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„Ich schwieg und lächelte es weg“: Meine Rassismusgeschichte

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Aufgrund meiner dunkleren Hautfarbe werde ich gerne auf Englisch angesprochen. Oder zwar auf Deutsch, aber sehr laut und langsam, weil ich ja vermutlich nix verstehn. Wegen meines Aussehens gehen immer noch sehr viele davon aus, dass ich zu Besuch aus Afrika hier bin. Oder zugewandert. Um es satirisch zuzuspitzen: Der Umstand, dass ich in Deutschland geboren und aufgewachsen bin und heute mit meiner Familie nicht in einer Hütte, sondern in einer Dreizimmerwohnung in Köln am Rhein wohne, wo wir uns auf Deutsch unterhalten, stört die Erwartungen. Er passt nicht in die mir zugedachte Schublade, auf der wahlweise „böser Fremder“ oder „armer Schwarzer“ steht. Über all das musste ich mir jedoch erst einmal bewusst werden. Das war ein langer und manchmal schmerzhafter Prozess. Abgeschlossen wird er wohl nie sein.

Die meiste Zeit meines Lebens verdrängte ich den Rassismus, den ich erfuhr, so gut es ging. Ich wurde 1965 in eine praktisch ausschließlich weiße Mehrheitsgesellschaft hineingeboren und lebte als ein exotisches, dunkleres Exemplar zwischen lauter hellhäutigen Deutschen. Lange Zeit befanden sich die einzigen dunkelhäutigen Menschen, die ich sah, im Fernsehen. Prägend war für mich die Minifernsehserie Roots über das Leben des Sklaven Kunta Kinte, die nach dem Roman Roots: The Saga of an American Family von Alex Haley entstanden war und in Deutschland ab 1978 lief. Roots war mein erster bewusster Kontakt mit Rassismus, der offen und brutal ausgelebt wurde. Da war ich zwölf. Zum Glück war mir in Jim Knopf vorher schon ein schwarzer Held geschenkt worden. Heute kann ich sehen, dass auch der Autor Michael Ende ein Kind seiner Zeit war und das N-Wort benutzte. Den Halt, den mir seine Schöpfung Jim gegeben hat, kann mir diese (nicht sehr überraschende) Erkenntnis zum Glück nicht mehr nehmen. Es gilt dasselbe wie bei Pippi Langstrumpf und anderen: Dass das damals noch übliche Wort benutzt wurde, macht diese bezaubernden Kinderbücher nicht zu rassistischen Werken und ihre Autor*innen erst recht nicht zu Rassist*innen. Und ich wünsche allen Kindern, dass sie die wunderbaren Geschichten um Lukas, Emma und Jim Knopf kennenlernen dürfen. Man kann beim Vorlesen ja das N-Wort ändern, wenn man eine Ausgabe hat, in der es noch steht. Oder, besser noch: Es vorlesen und seinen heute allgemein bekannten Charakter erklären. Das ist sicherlich etwas komplexer, denn Kinder können nicht historisch denken. Aber sie werden schließlich dauernd mit Dingen konfrontiert, die sie noch nicht oder nicht vollständig verstehen. Man nennt diesen Prozess „Aufwachsen“.

Als Kind stand mir das Wort „Rassismus“ für das, was mir aufgrund meiner Hautfarbe geschah, nicht zur Verfügung. Und ich weiß nicht, was ich damals bewusst oder unbewusst mitbekam – etwa vom Getuschel der anderen Eltern, wie die weiße Frau da wohl zu diesem „Negerjungen“ gekommen sei. Die Vorstellung ist bedrückend. Wie ich es damals empfunden habe, kann ich tatsächlich nicht sagen. Denke ich heute darüber nach, bin ich empört, wie feindselig das weiße Deutschland damals auf das Ergebnis einer Liaison mit einem amerikanischen Soldaten reagierte. Gott sei Dank war mein sozialer Vater nicht so gestrickt. Ich wuchs in einer liberalen Blase auf, in der die Freund*innen meiner Eltern, linksintellektuelle Bildungsbürger*innen, mich zumeist freundlich aufnahmen. Aber eines Tages, mit drei Jahren, wurde ich jäh aus dieser Blase gerissen:

