Читать книгу Wer wird denn da gleich Schwarz sehen - Marius Jung - Страница 7
Was ist Rassismus?
ОглавлениеEine Szene in einem Restaurant in Tunesien. Der Kellner kommt an den Tisch, um die Getränkebestellung aufzunehmen. Die beiden Frauen führen gerade folgenden Dialog: „Petra, pass auf deine Handtasche auf. Am Nebentisch sitzt so ein … Dunkelhäutiger. Oder wie sagt man heute? Meine Tochter hat mir beigebracht, nicht mehr rassistisch zu reden.“ Dann bestellen sie sich Cocktails. Kurz danach bringt der Kellner zwei Plastikeimer mit langen Strohhalmen darin. Die Frauen sehen ihn entgeistert an. Der Kellner fragt: „Kommen Sie nicht aus Deutschland?“ Die beiden nicken. „Aber …“ Der Kellner fährt fort: „Ich habe vor ein paar Jahren auf Mallorca gearbeitet und dort gesehen, dass Deutsche aus Eimern trinken. Deshalb habe ich extra immer einige Eimer hier. Prost!“
Das mit den Eimern ist absurd, oder? Wie kann man nur so verallgemeinern!
Nehmen wir den Begriff „Rassismus“ zunächst einmal wörtlich. Dann wird deutlich, dass das Konzept auf einer pseudowissenschaftlichen Absurdität beruht: der Behauptung, dass es zwischen manchen Ethnien so große genetische Unterschiede gebe, dass man wie im Tierreich von „Rassen“ sprechen könne. Die Gene sorgten, so die Behauptung, unter anderem für Unterschiede in der Intelligenz und im Sozialverhalten. Auf der Grundlage dieser aus der Biologie entlehnten Idee werden Rangunterschiede zwischen den verschiedenen „Rassen“ behauptet. Um diese Annahme auch nur in Betracht zu ziehen, müssten sich die Gene der Angehörigen angeblicher Rassen allerdings auch unterscheiden. Aber die Erbinformation von uns Menschen ist zu mehr als 99 Prozent identisch. Und der nicht einmal ein Prozent große Rest sorgt für eine bunte Vielfalt, die sich durch alle Kontinente und Ethnien zieht, sodass biologisch gesehen keine sinnvolle Einteilung in verschiedene Rassen möglich ist. Eine blonde Frau kann mit mir als Mensch of Color genetisch mehr gemeinsam haben als ein Schwarzer. Rassismus lässt sich also biologisch nicht begründen. Aus diesem Grund gibt es auch Bestrebungen, das Wort „Rasse“ im Antidiskriminierungs-Artikel 3 des Grundgesetzes durch „aus rassistischen Gründen“ zu ersetzen. Denn mit diesem Paradox werden wir noch eine Weile leben müssen: Auch wenn es keine menschlichen Rassen gibt, gibt es rassistische Menschen.
Und doch nehmen viele Kulturen körperliche Unterschiede zum Anlass, Gruppen zu bilden und „andere“ zu definieren. Aber diese Kategorien sind willkürlich. Hautfarbe ist wohl eines der beliebtesten Merkmale zur Einteilung von Ethnien. Aber auch diese Einteilung ist widersinnig. Menschen aus dem südlichen Indien gelten als „Asiat*innen“, obwohl ihre Haut in der Regel dunkler ist als die der „Schwarzen“ im südlichen Afrika. Dabei dachte ich ja immer, Asiat*innen seien gelb. Diese gesamte Farbenlehre der Hauttöne taugt allenfalls zur Beschreibung eines Menschen. Eine Bewertung anhand des Hauttones hingegen ist nicht sinnstiftend, sondern diskriminierend.
