Читать книгу Die Erben von Hammerfell - Marion Zimmer Bradley - Страница 4

I

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Der Sturm tobte über die Hellers. Blitze zerrissen den Himmel, und das Donnerkrachen hallte lange in den Tälern wider. Zwischen den Wolken wurden Fetzen eines fahlen Himmels sichtbar, noch beleuchtet von den letzten Strahlen der großen roten Sonne. Neben der Zacke des höchsten Gipfels hing die schmale Sichel des türkisfarbenen Mondes. Ein zweiter Mond, violett und tagesblaß, versteckte sich nahe dem Zenit hinter den rasenden Wolken. Schnee lag auf den Bergen, und hin und wieder machten vereiste Stellen den Weg für das kleine gehörnte Reittier, das den engen Pfad entlangfloh, gefährlich. Die anderen Monde waren im Augenblick nicht sichtbar, doch den einsamen Reiter kümmerte das nicht.

Der alte Mann auf dem Rücken des Chervines klammerte sich am Sattel fest. Er achtete nicht darauf, daß aus seiner Wunde immer noch Blut sickerte, das sich mit dem Regen mischte und die Vorderseite seines Hemds und Mantels befleckte. Ein Stöhnen entrang sich seinen Lippen, aber er war sich dessen ebensowenig bewußt wie der Wunde, die er völlig vergessen hatte. Und es war sowieso niemand da, der ihn hätte hören können.

So jung, und der letzte, der letzte von den Söhnen meines Lords und auch mir teuer wie ein Sohn, und so jung, so jung … viel zu jung zum Sterben … Jetzt ist es nicht mehr weit. Wenn ich es nur bis nach Hause schaffe, bevor die Storn-Leute merken, daß ich entkommen bin …

Das Chervine stolperte über einen Stein, den das Eis losgesprengt hatte, und wäre beinahe gefallen. Es fing sich wieder, aber der alte Mann wurde aus dem Sattel geschleudert. Er schlug hart auf und blieb liegen, denn ihm fehlte die Kraft zum Aufstehen. Und immer noch flüsterte er seine Klage.

So jung, so jung … und wie soll ich die Nachricht seinem Vater bringen? Oh, mein Lord, mein junger Lord … mein Alaric!

Mühsam hob er den Blick zu der Burg oben auf den Klippen, erbaut aus rauh behauenen Steinen. Sie wäre für ihn nicht schwerer zu erreichen gewesen, hätte sie auf dem grünen Mond gelegen. Verzweifelt schloß er die Augen. Das Chervine, das seiner Bürde ledig war, aber durch das Gewicht des Sattels immer noch an den Willen des Reiters gebunden wurde, stupste den alten Mann auf dem eisigen, nassen Pfad sacht mit der Nase an. Dann witterte es andere Tiere seiner Art. Sie kamen den steilen Weg herunter, den der alte Mann so mühsam emporgeklommen war. Das Chervine hob den Kopf und wieherte leise, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, denn das bedeutete Futter, Ruhe und Befreiung vom Sattel.

Rascard, Herzog von Hammerfell, vernahm das Wiehern. Er hob die Hand und brachte den kleinen Zug, der ihm folgte, zum Halten.

»Hör doch, was ist das?« fragte er den Friedensmann, der hinter ihm ritt. In dem trüben Licht des Unwetters konnte er gerade noch das reiterlose Tier und die zusammengesunkene Gestalt auf dem Weg erkennen.

»Bei den Dunklen Göttern! Es ist Markos!« rief er aus. Ohne daran zu denken, wie gefährlich es war, sprang er aus dem Sattel, eilte den steilen, schlüpfrigen Weg hinunter zu dem Verwundeten und kniete neben ihm nieder. »Regis! Lexxas! Bringt Wein und Decken!« rief er, beugte sich über den alten Mann und zog vorsichtig den Mantel zur Seite. »Er lebt noch«, fügte er leise hinzu, kaum imstande, es zu glauben.

»Markos, alter Freund, sprich zu mir! Oh, ihr Götter, wie bist du zu einer solchen Wunde gekommen! Waren es die Schurken von Storn?«

Der Mann auf dem Boden öffnete die Augen. Ihr Blick war mehr von Verwirrung denn vom Schmerz getrübt, als sich eine Gestalt über ihn beugte und ihm eine Flasche an den Mund hielt: Er schluckte, hustete qualvoll und schluckte von neuem. Doch der Herzog hatte den blutigen Schaum auf seinen Lippen bemerkt.