Wir wohnten damals in Mainz – und ich sollte in den Kindergarten gehen. Die Vorstellung fand ich semioptimal. In meiner Gruppe war kein einziges Kind aus meiner Siedlung. Und dass ich das einzige dunkelhäutige Kind in der gesamten Einrichtung war, fand ich ebenfalls wenig hilfreich. Einige garstige Kinder belegten mich gleich am ersten Tag mit fiesen Ausdrücken. Ich sage „fiese Ausdrücke“, weil „rassistisch“ mir unpassend erschiene. Es waren kleine Kinder, die die rassistischen Beleidigungen in ihrem Umfeld aufgeschnappt hatten. Sie konnten deren Tragweite nicht einschätzen. Dreijährige sind nicht reflektiert. Es ging um ein Machtspiel, und da greifen Kinder zur ersten Keule, die herumliegt. Ohne zu wissen, was sie damit anrichten können. Total doof und verletzend fand ich es dennoch. Der dreijährige Marius reagierte mit Fluchtinstinkt: Ich rannte raus auf den Flur und setzte mich unter meinen Mantel an der Garderobe. Das war ein Verhaltensmuster, das ich in den Kaufhäusern von Mainz bereits reichlich eingeübt hatte und das meine Mutter schon so einige Nerven gekostet hatte. Ich saß dort gerne unter den Drehständern mit Klamotten. Es fühlte sich nach Geborgenheit an.

Doch zurück zum Thema Kindergarten: Unter meinem Mantel weinte ich meinen Frust raus und ließ mich lange nicht darauf ein, überhaupt wieder zu den blöden anderen Kindern zurückzugehen. Der Hunger trieb mich irgendwann zurück. Doch meine Entscheidung war gefallen: Ich wollte da nicht sein. Ich wollte nach Hause. An einen sicheren Ort ohne diese Anfeindungen. Mit meinen drei Jahren war ich logischerweise nicht in der Lage, mich zu wehren und die Situation zu überblicken. Dass die anderen Kinder mich wegen meiner Hautfarbe verspotteten, war objektiv gesehen natürlich Rassismus. Aber woher sollte ich das wissen? Es tat weh, aber ich war auch nur Teil des Chores der Dreijährigen. Wir trampelten voran, ohne zu reflektieren, was wir taten und sagten. Wie kleine Papageien wiederholten wir Gehörtes und beobachteten neugierig, welche Reaktionen unsere Aussagen wohl auslösen würden. Bekomme ich Applaus oder finden die anderen das doof? Ich fand es doof. Und stand damit auf verlorenem Posten. Sprang mir das pädagogische Personal zur Seite? Absurde Frage! Es war Ende der 60er-Jahre – und Rassismus war totale Normalität. Die Erzieherin sagte etwas wie: „Hab dich nicht so“, und meinte, damit habe sie ausreichend eingegriffen und geschlichtet. Sie empfand mich wahrscheinlich als überempfindlich. Eine kleine Heulsuse eben. Auch die fehlende Unterstützung erklärt wohl mein schnelles Aufgeben. Meine Mutter holte mich ab und schickte mich nie wieder hin. Ich genoss die Zeit zu Hause mit meiner Mutter, wenn meine beiden Schwestern in der Schule waren. Bis ich dann selbst eingeschult wurde. Und diesmal hatte ich Glück. Ich ging sehr gerne zur Montessorischule. Das freiheitliche Schulkonzept gefiel mir außerordentlich. Es war toll, in einem integrativen und multikulturellen Umfeld zu sein. Da waren Kinder aus der ganzen Welt. Da waren Kinder mit Behinderung. Wir alle spielten miteinander. Vielfalt öffnet unseren Horizont!