Rassist*innen können nicht glauben, dass es keine relevanten genetischen Unterschiede zwischen Menschen verschiedener Hautfarbe gibt. Sie empfinden eine andere Tönung des Teints als so fremd, dass sie glauben wollen, dahinter stecke eine fundamentale Ursache. Und sie meinen, man könne anhand des Attributs „Hautfarbe“ Menschen typisieren. Aber das ist Unsinn. Man könnte genauso gut angebliche Rassen bilden, die sich durch den Körperfettanteil unterscheiden. Oder durch die Haarfarbe. Oder durch das Verhältnis von Rumpf- zu Beinlänge: Die Rasse der Sitzriesen könnte dann der der Sitzzwerge intelligenzmäßig überlegen sein. Wäre alles pseudowissenschaftlich machbar. Bliebe aber Unsinn. Niemand kann den Charakter oder die Staatsangehörigkeit eines Menschen von außen auf einen Blick erkennen. Der Volksmund weiß das schon lange: „Du kannst den Leuten nur vor den Kopf gucken.“ Hautfarbe verrät nichts über das Bewusstsein. Sie lässt nicht erkennen, was wir denken, und nicht, was wir fühlen. Sie erzählt uns nichts über die Person, die vor uns steht. Und vermeintliche oder tatsächliche Herkunft ergibt deshalb auch keinen begründeten Anfangsverdacht für irgendwas. Wie in unserem Beispiel zu Beginn: Weder die Sprache der beiden Frauen noch die Hautfarbe des Kellners sagt etwas über ihren Charakter, ihr Sozialverhalten und ihre kulturellen Gewohnheiten aus. Alle dunkelhäutigen Männer sollen angeblich klauen? Und alle Deutschen trinken aus Eimern? Diese kollektive Verurteilung scheitert, weil sie auf einer unlogischen Annahme beruht: Kein Staatsvolk, keine Religionsgemeinschaft, keine Ethnie ist eine homogene Gruppe. Den deutschen Menschen gibt es genauso wenig wie die Araberin, den Juden und den Schwarzen.
Die Wiege der Menschheit liegt bekanntlich in Afrika. Ob die Aborigines in Australien, die Uigur*innen in China oder wir Rheinländer*innen hier in Deutschland – von der Abstammung her sind wir alle Afrikaner*innen. Aus einer kleinen Gruppe von Migrant*innen entstanden dann all die Ethnien, die wir heute außerhalb Afrikas kennen. Über Jahrtausende haben sich die Menschen auf den Kontinenten verteilt – und ihre genetische Zusammengehörigkeit war da schon lange besiegelt. Im Laufe der Zeit passte sich die Haut der ausgewanderten Afrikaner*innen an die jeweiligen Klimazonen an. Waren ursprünglich alle Menschen schwarz, so haben wir heute einen wundervollen Reigen aller Hauttöne. Weiße sind mithin nichts anderes als Afrikaner*innen, die ihre Farbe verloren haben. Und angebliche menschliche „Rassen“ sind nur eine soziale Konstruktion.
Einen Unterschied mit der Hautfarbe zu begründen wäre so, als würde man einen grün lackierten VW Golf für ein komplett anderes Auto erklären als ein gelb lackiertes, aber ansonsten identisch ausgestattetes Exemplar desselben Modells.
Entfernen wir uns von der biologischen Bedeutung des Begriffs „Rasse“. Eine brauchbare Definition des Rassismus als gesellschaftliches Phänomen darf weder zu eng noch zu weit sein. Hätte man vor einigen Jahrzehnten die (West-)Deutschen befragt, was Rassismus ist, hätten die meisten vermutlich geantwortet: „Gewalt gegen Schwarze.“ Und dabei hätten sie beispielsweise den Ku-Klux-Klan vor Augen gehabt, im fernen Amerika. Diese extrem verkürzte und eingeschränkte Definition ist einer der Gründe dafür, dass sich in der BRD die Überzeugung herausbildete, wir hätten hier kein Rassismusproblem. Weil es keine öffentlich sichtbaren Gewalttaten gegen Schwarze gab oder diese nicht als rassistisch erkannt und gedeutet wurden. Und weil es sehr wenige Schwarze in Deutschland gab. Die damals entstandene Überzeugung, es gebe bei uns keinen Rassismus, war und ist extrem hartnäckig.
Die Diskussionen seit dem tragischen Fall George Floyd haben dankenswerterweise deutlich gemacht, dass Rassismus mehr ist als das offene Beleidigen, Beschimpfen, Diskriminieren oder gar Angreifen eines Menschen mit anderer Hautfarbe. Es gibt in der Gesellschaft tiefliegende rassistische Strukturen, die den Handelnden nicht bewusst sein müssen und dennoch diskriminierend sind – etwa beim „Racial Profiling“, also diskriminierenden Polizeikontrollen, oder bei der Vergabe von Wohnungen, Jobs und Filmrollen. Auch wenn alle Beteiligten glaubhaft versichern, persönlich keine rassistischen Gedanken zu hegen, haben sich diese Gewohnheiten eingeschliffen und bestehen weiter. Oft wird das „struktureller Rassismus“ genannt. Der Begriff weist darauf hin, dass der Kampf gegen den Rassismus mehr braucht als nur das vernünftige Gespräch mit den gedankenlosen Nachbar*innen, Kolleg*innen oder Verwandten. Er ist vielmehr eine politische und gesellschaftliche Aufgabe.