»Nein, Markos, versuch nicht zu reden.« Er nahm den offensichtlich Sterbenden in die Arme, und Markos, seit vierzig Jahren mit ihm verbunden, hörte die Frage, die der Herzog von Hammerfell nicht laut aussprechen mochte.

Was ist mit meinem Sohn? Was ist mit meinem Alaric? Oh, ihr Götter, ich habe ihn dir als meinem zweiten Ich anvertrautEin Leben lang hast du dieses Vertrauen nicht enttäuscht

Und das Band trug ihn zu den Gedanken des halb bewußtlosen Mannes.

Auch diesmal nicht. Ich glaube nicht, daß er tot ist. Die Männer von Storn waren über uns, ehe wir sie gesehen hatten … ein einziger Pfeil für jeden … Fluch sei ihnen allen

Herzog Rascard entfuhr ein Schmerzensschrei.

»Zandrus Dämonen sollen sie packen! Oh, mein Sohn, mein Sohn!« Er hielt den Gestürzten in seinen Armen und spürte das Leid des alten Mannes so deutlich wie die Pfeilwunde, die brannte, als sei sein eigener Körper durchbohrt worden.

Nein, mein alter Freund, der du mir mehr bist als ein Bruder, dich trifft kein Vorwurf … ich weiß doch, daß du ihn mit deinem Leben verteidigt hast …

Die Diener schrien auf vor Bestürzung über das Leid ihres Herrn. Er brachte sie mit einem strengen Befehl zum Schweigen.

»Hebt ihn hoch – paßt auf! Seine Wunde braucht nicht tödlich zu sein; ich mache euch dafür verantwortlich, wenn er stirbt! Die Decke über ihn – ja, so. Und noch ein bißchen firi … vorsichtig, daß er nicht erstickt! Markos, wo liegt mein Sohn? Ich weiß, du würdest ihn nicht allein lassen …«

»Der ältere Sohn von Lord Storn – Fionn – hat ihn mitgenommen …« Das harte, rasselnde Flüstern verstummte wieder, aber Herzog Rascard hörte die Worte, die Markos vor Schwäche nicht mehr aussprechen konnte. Ich dachte, es gehe wirklich über meine Leichedann kam ich wieder zu Bewußtsein und wollte dir die Nachricht bringen, und wenn es mit meinem letzten Atemzug wäre

Mit Riesenkräften hob der Stallmeister Lexxas den Verwundeten hoch. »Du wirst nicht sterben, alter Freund«, sagte der Herzog sanft. »Setzt ihn auf mein Tier – vorsichtig, wenn ihr die Luft dieser Welt weiterhin atmen wollt. Jetzt zurück nach Hammerfell … so schnell es geht, denn es wird dunkel, und wir sollten vor Einbruch der Nacht in der Burg sein.«

Vorsichtig traten sie den Rückweg zum Gipfel an. Der Herzog, der seinen ältesten Gefolgsmann stützte, sah das Bild in Markos’ Geist, bevor dieser erneut das Bewußtsein verlor. Sein Sohn Alaric lag quer über Fionns Sattel, einen Storn-Pfeil in der Brust, das letzte Opfer einer Blutrache, die seit fünf Generationen zwischen Storn und Hammerfell tobte, einer so alten Fehde, daß sich keiner mehr an ihre eigentliche Ursache erinnerte.

Aber Markos, wenn auch schwer verwundet, lebte noch. War es nicht möglich, daß auch Alaric noch lebte, vielleicht sogar freigekauft werden konnte?

Ich schwöre es, wenn er stirbt, werde ich keinen Stein von Stornhöhe auf dem anderen lassen, und nirgendwo in den Hundert Königreichen soll ein einziger Mann vom Geschlecht der Storns am Leben bleiben, gelobte er. Sie überquerten die alte Zugbrücke und ritten in das Tor ein, das sich erst vor kurzem hinter ihnen geschlossen hatte. Sie trugen Markos in die Große Halle und legten ihn auf ein rauhes Sofa. Rascard blickte wild um sich, rief laut nach den Dienern und befahl: »Holt damisela Erminie.«

Die Haushalts-leronis war jedoch schon mit einem bestürzten Aufschrei in die Halle geeilt, kniete auf den kalten Steinen des Eingangs und beugte sich über den Verwundeten. Herzog Rascard erklärte schnell, was nötig war, aber auch die junge Zauberin hatte ihr ganzes Leben im Bann dieser Blutrache verbracht. Das schmächtige Mädchen war eine Cousine der vor langem verstorbenen Frau des Herzogs und diente ihm auf Hammerfell seit seiner Kindheit.