Dann zogen wir aufs Land, ins Siebengebirge. Wir hatten ein Haus mit Garten in einem Dorf namens Thomasberg. Drum herum waren Felder und der Wald. In Oberpleis bei Königswinter besuchte ich das Gymnasium am Ölberg. Das Highlight des Ortes war damals der neu gebaute Busbahnhof. Er verband uns mit der Welt. Das Schulzentrum – Gymnasium und Realschule in einem Komplex – war riesig. Ein typischer, monströser Betonklotz aus den 70er-Jahren, in dem man immer fröstelte. Aber immerhin war nicht alles grau: Für die Türgriffe hatten sie Gelb genommen … Wir nannten das damals gern „humaner Strafvollzug“. Zu wenig bunt war mir nach meiner multikulturellen Grundschulzeit in der Stadt auch die Zusammensetzung der ländlichen Schülerschaft: Auf der ganzen Schule gab es genau einen afrodeutschen Jungen. Der war ich. Das ist nur so mittelgut, wenn man unentdeckt seine Umgebung erkunden möchte. Doch ich fand Freunde und Freundinnen. Das machte alles leichter. Nach einigen Jahren kam zu meiner Erleichterung ein zweiter dunkelhäutiger Junge an die Schule. Zur Verwunderung aller kannten wir uns vorher nicht. Und obwohl wir uns ganz und gar nicht ähnlich sahen und er als Kenianer auch viel dunkler war als ich mit meiner weißen Mutter, konnten vor allem viele Erwachsene uns nicht unterscheiden. Das führte zu witzigen Verwechslungen. Dabei verband uns optisch nur die Tatsache, dass wir nicht weiß waren. Dieses Phänomen erlebe ich bis heute. Ich betrachte es nicht als typisch für Weiße und als Ausdruck von Rassismus. Auf der ganzen Welt fällt es Menschen schwer, die Angehörigen von Ethnien, mit denen sie selten in Kontakt kommen, zu unterscheiden. Rassistisch ist nur der patzige Satz: „Die sehen ja auch alle gleich aus.“ Denn das tun wir natürlich genauso wenig, wie Joko und Klaas gleich aussehen. Oder Laurel und Hardy.

Ich war von Anfang an weiß sozialisiert. Eine schwarze Community fand in meinem Leben kaum statt. Meine Eltern konnten mir auch nichts über meinen Stammbaum oder gar über die Pflege meines Afros beibringen. Als 15-Jähriger hatte ich in einem Friseursalon ein prägendes Erlebnis: Die Friseurin nahm den Langhaarschneider und begann meinen Kopf ohne Sinn und Verstand zu bearbeiten. Dazu muss man wissen, dass es durchaus eine eigene Kunst ist, einen Afro zu schneiden. Aber statt ihre Schwierigkeiten einzugestehen, rief sie quer durch den Laden: „Das ist mehr so, wie ein Schaf zu scheren.“ Sie wollte wohl nur einen Scherz machen. Aber ich war bis ins Mark getroffen und schämte mich bodenlos. Mir die Normalität abzusprechen und mich einem Tier gleichzusetzen, verletzte mich tief. Ich war mitten in der Pubertät und mit meiner Selbstfindung beschäftigt. Ich verließ den Laden umgehend und unter lautem Protest. Der Frust musste mal raus. Ich war traurig, verletzt und hatte einen wirklich miesen und unfertigen Haarschnitt. Danach musste ich mich dann selbst eingehend mit der Pflege eines Afros auseinandersetzen, da ich zwei Jahre lang keine Friseursalons betrat. Für die Menschen, denen ich auf der Straße begegnete, war es allerdings egal, ob mein Afro gepflegt war oder nicht – viele griffen gerne beherzt und unangekündigt hinein. Und verstanden überhaupt nicht, dass ich diesen körperlichen Übergriff nicht mochte. Das Angrapschen und die Verletzung meiner persönlichen Sphäre waren doch positiv gemeint.

Immer und immer wieder bin ich damals über unbedarfte Formulierungen, schlechte Scherze, instinktlose Bemerkungen und ignorante Fragen einfach hinweggegangen. Ich wollte auf keinen Fall zickig wirken. Und ich beruhigte mich mit der Annahme, es sei bestimmt nicht böse gemeint. Mit den in uns allen schlummernden Ressentiments habe ich mich nicht auseinandergesetzt. Die rassistischen Strukturen, die sich in unserer Sprache wiederfinden, habe ich nicht erkannt. Und deshalb habe ich den Rassismus nur unbewusst gespürt, wie einen dumpfen Schmerz, den man sich nicht erklären kann. An die Verletzungen durch Sticheleien erinnere ich mich nur noch, weil da kleine Narben sind. Nur die Eskalationen sind mir deutlich im Gedächtnis geblieben. Der Rest ist diffus und liegt im Nebel, weil ich ihn lange Zeit verdrängt habe.

