Читать книгу Das Seltsame und das Gespenstische - Марк Фишер - Страница 7
Aus dem Raum und aus der Zeit: Lovecraft und das Seltsame
ОглавлениеWas ist das Seltsame? Was für ein Gefühl meinen wir, wenn wir sagen, dass etwas seltsam ist? Ich möchte zeigen, dass das Seltsame eine bestimmte Form der Störung ist. Es enthält das Gefühl, dass etwas nicht stimmt: ein seltsames Wesen oder Objekt ist so merkwürdig, dass wir denken, es sollte nicht existieren oder zumindest sollte es nicht hier existieren. Aber wenn das Wesen oder das Objekt hier ist, dann können die Kategorien, mit denen wir bisher die Welt begriffen haben, nicht mehr gelten. Aber es ist nicht das Seltsame, mit dem etwas nicht stimmt: Es sind unsere Vorstellungen, die unpassend sein müssen.
Definitionen aus Wörterbüchern sind nicht immer hilfreich, um das Seltsame zu verstehen. Manche verweisen sofort auf das Übernatürliche, obwohl keinesfalls klar ist, dass übernatürliche Dinge auch seltsam sein müssen. In vielerlei Hinsicht ist ein natürliches Phänomen, wie ein schwarzes Loch, seltsamer als ein Vampir. Und in der Literatur sorgt die gattungsmäßige Wiedererkennbarkeit von Vampiren oder Werwölfen dafür, dass sich überhaupt kein Gefühl des Seltsamen einstellt. Es gibt ein überliefertes Wissen, wie solche Kreaturen zu deuten und zu verorten sind. Monströs sind sie also allenfalls ihrer Erscheinung nach; aber zusammengesetzt sind sie aus Elementen der empirischen Welt, die wir kennen und verstehen. Zugleich bedeutet die Tatsache, dass es sich um übernatürliche Wesen handelt, dass jede Fremdheit, die ihnen eigen ist, in ein Reich jenseits der Natur relegiert wird. Man vergleiche das mit einem schwarzen Loch: Die bizarre Art und Weise, wie es Raum und Zeit verformt, liegt vollkommen außerhalb unserer gewöhnlichen Erfahrung. Und dennoch sind schwarze Löcher Teil unseres Kosmos – eines Kosmos, der darum viel merkwürdiger ist, als wir begreifen können.
Es war diese Ahnung, die die seltsame Literatur von H.P. Lovecraft inspiriert hat. »Alle meine Geschichten basieren auf der fundamentalen Prämisse, dass die gewöhnlichen menschlichen Gesetze, Interessen und Emotionen keine Geltung oder Bedeutung im großen Kosmos insgesamt haben«, schrieb Lovecraft 1927 dem Herausgeber der Zeitschrift Weird Tales. »Um zum Wesen echter Externalität vorzudringen, sei es der Zeit, des Raumes oder der Dimension, muss man solche Sachen wie das organische Leben, Gut und Böse, Liebe und Hass und all die lokalen Attribute einer vernachlässigbaren und vorübergehenden Rasse namens Menschheit vergessen.« Diese Qualität einer »echten Externalität« ist entscheidend, damit wir etwas als seltsam bezeichnen können.
Jede Diskussion über seltsame Literatur muss mit Lovecraft beginnen. Mit seinen in Groschenheften veröffentlichten Geschichten hat Lovecraft das Genre praktisch erfunden und eine Formel entwickelt, die sowohl von Fantasy- als auch von Horrorliteratur unterschieden werden kann. Lovecrafts Geschichten beschäftigen sich obsessiv mit dem Außen, das heißt mit einer Außenwelt, der wir im Kontakt mit anormalen Wesen aus fernen Zeiten begegnen, in veränderten Bewusstseinszuständen oder bei bizarren Verdrehungen der Zeitstruktur. Oft endet eine solche Begegnung mit dem Außen in einem Zusammenbruch oder einer Psychose. Regelmäßig stellt sich die Innenwelt, in die das Außen gleich einer Katastrophe einbricht, retrospektiv als trügerische Hülle und als Schwindel heraus. Nehmen wir »The Shadow over Innsmouth« (dt. »Schatten über Innsmouth«), wo am Ende enthüllt wird, dass die Hauptfigur selbst ein aquatisches Alien, ein sogenanntes »Tiefes Wesen« ist. Ich bin Es – oder noch besser, Ich bin Sie.
Obwohl Lovecraft gemeinhin als Horrorschriftsteller gilt, rufen seine Geschichten selten das Gefühl der Angst hervor. In dem Essay »Notes on Writing Weird Fiction« (dt. »Anmerkungen zum Schreiben unheimlicher Erzählungen«), in dem es um die Motive seines Schreibens geht, nennt Lovecraft zuerst gar nicht die Angst, sondern spricht von »vagen, flüchtigen, fragmentarischen Eindrücken des Wundersamen, Schönen und der erwartungsvollen Abenteuerlichkeit«, die er erzeugen möchte. Die Betonung des Schreckens in seinen Geschichten, so Lovecraft weiter, sei eine Folge der Begegnung mit dem Unbekannten.