Erminie zog den blauen Sternenstein aus dem Ausschnitt ihres Kleides, konzentrierte sich auf ihn und fuhr mit den Händen an Markos’ Körper entlang, ohne ihn zu berühren. Etwa einen Zoll von der Wunde entfernt hielt sie an, die Augen ins Leere gerichtet. Rascard sah wie erstarrt zu.

Endlich erhob sie sich. Ihre Augen standen voller Tränen.

»Die Blutung ist gestillt; er atmet noch«, berichtete sie. »Mehr kann ich im Moment nicht tun.«

»Wird er am Leben bleiben, Erminie?« fragte der Herzog.

»Ich weiß es nicht, aber entgegen aller Wahrscheinlichkeit ist er noch am Leben. Ich kann nur sagen, es liegt in den Händen der Götter. Wenn sie weiterhin gnädig sind, wird er es überstehen.«

»Ich bete darum. Wir sind zusammen aufgewachsen, und ich habe so viel verloren …« Dann stieß Rascard einen lange zurückgehaltenen Wutschrei aus. »Ich schwöre es bei allen Göttern! Wenn er stirbt, wird meine Rache …«

»Still!« befahl Erminie streng. »Wenn du brüllen mußt, Onkel, dann tu es dort, wo du den Verwundeten nicht störst.«

Herzog Rascard fügte sich mit rotem Kopf. Er ging zum Kamin, ließ sich in einen tiefen Sessel fallen und wunderte sich über die Gefaßtheit und ruhige Tüchtigkeit dieses doch noch so jungen Mädchens.

Erminie war nicht älter als siebzehn, schlank und zart und hatte Haare von der Farbe frischgemünzten Kupfers, das sie als Telepathin auswies, und tiefliegende graue Augen. Sie folgte dem Herzog ans Feuer und sah ihm gerade ins Gesicht.

»Wenn er am Leben bleiben soll, muß er Ruhe haben … und auch du mußt ihn in Ruhe lassen, Onkel.«

»Ich weiß, meine Liebe. Du hattest recht, mich zu schelten.«

Rascard, der dreiundzwanzigste Herzog von Hammerfell, war über vierzig und stand in der vollen Kraft des mittleren Alters. Sein Haar, einst dunkel, war eisengrau, seine Augen zeigten das Blau von Kupferspänen im Feuer. Er war kräftig und muskulös. Sein wettergegerbtes Gesicht und die knotigen Muskeln verrieten das Erbe des zwergenhaften Schmiedevolks. Er sah wie ein früher einmal aktiver Mann aus, der mit dem Alter und der Untätigkeit ein bißchen weich geworden war. Sein strenges Gesicht wurde freundlicher als gewöhnlich, wenn er das junge Mädchen anblickte. Erminie war seiner Frau, die er vor fünf Jahren verloren hatte, nicht unähnlich. Alaric, ihr einziger Sohn, war damals erst dreizehn gewesen. Die beiden waren beinahe wie Bruder und Schwester erzogen worden, und der Herzog war einem Zusammenbruch nahe, als er daran dachte, wie sich die beiden rothaarigen Köpfe – kurzgeschnittene Locken, lange Zöpfe – gemeinsam über ein Schulbuch gebeugt hatten.

»Hast du es gehört, Kind?«

Die junge Frau senkte die Augen. In einem Umkreis von tausend Meilen hatte niemandem, der auch nur eine Spur von telepathischer Wahrnehmungsfähigkeit besaß, der qualvolle Austausch entgehen können, durch den der Herzog vom Geschick seines Sohnes und seines alten Dieners erfahren hatte, erst recht nicht einer leronis, die im Gebrauch der parapsychischen Kräfte ihrer Kaste gründlich ausgebildet worden war. Aber sie schwieg darüber.

»Ich glaube, ich würde es wissen, wenn Alaric tot wäre«, sagte sie, und das harte Gesicht des Herzogs wurde weicher.

»Ich bete, daß du recht hast, chiya. Magst du zu mir in den Wintergarten kommen, sobald du Markos allein lassen kannst?«

»Ja, Onkel.« Sie wußte, was er wollte. Von neuem beugte sie sich über den Verwundeten, ohne Herzog Rascard, der die Halle verließ, noch einmal anzusehen.