Zwischendurch mal ein wenig Kulturgeschichte: Johann Wolfgang von Goethe war ein begnadeter Schriftsteller. Insbesondere seine Gedichte gehören zum Schönsten, was je in deutscher Sprache geschrieben wurde. Seine weiße Haut befähigte ihn, Gefühle in Worte zu fassen, wie nur wenige andere es konnten.

Karl Marx war einer der bedeutendsten Sozialwissenschaftler, die es je gab. Sein krauses Haar ermöglichte ihm die hellsichtige Analyse des Kapitalismus, der sich zu seiner Zeit voll entwickelte.

Der Afroamerikaner Jimi Hendrix ist eine Legende des Gitarrenspiels. Er hatte die Musikalität und das Rhythmusgefühl seiner Community im Blut wie wenige andere.

Hand aufs Herz: Ohne die beiden ersten Beispiele wäre Ihnen das dritte nicht besonders aufgefallen, oder? Mir übrigens lange Zeit auch nicht. Als Teenager freute ich mich lieber darüber, wie sehr meine Umgebung schwarze Musiker wie Jimi Hendrix bewunderte – und dass sie deren besondere Musikalität gerne auch mit der Hautfarbe begründete. Das wertete mich als Schwarzen auf. Das war für mich ein Benefit. Wer nimmt den nicht gerne mit? Ein Gesangstalent brachte ich mit – und bestätigte damit alle, die mir ob meiner Hautfarbe einen gewissen Soul andichteten. Aber eine Hautfarbe ist nicht musikalisch. Jimi Hendrix war einer der besten Gitarristen der Welt, weil er hoch talentiert war und für sein Gitarrenspiel lebte. Er war ein Ausnahmekünstler. Das hat aber nichts mit seinem Äußeren zu tun. Und man kann auch nicht allen dunkelhäutigen Menschen mit Afro eine hohe Musikalität zusprechen. So nett der gönnerhafte und herablassende Satz „Singen und tanzen können die alle“ auch gemeint sein mag – er schmälert definitiv die Leistung der Einzelnen. Und er ist eine Verallgemeinerung. Das musste ich auch erst im Laufe meines Lebens verstehen: Auch ein positiv gemeintes Vorurteil ist – ein Vorurteil.

Ich singe viel und gerne. Angefangen habe ich schon als Knabe im gemischten Chor der Sängerjugend Siebengebirge. Es folgte der Stimmbruch mit dem Ausschluss aus dem Chor. Auch wenn ich damals einmal der Versuchung erlag, einem Lehrer Rassismus vorzuwerfen, weil er meine schlechte Arbeit entsprechend benotet hatte – beim Ausschluss aus dem Chor verkniff ich mir so ein dummes „Ich bin das Opfer“-Manöver. Schon weil mit mir lauter weiße Jungs ebenfalls wegen kieksiger Stimmsprünge gehen mussten. Wie dem auch sei: Die Stimme wurde tiefer und der Musikgeschmack rockiger und souliger. Mit 19 Jahren war ich Frontmann in verschiedenen Bands. Wir waren schlecht und hatten Spaß dabei. In meinem Umfeld war es für Bands ein Qualitätsmerkmal, einen dunkelhäutigen Frontmann zu haben. Das gab mir einen Vorschuss. Aus heutiger Sicht hatte es einen faden Beigeschmack: Sie wollten nicht in erster Linie Marius, sondern „einen Schwarzen“. Wie schon gesagt: Die Komplimente für meine Stimme wurden meist mit meiner Hautfarbe verbunden. Damals wirkte das auf mich sogar ermutigend. Es war Empowerment, weil es meinen Wert oder genauer gesagt: den Wert meiner dunklen Hautfarbe steigerte. Die ja sonst oft genug zu einer Abwertung führte. Es schien mir also nur gerecht.