Diese Erkenntnis der strukturellen und institutionellen Probleme war nötig und überfällig – sie hat viele blinde Flecken enttarnt und den Blick für systemischen Rassismus und tief verborgene und anerzogene rassistische Sichtweisen geöffnet. In der letzten Zeit allerdings schlägt das Pendel, wie so oft, in die gegenteilige Richtung aus: Bei manchen Aktivist*innen gilt mittlerweile praktisch alles, was Weiße tun oder mögen, als rassistisch, und es wird teilweise eine Art „rassistische Erbsünde“ konstruiert, die Weiße schon im Kindesalter zu „toxischen“ Geschöpfen macht. Das hat manchmal seinerseits rassistische Züge.
Ich bevorzuge einen Begriff von Rassismus, der nicht uferlos ist und der nicht zum Ergebnis führt, dass alle Weißen Rassist*innen sind. Denn eine solche Definition wäre fruchtlos und ohne jede Trennschärfe – also etwa so unsinnig wie die Behauptung, das „kavalierhafte“ Offenhalten einer Tür für eine Dame sei sexistisch und gehöre also in dieselbe Kategorie wie ein gewaltsamer sexueller Übergriff. Ich möchte weiterhin unterscheiden dürfen zwischen bewusst feindseligem Verhalten und der unbewussten Reproduktion rassistischer Stereotypen. Wie schon im Vorwort ausgeführt, steht für mich der Nazi, der mich körperlich attackiert, weil ihm meine Hautfarbe nicht passt, auf einem anderen Blatt als die ältere Dame, die seit ihrer Jugend „Negerkuss“ sagt und bis heute keine Ahnung vom rassistischen Charakter dieser Süßigkeitenbezeichnung hat. Objektiv handeln beide rassistisch, aber ihre sehr unterschiedlichen Absichten auszublenden finde ich falsch. Und doch: Überwinden müssen wir beides. Dabei hilft es übrigens, wenn man möglichst sorgfältig unterscheidet, was jemand tut und was jemand ist. Wir alle kennen den Unterschied in der Empfindung, wenn uns gesagt wird: „Das war jetzt gerade nicht so schlau von dir“, oder wenn man hört: „Du bist ein Idiot!“ Und genauso sollte man nachdenken, bevor man behauptet: „XY ist ein Rassist/eine Rassistin“ – auch wenn man eigentlich nur der Meinung ist, er oder sie habe etwas gesagt, das als rassistisch verstanden werden könnte. (Selbst das muss ja nicht immer stimmen, nur weil es jemand meint.) Dem Schriftsteller George Bernard Shaw wird ein Satz zugeschrieben, der wie ich finde eine gute Mahnung ist: „Eines der traurigsten Dinge im Leben ist, dass ein Mensch viele gute Taten tun muss, um zu beweisen, dass er tüchtig ist, aber nur einen Fehler zu begehen braucht, um zu beweisen, dass er nichts taugt.“ Das sollte man durch verallgemeinerndes Reden nicht befördern.
Hier also in fünf Sätzen meine Definition des aktuellen Rassismus (die sich natürlich auf diverse Ansätze stützt):
1.Rassist*innen definieren anhand bestimmter Merkmale wie der Hautfarbe und der geografischen und/oder kulturellen Herkunft Menschengruppen oder „Rassen“.
2.Sie behaupten, dass es einen Zusammenhang gebe zwischen diesen Merkmalen (zum Beispiel der Hautfarbe) einerseits und bestimmten Eigenschaften (zum Beispiel geringere Intelligenz oder Faulheit oder Unehrlichkeit) andererseits.
3.Diese Eigenschaften haben angeblich alle Mitglieder der jeweiligen Gruppe oder „Rasse“ gemeinsam.
4.Es gibt eine wertende Hierarchie der Gruppen oder „Rassen“.
5.Die Mitglieder „höherer Rassen“ beanspruchen mit Hinweis auf diese Hierarchie, also ihre „natürliche Überlegenheit“, das Recht, die ihrer Meinung nach niedriger stehenden Gruppen oder „Rassen“ zu benachteiligen, zu unterdrücken, auszubeuten und gegebenenfalls zu vernichten.