Der Wintergarten, eine in jedem Haushalt des Gebirges zu findende Einrichtung, lag hoch oben in der Burg. Er hatte Fenster von doppelter Stärke und wurde von mehreren Feuerstellen beheizt, und sogar während dieser unwirtlichen Jahreszeit war er voll von Blumen und grünen Blättern.

Herzog Rascard hatte in einem alten, abgenutzten Lehnsessel, von dem aus er das ganze Tal überblicken konnte, Platz genommen. Er starrte auf den Weg, der sich zur Burg hinaufschlängelte, und dachte daran, daß er dort zu Lebzeiten seines Vaters in mehr als einer Schlacht mitgekämpft hatte. So versunken war er in seine Erinnerungen, daß er die leisen Schritte hinter sich nicht hörte, bis Erminie um den Sessel herumkam und sich auf ein Kissen zu seinen Füßen setzte.

»Markos?« fragte er.

»Ich will dir nichts vormachen, Onkel, seine Wunde ist sehr ernst. Der Pfeil hat die Lunge durchbohrt, und die Verletzung wurde dadurch, daß Markos ihn herauszog, noch schlimmer. Aber er atmet, und die Blutung hat nicht von neuem begonnen. Er schläft; mit Ruhe und viel Glück wird er am Leben bleiben. Ich habe Amalie bei ihm gelassen. Sie wird mich rufen, wenn er aufwacht. Im Augenblick stehe ich dir zu Diensten, Onkel.« Ihre Stimme war leise und heiser, aber ganz fest. Die Mühsale ihres Lebens hatten sie über ihre Jahre hinaus reifen lassen. »Sag mir, Onkel, warum war Markos unterwegs, und warum ist Alaric mit ihm geritten?«

»Du wirst nichts davon erfahren haben, aber die Männer von Storn kamen im letzten Mond und brannten ein Dutzend Schober im Dorf nieder. Es wird vor der Zeit der nächsten Aussaat Hunger geben. Deshalb entschlossen sich unsere Männer, Storn zu überfallen und Lebensmittel und Saatgut für die Geschädigten von dort zu holen. Alaric hätte nicht mitzugehen brauchen; es war Markos’ Aufgabe, die Männer anzuführen. Aber eine der niedergebrannten Scheunen gehörte Alarics Pflegemutter, und deshalb bestand er darauf, an der Spitze zu reiten. Ich konnte es ihm nicht abschlagen, denn er sagte, es sei eine Sache der Ehre.« Rascard holte krampfhaft Atem. »Alaric ist kein Kind mehr. Ich durfte ihm nicht verbieten, was er seinem Gefühl nach tun mußte. Ich bat ihn, einen oder mehrere der laranzu’in mitzunehmen. Er aber meinte, für Storn würden ihm Bewaffnete genügen. Als sie in der Dämmerung noch nicht zurückgekehrt waren, machte ich mir Sorgen – und fand Markos, der als einziger entronnen war, um mir die Nachricht zu bringen. Sie waren in einen Hinterhalt geraten.«

Erminie bedeckte das Gesicht mit den Händen.

Der Herzog fuhr fort: »Du weißt, um was ich dich bitten möchte. Wie steht es um deinen Vetter, mein Mädchen? Kannst du ihn sehen?«

»Ich will es versuchen«, antwortete Erminie leise und holte den blaßblauen Stein aus seinem Versteck an ihrem Hals. Der Herzog erhaschte einen kurzen Blick auf die sich bewegenden Lichter in dem Stein, sah aber gleich wieder weg. Obwohl er als Telepath so gut war, wie man es von einem seiner Kaste erwarten durfte, hatte er nie gelernt, einen Sternenstein für die höheren Energie-Ebenen zu benutzen, und wie allen halbausgebildeten Telepathen vermittelten ihm die tanzenden Lichter ein vages Gefühl der Übelkeit.

Erminie beugte mit ernsten, sinnenden Augen den Kopf über den Stein, und der Herzog blickte auf ihren Scheitel nieder. Ihre Züge waren so frisch, so jung, unberührt von jedem tiefen und andauernden Leid. Rascard fühlte sich alt und müde. Auf ihm lasteten viele Jahre der Blutrache, und schon der Gedanke an den Storn-Clan, der ihm Großvater und Vater, zwei ältere Brüder und jetzt seinen einzigen überlebenden Sohn genommen hatte, drückte ihn nieder.