Heute kann ich einschätzen, dass die Verbindung einer Fähigkeit wie Musikalität oder Poesie mit der Hautfarbe oder Herkunft eines Menschen ein Kompliment zumindest abschwächt und ent-individualisiert.

Mit Anfang 20 begann ich, Kabarett zu machen. Erst war ich aber nicht in der Lage, meine Hautfarbe auf der Bühne zu thematisieren. Ich hatte keine klare Sicht darauf, was sie für mich bedeutete, weil ich mich niemals mit dem Rassismus auseinandergesetzt hatte, der mich seit jeher begleitete. Erst der Besuch bei meinem leiblichen Vater in Chicago Mitte der 90er-Jahre veränderte meinen Umgang mit meinem Schwarzsein. Ich hatte ihn bis dahin nie gesehen. Das neue und noch recht karge Internet bot die ersten Suchmaschinen. Und tatsächlich fand ich ihn in Chicago. Kurz entschlossen flog ich hin. Chicago, die Stadt des Blues und des Jazz. Der berühmte, altehrwürdige Green Mill Jazz Club und The Cotton Club schenkten mir erstmals die Erfahrung, Weiße nur als Zaungäste zu erleben. Das entlockte mir dann doch ein zufriedenes Lächeln. Es sind die kleinen Dinge, die Freude bringen – aber tatsächlich hatte ich in meinem ganzen Leben noch nie so viele Menschen of Color in einem Raum gesehen. Es war im ersten Moment befremdlich. Dann stellte sich ein Gefühl der Geborgenheit ein. Hier konnte ich wesentlich besser in der Menge untertauchen als in Köln auf der Domplatte!

Wie geplant kam es dann zu diesem ganz besonderen Moment: Mein leiblicher Vater stand mir gegenüber. Mein Stiefvater war und ist zeitlebens mein Papa. Aber das hier war etwas anderes. Vor meinem leiblichen Vater zu stehen, das war für mich zum ersten Mal wie dieser ganz besondere Spiegel. Den bekommst du nur bei nächsten Verwandten. Seine Hände sahen aus wie meine. Und meine Ohren wie seine. Das war auf eine merkwürdige Art befreiend. Tage später hatte ich das Gefühl, eine Aufgabe gelöst zu haben. Sie hatte mir lange im Weg gestanden – unbewusst und schweigend, aber doch beharrlich und fordernd. Der Knoten war gelöst. Zu sehen und zu spüren, woher man kommt, ist so wichtig. Meine Kindheit und Jugend habe ich mit meiner Mutter und dem Mann erlebt, den ich bis heute meinen Vater nenne. Aber ich bin eben auch ein Teil des Mannes, den ich nur dieses eine Mal getroffen habe. Mit dem ich damals ein wenig Zeit verbracht habe. Er nahm mich mit seiner Videokamera auf und ich fotografierte ihn. Ich erzählte, was ich beruflich so machte, wie viele Geschwister ich habe und wie ich wohnte. Er erzählte von der Zeit, in der er mich verließ – noch vor meiner Geburt. Ich habe ihn nicht gefragt, warum er sich nie nach mir erkundigt hatte. Irgendwann ging ich dann von diesem Parkplatz in Chicago weg, wie aus dem Set eines Kammerspiels, und betrank mich anschließend mit Brandy aus der Minibar in meinem Hotelzimmer.

Nach dieser Begegnung, die ein fehlendes Puzzleteil in meine Biografie eingepasst hatte, setzte ich mich zum ersten Mal ernsthaft mit meiner Hautfarbe auseinander. Das war reinigend. Ich war 30, und es war Zeit, die Leichen aus dem Keller zu holen. Als Kind hatte ich immer die N-Wort-Witze erzählt, um mit dem Lacher die Oberhand zu behalten. Ich war überzeugt, so könnten die anderen sich nicht mehr über mich lustig machen, da ich den Gag ja schon gebracht hatte.