Entsprechend geht es bei Lovecrafts Version des Seltsamen nicht um Angst, sondern um Faszination, auch wenn dieser Faszination oft eine gewisse Furcht beigemischt ist. Dies könnte für den Begriff des Seltsamen allgemein gelten. Es stößt uns nicht einfach ab, es muss zugleich unsere Aufmerksamkeit fesseln. Eine Geschichte, die keine Faszination, sondern nur Angst hervorruft, ist nicht seltsam. Faszination ist der Affekt, der Lovecrafts Figuren und seine Leser verbindet. Angst und Schrecken werden nicht in derselben Weise geteilt; Lovecrafts Charaktere haben oft Angst, seine Leser jedoch nur selten.
Bei Lovecraft ist die Faszinationen eine Form von Jacques Lacans jouissance: ein Genuss, der sich durch die Untrennbarkeit von Lust und Schmerz auszeichnet. In seinen Geschichten wimmelt es davon, die jouissance schäumt geradezu. »Schäumen« und »wimmeln« sind Worte, die Lovecraft häufig benutzt, aber sie treffen genauso gut jenes »obszöne Gelee« der jouissance. Damit soll nicht die absurde Behauptung aufgestellt werden, es gäbe keine Negativität bei Lovecraft – Ekel und die Abscheu liegen offen zutage –, aber sie behält nicht das letzte Wort. Das Werk der jouissance zeichnet sich immer durch eine exzessive Beschäftigung mit Objekten aus, die »offiziell« negativ besetzt sind. Diese Art des Genusses »erlöst« die Negativität nicht, sondern sublimiert sie. Sie verwandelt ein gewöhnliches Objekt, das Unlust erzeugt, in ein Ding, das schrecklich und verführerisch ist und das nicht mehr als libidinös positiv oder negativ eingeordnet werden kann. Das Ding überwältigt, es kann nicht gebändigt werden, aber es fasziniert.
Vor allem ist Faszination bei Lovecraft gleichsam der Motor des Verhängnisses. Sie ist es, die die bücherliebenden Figuren seiner Schriften in den Abgrund reißt, in die Desintegration oder die Degeneration, und wir, die Leser, sehen das Unglück immer schon voraus. Sobald man ein oder zwei Geschichten Lovecrafts gelesen hat, weiß man ganz genau, was man zu erwarten hat. Wenn ein Leser Lovecrafts Erzählungen das erste Mal begegnet, kann man sich tatsächlich schwer vorstellen, dass er vom Ausgang der Geschichte überrascht wäre. Daraus folgt, dass weder Spannung noch Angst zu den Kennzeichen von Lovecrafts Literatur gehören.
Folglich passt Lovecrafts Werk auch nicht zur strukturalistischen Definition der Fantastik Tzvetan Todorovs. Laut Todorov zeichnet sich das Fantastische durch eine Balance zwischen dem Unheimlichen (Geschichten, die sich am Ende naturalistisch auflösen) und dem Wunderbaren (Geschichten, die sich übernatürlich auflösen) aus. Obwohl Lovecrafts Erzählungen, wie er in »Notes on Writing Weird Fiction« ausführt, die »Illusion einer merkwürdigen Aussetzung oder Verletzung der ärgerlichen Grenzen von Zeit, Raum und Naturgesetz« enthalten, »die uns ständig einkerkern und unsere Wißbegier über die unendlichen kosmischen Räume jenseits unseres Blickfeldes und unsere analytischen Fähigkeiten zunichte machen«, gibt es dennoch niemals Anzeichen der Beteiligung übernatürlicher Wesen. Menschliche Versuche, fremde Wesen in Götter zu verwandeln, hält Lovecraft eindeutig für eitle Akte des Anthropomorphismus, für vielleicht noble aber letztlich absurde Versuche, der »echten Externalität« eines Kosmos Bedeutung und Sinn aufzudrücken, in dem menschliche Belange, Perspektiven und Begriffe nur einen lokalen Bezug haben.
In seinem Buch Lovecraft: A Study in the Fantastic ordnet Maurice Lévy Lovecraft in eine »fantastische Tradition« ein, zu denen die Schauerromane, Edgar Allen Poe, Nathaniel Hawthorne und Ambrose Bierce gehören. Doch Lovecrafts Insistenz auf der Materialität anormaler Wesen unterscheiden ihn deutlich von den Autoren der Schauerromane und Edgar Allen Poe. Obwohl jede Erzählung das, was wir gewöhnlichen Naturalismus nennen können – die normale, empirische Welt des gesunden Menschenverstandes und der euklidischen Geometrie – am Ende vernichtet, tritt an dessen Stelle doch ein Hypernaturalismus – ein erweitertes Verständnis dessen, was der materielle Kosmos enthält.