Aber wenn es den Göttern gefällt, ist Alaric nicht tot und mir nicht für immer genommen. Heiser sagte er: »Ich bitte dich, sieh nach und berichte mir, Kind …« Seine Stimme zitterte.

Nach ungewöhnlich langer Zeit sagte Erminie mit schwankender, unsicherer Stimme: »Alaric … Vetter …« Herzog Rascard fiel in Rapport und sah beinahe sofort das Gesicht seines Sohnes, eine jüngere Ausgabe seines eigenen, nur daß Alarics Haar leuchtend kupferfarben und überall gelockt war. Die jungenhaften Züge waren schmerzverzerrt, und die Vorderseite seines Hemds war mit hellem Blut bedeckt. Auch Erminies Gesicht war blaß.

»Er lebt. Aber er ist schwerer verwundet als Markos«, sagte sie. »Markos wird am Leben bleiben, wenn er ruhig gehalten wird, Alaric dagegen … die Blutung in der Lunge geht weiter. Die Atmung ist sehr schwach … er hat das Bewußtsein noch nicht wiedererlangt.«

»Kannst du ihn erreichen? Ist es möglich, seine Wunde über eine solche Entfernung zu heilen?« Der Herzog dachte daran, was Erminie für Markos getan hatte. Das Mädchen seufzte. Tränen strömten ihr über die Wangen.

»Nein, Onkel. Ich würde es gern versuchen, aber nicht einmal der Bewahrer von Tramontana wäre fähig, aus einer solchen Entfernung zu heilen.«

»Kannst du ihn dann erreichen und ihm sagen, daß wir wissen, wo er ist, daß wir kommen werden, um ihn zu retten oder bei dem Versuch zu sterben?«

»Ich fürchte mich, ihn zu stören, Onkel. Wenn er aufwacht und eine unkluge Bewegung macht, zerreißt er seine Lunge vielleicht so, daß sie nicht mehr zu heilen ist.«

»Aber wenn er allein aufwacht und sich in den Händen unserer Feinde sieht, könnte ihn das nicht auch in Verzweiflung und Tod treiben?«

»Du hast recht. Ich will versuchen, seinen Geist zu erreichen, ohne ihn zu stören«, sagte Erminie. Der Herzog verbarg das Gesicht in den Händen und bemühte sich, durch die Gedanken des jungen Mädchens zu erblicken, was sie sah: das Gesicht seines Sohnes, blaß und schmerzverzerrt. Obwohl er in den Heilkünsten nicht ausgebildet war, meinte er, den Stempel des Todes auf dem jungen Gesicht zu erkennen. Am Rand seiner Wahrnehmungsfähigkeit spürte er Erminies Gesicht, angespannt und suchend, und hörte, nicht mit den Ohren, die Botschaft, die sie auf eine tiefe Ebene von Alarics Geist zu senken versuchte.

Hab keine Angst, wir sind bei dir. Schlafe und heile dich selbst … Wieder und wieder kam die beruhigende, warme Berührung, die Trost und Liebe vermittelte.

Die intime Verbindung mit Erminies Gedanken erschütterte Rascard. Ich wußte nicht, wie sehr sie ihn liebt. Ich dachte, sie seien einfach Bruder und Schwester, beide Kinder. Jetzt sehe ich, daß es mehr ist als das.

Da wurde er sich bewußt, daß das junge Mädchen errötete. Erminie hatte seine Gedanken mitbekommen.

Ich habe ihn schon geliebt, als wir beide noch Kinder waren, Onkel. Ich weiß nicht, ob ich für ihn mehr bin als eine Pflegeschwester, aber ich liebe ihn viel mehr als einen Bruder. Es macht dich nicht zornig?

Wenn er dies auf andere Weise erfahren hätte, wäre Herzog Rascard wohl wirklich zornig geworden. Seit vielen Jahren schon kreisten seine Gedanken um eine vorteilhafte Heirat, vielleicht sogar mit einer Tiefland-Prinzessin aus dem Hastur-Reich im Süden. Aber jetzt hatte nichts anderes mehr Raum in ihm als die Furcht um seinen Sohn.

»Wenn er erst wieder gesund bei uns ist, mein Kind, und es das ist, was ihr beide euch wünscht, soll es geschehen«, sagte der Herzog mit dem strengen Gesicht so freundlich, daß Erminie seine Stimme, die sonst so hart klang, ganz fremd war. Für einen Augenblick saßen sie stumm da, und dann spürte Rascard zu seiner großen Freude eine neue Berührung in dem Rapport, eine Berührung, die er erkannte. Sie war schwach und schwankend, aber zweifellos die mentale Berührung seines Sohnes Alaric.