Jetzt begann ich, das Thema Rassismus satirisch, also ernsthaft(!) aufzuarbeiten. Auf der Bühne provozierte ich, indem ich nun sensible Wörter ins Spiel brachte, um meinem Publikum die Härte des Themas klarzumachen. Das N-Wort wurde damals von der Mehrheit der Menschen of Color als provokativ, aber in einer ausdrücklich satirischen Verwendung nicht als anstößig gesehen. Ende 2013 kam dann mein erstes Buch auf den Markt. Der Titel Singen können die alle! Ein Handbuch für Negerfreunde und das Coverfoto, das mich nur mit einer großen Geschenkschleife bekleidet zeigte, war provokativ und wurde auch so behandelt. Nach anfänglichem Teilboykott durch die Buchhändler*innen löste das Buch dann Mitte 2014 ein so großes Medienecho aus, dass die meisten Läden nachzogen. Zu verdanken war die Aufmerksamkeit nicht zuletzt einer unfreiwillig komischen Aktion der Leipziger Studierendenvertretung. Deren Referat für Gleichstellung und Lebensweisenpolitik hatte meinem Buch einen ironischen Antipreis für diskriminierende Werbung (gemeint waren Buchtitel und -cover) verliehen und mich und den Verlag zur Preisverleihung eingeladen – offensichtlich ohne zu verstehen, dass es sich erstens um eine erkennbar satirisch-humoristische Publikation handelte, dass der Autor zweitens schwarz war und dass der drittens Titel und Cover selbst bestimmt hatte. Sie konnten in mir offenbar nur das hilflose Opfer eines weißen Rassistenverlags sehen, der mich bloßgestellt hatte, um sein Produkt zu verkaufen. Meine Autonomie bei allen Entscheidungen sprengte anscheinend ihr Bild eines Schwarzen. Die Folge waren jede Menge belustigter Medienberichte. Auf meine freudige Zusage, den Preis persönlich entgegenzunehmen, machten die Veranstalter*innen dann einen Rückzieher, weil inzwischen klar war, dass mehrere Fernsehteams auftauchen würden. Die Peinlichkeit, einen Schwarzen für seinen Rassismus „auszuzeichnen“ und vorzuführen, wollte man sich dann offenbar doch ersparen. Und mein Vorschlag eines Gesprächs wurde leider ausgeschlagen.

Mir ist klar, dass die Student*innen mein Hauptanliegen teilten, nämlich den Kampf gegen Rassismus und Diskriminierung. Aber sie gingen die Sache leider schematisch und ohne jeden Sinn für Humor an. Diese Episode (ver)führte meinen Lektor und mich dann übrigens dazu, ein zweites Buch nachzulegen, in dem wir uns über das lustig machten, was heute „woke“ genannt wird, also „erwacht“ oder „wach“ – das ist ein erst seit Kurzem bei uns verwendeter Begriff, der eine Sensibilisierung für soziale Ungerechtigkeiten wie Rassismus beschreibt. Das Buch heißt Moral für Dumme: Das Elend der politischen Korrektheit. Aus meiner heutigen Sicht ist es ambivalent: Einerseits übt es Kritik an Auswüchsen der „Wokeness“, zu der ich auch heute noch stehe: Es gibt auch die übertrieben Woken oder Superwoken, zu denen ich später noch komme! Andererseits ist es ein Dokument der Abwehr gegen Änderungen beispielsweise der Sprache. Diese Teile würde ich heute gar nicht mehr oder wenn, dann sehr anders schreiben. So ändern sich Debatten und Einstellungen manchmal innerhalb weniger Jahre.

Über das erste Buch und seinen Titel führe ich bis heute viele gute und kontroverse Diskussionen. Dass ich das N-Wort – wie ich weiterhin meine: in erkennbar satirischer Form und Absicht – auf das Buchcover gebracht hatte, wurde oft kritisiert. Manchmal allerdings ohne dass Menschen sich die Mühe gemacht hatten, wenigstens die erste Seite des Buchs zu lesen. Dort stand geschrieben: „Grundregel 1: Das Wort Neger hat inzwischen den Beigeschmack des Rassismus und sollte von nicht-schwarzen Menschen nicht verwendet werden.“ Ich habe damals bewusst eine für „meine Community“ provozierende Formulierung gewählt. Heute sage ich: Das N-Wort ist rassistisch und sollte von nicht-schwarzen Menschen nicht verwendet werden.

