planeten sei das Bemühen, die Eingeborenen und ihre Kultur zu verstehen, damit man, wenn der Zeitpunkt zur Ernennung eines Legaten gekommen ist, weiß, welchen Typ man auswählen muss. Aber Montray scheint bereits so viele Fehler gemacht zu haben, dass es ein Jahrhundert oder mehr erfordern wird, die von ihm erzeugten Probleme auszuräumen. Das war mir klar, noch ehe ich drei Tage auf meinem Posten gesessen hatte. Wer hat ihn hergeschickt? Und was hat sich derjenige nur dabei gedacht?«
»Ich vermute politische Drahtzieherei«, sagte Peter, »aber nicht in der Art, dass er den Posten haben wollte und jemand mit den richtigen Beziehungen ihn ihm besorgt hat, sondern dass irgendwer ihn los sein wollte und ihn die Treppe hinaufgeschubst hat – und hier ist er gelandet. Man mag gedacht haben, auf Darkover sei er so isoliert, dass er keinen Schaden anrichten könne. Typisches bürokratisches Denken – schickt ihn weg, damit er woanders Ärger macht.«
»Eine ganz besondere Dummheit«, bestätigte Cholayna mit einem Nicken. »Dieser Planet mag kein großes Handelspotenzial besitzen, aber wegen seiner Lage ist er ein wichtiger Transitpunkt. In etwa zwanzig Jahren wird hier einer der bedeutendsten Knotenpunkte der Galaxis entstanden sein. Wenn dieser Montray, wie es scheint, ständig Querelen mit den Eingeborenen heraufbeschworen hat, kann es Jahrhunderte dauern, den Schaden zu reparieren. Ich hoffe, ich habe einen Anfang gemacht, indem ich Magda detachiert habe. Wir müssen lernen, was wir bei der Behandlung der Darkovaner bisher falsch gemacht haben und wie wir es besser machen können. Auch Sie, Jaelle, werde ich um Informationen zu diesem Punkt bitten. Was dich angeht, Peter, so weißt du, dass du eigentlich mir unterstellt sein solltest, nicht Montray. Ich hoffe, er wird keine Statusfrage daraus machen und dich in seinem Büro behalten.«
Peter murmelte etwas, das Jaelle als eine höfliche nichts sagende Bemerkung erkannte, aber wieder einmal trug ihr erratisch auftretendes Laran ihr seine Gedanken zu, als habe er sie laut ausgesprochen.
Es ist ungerecht, verdammt noch mal! Ich habe fünf Jahre für den Aufbau gebraucht, und jetzt, wo eine Dienststelle des Nachrichtendienstes auf Darkover eingerichtet wird, hätte man mir die Leitung übertragen müssen. Stattdessen schneit so eine verdammte Frau herein und übernimmt. Es war schon scheußlich genug, neben Magda die zweite Geige zu spielen ...
Hier verlor Jaelle den Kontakt, aber sie hatte genug gehört, um Peter ängstlich und bestürzt anzusehen. Sie fand Cholayna sympathisch und wollte gern mit ihr zusammenarbeiten, obwohl die Frau diese merkwürdige Hautfarbe und dazu Augen hatte, die in ihrer Dunkelheit unergründlich waren. Aber wenn Peter so empfand, was sollte sie dann tun?