Zusammengefasst bedeutet Rassismus: Menschen auf ihre Herkunft und/oder ihr Aussehen reduzieren, ihnen kollektive (in der Regel negativ besetzte) Merkmale zuschreiben und sie durch Sprechen, Handeln oder Unterlassen benachteiligen.
Und wie kam der Rassismus nun in die Welt? Um die heute wirksamen Ursachen von Rassismus geht es im folgenden Kapitel 2. Hier sollen vorerst nur die Theorie von der Ungleichheit der „Rassen“ sowie die Motive beleuchtet werden, die einst zu dieser Theorie führten. Obwohl das Wort „Theorie“ einen an „Wissenschaft“ erinnert, sollte man dieses Wort in diesem Zusammenhang eigentlich nur in Anführungszeichen verwenden. Denn beim Gedankengebäude „Rassismus“ handelt es sich nicht um Wissenschaft, sondern um eine interessengeleitete Ideologie – an deren Formulierung sich schändlicherweise auch viele Wissenschaftler*innen beteiligten.
Der Ursprung des Abwertens von Menschengruppen ist die Sklaverei, also das Ausüben von Macht und Gewalt. Für entwickelte Gesellschaften war es seit jeher problematisch, wenn die Herrschenden Angehörige ihres Volkes, also ihresgleichen, zu unfreien Arbeitstieren degradierten. Also musste das „ihresgleichen“ wegdefiniert werden, indem man Menschen, die Sklavenarbeit verrichten mussten, als niedere Wesen betrachtete. Irgendwann begann man, systematisch die Angehörigen fremder, durch Krieg unterworfener Völker zu versklaven – meist aus Afrika. Und da sich deren Äußeres von dem der Sklavenhalter*innen unterschied, übertrug man das abwertende Urteil über Sklav*innen nach und nach auf die unterworfenen Völker, also auf Menschen mit dunklerer Haut. Das fiel umso leichter, als die „anderen“ ohnehin in vielen Kulturen herabgesetzt wurden. Perfiderweise „bestätigt“ wurde das negative Urteil, weil der Status als Sklav*in natürlich nicht ohne Wirkung auf Wesen und Verhalten der Versklavten blieb – wie eine schreckliche sich selbst erfüllende Prophezeiung. Wer zum Zwangsarbeiten und zum Eigentum von Besitzer*innen degradiert ist, verhält sich irgendwann auch ängstlich, misstrauisch und unterwürfig. Und wird verständlicherweise wütend.
Folgt man dem Historiker Egon Flaig,1 gab es einen Rassismus, der nach Hautfarben unterschied, erstmals im arabischen Reich des 9. Jahrhunderts. Das Wort „Rasse“ geht demnach auf das arabische „ras“ für „Kopf“ zurück. Als am positivsten bewertete Norm galt bei den Araber*innen ihre eigene, bronzene Hautfarbe – während sowohl die blassweißen Nordeuropäer*innen als auch die versklavten Afrikaner*innen als minderwertig betrachtet wurden. Eine theologische Scheinrechtfertigung der Sklaverei schufen die Araber*innen durch eine verfälschte Überlieferung aus dem Alten Testament: Ham, einer der Söhne Noahs, wurde verflucht – aber davon, dass der Fluch in einer Schwarzfärbung seiner Haut bestanden habe, war ursprünglich nicht die Rede. Diese fromme Lüge setzte sich erst durch, als man eine Rechtfertigung für das Versklaven von Schwarzen und den Handel mit ihnen brauchte. Im Christentum des Mittelalters war Ham hingegen nicht schwarz – aber das galt nur so lange, bis die Europäer*innen mit Beginn der Neuzeit den Sklavenhandel von den Araber*innen übernahmen. Diese Übernahme war die Geburt des europäischen Rassismus und der ihn stützenden „Theorien“. Und mit der Ausweitung des Sklavenhandels in Richtung Süd- und Nordamerika sowie mit der Gründung von Kolonien verfestigte sich die praktische Ideologie von der Minderwertigkeit von Afrikaner*innen immer mehr. Die Diskreditierung ganzer Volksgruppen schuf die scheinbare Rechtfertigung für deren Ausbeutung, für Zerstörung, Raub, Versklavung und Mord. Dahinter stand eine politische und wirtschaftliche Absicht. Die pseudowissenschaftliche Begleitmusik kam erst später dazu. Beispielsweise änderte sich ab dem 16. Jahrhundert die Methode, gute von gottlosen Menschen zu unterscheiden. War es bisher die Taufe gewesen, die Zugehörigkeit schuf, musste man sich nun etwas Neues ausdenken, denn die Kirche drang auf die Zwangstaufe möglichst vieler neuer Schäfchen. So entstand als Ersatz die Vorstellung, es sei „das Blut“ (heute würde man von den Genen sprechen), das Menschen wertvoll oder wertlos mache. Kurz: die Rasse.