Seit der Veröffentlichung meines ersten Buchs bin ich durch das Lesen vieler Artikel und Bücher, durch Diskussionen und durch Streitgespräche bei vielen Themen zu neuen Überlegungen und Ideen gelangt. (Wäre ja auch schlimm, wenn es anders wäre.) So war ich beispielsweise 2019 für die ZDF-History-Sendung „Rassismus: Die Geschichte eines Wahns“ in Deutschland unterwegs, um im Gespräch mit Expert*innen die Mechanik des Rassismus teilweise offenzulegen. Ich interviewte Menschen, um der Frage nachzuspüren, wie und wieso das Denken in Rassenkategorien entstanden ist.

Wie erwähnt betrachte ich beispielsweise Debatten über rücksichtsvolle und achtsame Sprache heute deutlich differenzierter. Ich gehe zärtlicher und vorsichtiger mit Worten um. Das ist für einen Comedian keine geringe Herausforderung, weil Comedy zwangsläufig mit Zuspitzungen und Übertreibungen arbeitet. Ein durch und durch achtsamer Humor hätte es sicherlich schwer, sein Publikum zu finden und zum Lachen zu bringen. Zudem bin ich in einer weitaus grobschlächtigeren Zeit aufgewachsen. Machohaftes und Rassistisches wurde sprachlich nicht hinterfragt. So fand ich es immer spannend, mein Publikum nach seinem Sprachgebrauch zu fragen: „Wie nennen Sie nicht-weiße Menschen?“ Oft wurde mir gerade in ländlichen Gebieten recht unbekümmert das N-Wort genannt. Auf meinen Einwand, ich hätte doch eben erklärt, wie rassistisch das sei, war die Antwort immer dieselbe: „Ich mein das doch nicht so.“

Eines Abends gab eine ältere Dame wieder einmal diese Argumentation zum Besten. Da sagte ich mit meinem herzlichsten Lächeln zu ihr: „Wissen Sie was? Wenn wir uns erst mal besser kennen, dann nenne ich Sie nur noch Schlampe. Meine ich total nett.“ Sie sah mich zunächst geschockt an, um dann aber verstehend zu lächeln. Diese didaktisch sehr wertvolle Szene wäre heute so vermutlich nicht mehr denkbar. Die meisten würden wohl nicht mehr zugeben, dass sie das N-Wort verwenden. Und vielleicht tun es auch wirklich weniger als noch vor zehn Jahren, weil die Botschaft vom rassistischen Charakter des Wortes sich zum Glück weiter herumgesprochen hat. Vor allem aber würde eine Gesprächssituation, in der jemand auf meine Aufforderung hin(!) einräumt, das N-Wort zu benutzen, sofort skandalisiert, weil dabei eben die Buchstaben N-E-G-E-R ausgesprochen werden müssten. Was für das sofortige Auslösen des Empörungsdetektors und einen Shitstorm sorgen würde. Und einen Nebenshitstorm gäbe es, weil ich als Mann gegenüber einer Frau das S-Wort verwendet hätte. Eigentlich auch bedauerlich, dass wir die Fettnäpfchen inzwischen so dicht an dicht aufgestellt haben, dass solche Aha-Momente nicht mehr möglich sind.

Heute lebe ich mit meiner Familie in Köln. Mein Umfeld besteht aus vielen Individualist*innen, Künstler*innen und anderen liebenswerten Spinner*innen. Ich fühle mich wohl. Mein Umfeld ist divers. Ich fühle mich sicher und aufgehoben. Und ich muss nichts mehr weglächeln. Wenn eine Freundin von einer Pflegekraft als „unserer Polin“ spricht, kann ich das ansprechen und diskutieren. Und die Sache ist vom Tisch. Es ist ein sicherer Ort. Auch wenn mein Leben natürlich auch heute nicht frei von Rassismus ist.

Wer wird denn da gleich Schwarz sehen

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