VaterErminie … ist es möglich, daß ihr es seid? Wo bin ich? Was ist geschehen? Was ist mit dem armen Markos …? Wo bin ich?

So behutsam sie konnte, teilte Erminie ihm mit, was passiert war. Er sei verwundet und befinde sich in der Feste von Stornhöhe.

Und Markos wird nicht sterben. Schlafe und heile dich selbst, mein Sohn, und wir werden dich auslösen oder dich retten oder bei dem Versuch umkommen. Mach dir keine Sorgen. Sei ruhig … ruhig …

Plötzlich zerrissen ein gewaltiger Zornesausbruch und das blaue Gleißen eines Sternensteins das tröstliche Muster des Rapports. Es war wie ein Stich ins Herz, eine körperliche Qual.

Du hier, Rascard, du schnüffelnder Dieb … was tust du in meiner Feste? Als habe er es vor sich, sah Rascard von Hammerfell das narbige Gesicht, die grimmigen Augen seines alten Feindes Ardrin von Storn, mager, wild wie ein Panther und flammend vor Wut.

Kannst du noch fragen? Gib mir meinen Sohn zurück, Schurke! Nenne die Summe für den Freikauf und sie soll bis zum letzten Sekal gezahlt werden, aber krümme ein Haar seines Hauptes, und du wirst es hundertfach bereuen!

So hast du in den letzten vierzig Jahren jeden Mond gedroht, Rascard. Du hast nichts, was ich haben will, außer deiner eigenen elenden Person. Behalte deinen Reichtum, und ich werde dich neben deinem Sohn von der höchsten Zinne auf Stornhöhe hängen lassen.

Rascard bezwang den Drang, mit voller laran-Kraft zuzuschlagen – der Feind hatte Alaric in seiner Gewalt. Er bemühte sich, ruhig zu bleiben, und erwiderte: Willst du mir nicht erlauben, meinen Sohn auszulösen? Nenne deinen Preis, und ich schwöre, du sollst ihn ohne Feilschen bekommen.

Er spürte den Triumph Ardrins von Storn. Natürlich hatte sein Feind nur auf eine solche Gelegenheit gewartet.

Ich werde ihn gegen dich austauschen, kam Ardrins Antwort durch die telepathische Verbindung. Komm her und liefere dich mir morgen vor Sonnenuntergang aus, und Alaric – falls er noch lebt oder, falls nicht, seine Leiche – soll deinen Leuten übergeben werden.

Rascard wußte, daß er nichts anderes hatte erwarten können. Aber Alaric war jung; er selbst hatte ein langes Leben hinter sich. Alaric konnte heiraten, den Clan und das Königreich wiederaufbauen. Es dauerte nur einen Augenblick, bis er antwortete.

Einverstanden. Aber nur, wenn er lebt. Stirbt er in deinen Händen, werde ich Storn über deinem Kopf mit Haftfeuer niederbrennen.

Vater, nein! Nicht um diesen Preis! rief Alaric. Ich werde nicht mehr so lange lebenund ich will auf keinen Fall, daß du für mich stirbst. Rascard spürte, wie die Stimme die schwachen Verteidigungen seines Sohnes durchschlug, und dann war Alaric fort, aus dem Rapport gefallen – ob tot oder bewußtlos, konnte er nicht sagen.

Kein Laut war im Wintergarten zu hören außer Erminies leises Schluchzen und ein weiterer Zornesausbruch des Lords von Storn.

Du hast mich um meine Rache betrogen, Rascard, alter Feind! Nicht ich habe ihm den Tod gegeben. Wenn du dein Leben gegen seine Leiche eintauschen möchtest, werde ich deinen Wunsch ehren …

Ehren? Wie kannst du es wagen, dieses Wort auszusprechen, Storn?

Weil ich kein Hammerfell bin! Jetzt verschwinde! Laß dir nicht einfallen, noch einmal nach Storn zu kommen – und wenn es im Geist wäre! schleuderte Ardrin ihm entgegen. Geh weg!

Erminie warf sich auf den Teppich und weinte wie ein Kind. Rascard von Hammerfell senkte den Kopf. Er war betäubt, leer, erschüttert. War die Blutrache nun um diesen Preis beendet worden?

Die Erben von Hammerfell

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