Vor einer besonderen Herausforderung stand die Aufklärung des 18. Jahrhunderts – schuf sie doch die Idee der allgemeinen Menschenrechte. Weil die Ausbeutung und Versklavung Afrikas aber längst eine wichtige Grundlage des europäischen Wohlstands war, intensivierten sich die „wissenschaftlichen“ Bemühungen, durch eine „Rassenlehre“ klarzustellen, dass Afrikaner*innen keine Menschen im Sinne der Menschenrechte seien. Sie seien wild und ohne Seele und daher minderwertig. Einer der größten Denker*innen der Aufklärung, Immanuel Kant, trug Folgendes zur Absicherung der weißen Herrschaft bei: „Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Rasse der Weißen. Die gelben Indianer haben schon ein geringeres Talent. Die Neger sind weit tiefer, und am tiefsten steht ein Teil der amerikanischen Völkerschaften.“2 Auf die Rolle der Aufklärung und auf die Frage, wie man angesichts unseres heutigen Wissens mit Kant umgehen soll, gehe ich in den späteren Kapiteln näher ein.
Bis ins 18. Jahrhundert war die Bewertung von Menschen anhand der Hautfarbe noch nicht so verfestigt. Von einem Schwarzen, der durch eine europäische Stadt lief, hätte man angenommen, dass er aus einer sonnenscheinreichen Gegend stamme.3 Über Vererbung und „Rassen“ wussten die allermeisten noch nichts. Ihren Höhepunkt erreichten der Rassismus und mit ihm die kolonialistische Grausamkeit erst im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Berüchtigt ist der belgische König Leopold II., unter dessen Herrschaft die Hälfte der Bevölkerung des Kongo massakriert wurde, das waren zehn Millionen Menschen. Den Feldarbeiter*innen, die ihr Tagespensum nicht schafften, ließen die katholisch-christlichen Kolonialherr*innen eine Hand abhacken. Die deutsche Kolonialmacht herrschte sowohl in Kamerun als auch im Südwesten Afrikas blutig. Dort, in Namibia, schlugen die deutschen Kolonialist*innen den Aufstand der Herero brutal nieder. Die überlebenden Männer, Frauen und Kinder trieben sie in die Wüste und verweigerten ihnen den Zugang zu den Wasserstellen. Zehntausende Menschen verdursteten; insgesamt starben 75 000 Menschen. Hier geschah einer der schlimmsten Völkermorde – was die Bundesregierung im Mai 2021 auch endlich offiziell anerkannte. Und die Europäer*innen, die all das anrichteten, waren überzeugt, auf einer höheren Zivilisationsstufe zu stehen als die Völker, denen sie all dies antaten – und sie hatten ja den Segen der Kirchen.
Fassen wir zusammen: Rassismus ist eine Ideologie. Sie wurde erfunden, um Ausbeutung und Unterdrückung zu rechtfertigen. Rassismus ist ein Machtinstrument. Er entstand immer im Zusammenhang mit imperialistischen Bestrebungen, die behaupteten, es gebe verschiedene Menschenrassen. Rassismus wertet Menschen anhand ihres Äußeren, ihres Namens, ihrer Herkunft oder sogar ihrer Religion ab. Nachdem diese Vorstellung genetisch verschiedener Menschenrassen durch die Wissenschaft verworfen wurde, fokussierte man sich, um sich am Hass festzuhalten, auf die angeblich unüberwindlichen Kulturunterschiede. Wobei natürlich auch hier vorausgesetzt wird, dass die Menschen eines Kulturkreises allesamt dieselben Eigenschaften haben. Und so denken ausgerechnet Angehörige einer westlichen Gesellschaft, die den Individualismus zur Ersatzreligion erhoben hat …
Es gibt keine vernünftigen Gründe für eine Rassenlehre. Wir alle sind von derselben Art.