Lovecrafts Materialismus ist ein Grund, warum ich glaube, dass wir zwischen seiner Literatur – ja dem Seltsamen insgesamt – und der Fantasyliteratur unterscheiden sollten. (Es sei allerdings erwähnt, dass Lovecraft selbst in »Notes on Writing Weird Fiction« gern das Seltsame und das Fantastische in eins fallen lässt.) Beim Fantastischen handelt es sich eher um eine Oberkategorie, unter die ein großer Teil der Science Fiction und Horrorliteratur fällt. Nicht dass dies Lovecrafts Werk unangemessen wäre, aber es verfehlt, was an seiner Methode einzigartig ist. Fantasy wiederum bezeichnet ein spezifischeres Set an Genremerkmalen. Lord Dunsany, Lovecrafts früheste Inspirationsquelle, und J.R.R. Tolkien sind paradigmatische Fantasyschriftsteller und ihre Kontrastierung erlaubt uns, das Seltsame besser zu verstehen. Fantasy spielt sich in Welten ab, die radikal anders sind als unsere, wie Dunsanys Pegāna oder Tolkiens Mittelerde, sowohl in zeitlicher als auch in räumlicher Hinsicht (während in ontologischer oder politischer Sicht allerdings viele Fantasiewelten unserer nur allzu ähnlich sind). Das Seltsame wiederum zeichnet sich dadurch aus, dass es eine Verbindung stiftet zwischen unserer und einer fremden Welt. Es gibt natürlich Geschichten und Serien – wie C.S. Lewis’ Bücher über »Narnia«, Lyman Frank Baums »Oz«, Stephen Donaldsons Chroniken von Thomas Convenant –, in denen eine Passage von unserer Welt in die andere führt, sich aber nicht das Gefühl des Seltsamen einstellt. Das hat damit zu tun, dass die in »dieser Welt« spielenden Teile solcher Erzählungen meist nicht als Vor- oder Nachspiel einer gewöhnlichen Fantasygeschichte dienen. Die Figuren gehen von einer Welt in die andere, aber diese hat keinen Einfluss auf jene, abgesehen von dem Effekt auf zurückkehrenden Figuren. Bei Lovecraft allerdings gibt es ein Zusammenspiel, einen Austausch, eine Konfrontation, ja einen Konflikt zwischen unserer Welt und den anderen.
Deswegen ist es von besonderer Bedeutung, dass Lovecraft so viele seiner Geschichten in New England spielen lässt. Lovecrafts New England, schreibt Maurice Lévy, ist ein Ort, dessen »Wirklichkeit – physisch, topographisch, historisch – hervorzuheben ist. Es ist weithin bekannt, dass das wahrhaft Fantastische nur dort existiert, wo das Unmögliche durch Zeit und Raum in einen objektiv bekannten Ort einbrechen kann.« Ich schlage daher vor, dass Lovecraft, indem er sich von der Tradition Dunsanys löste, aufgehört hat, ein Fantasyschriftsteller zu sein und stattdessen ein Autor des Seltsamen wurde. Ein erstes Merkmal einer Literatur des Seltsamen, zumindest in Lovecrafts Version, wäre – um Lévys Satz aufzugreifen –, dass nicht das Unmögliche, sondern das Außen »durch Zeit und Raum in einen objektiv bekannten Ort einbrechen kann«. Eine fremde Welt kann völlig anders sein als unsere, was den Ort oder sogar die physischen Gesetze, die dort herrschen, betrifft, ohne darum seltsam zu sein. Es ist der Einbruch von einem Außen in diese Welt, der das Seltsame auszeichnet.
Hier sehen wir, warum das Seltsame ein bestimmtes Verhältnis mit dem Realismus unterhält. Lovecraft selbst hat oft sehr abschätzig über den Realismus gesprochen. Hätte er sich jedoch vollständig von ihm losgesagt, wäre er niemals der Fantastik von Dunsany und de la Mare entkommen. Präziser wäre es, zu sagen, dass Lovecraft den Realismus eingehegt oder verortet hat. In einem Brief von 1927 an den Herausgeber von Weird Tales sagt er das ganz explizit:
»Nur die menschlichen Szenen und Charaktere müssen auch menschliche Eigenschaften haben. Die müssen mit schonungslosem Realismus dargestellt werden, (keinem billigen Romantizismus) aber wenn wir die Grenze zum unendlichen, furchtbaren Unbekannten überschreiten – das von Schatten heimgesuchte Außen –, dann müssen wir alles Menschliche und Irdische zurücklassen.«
Die Kraft von Lovecrafts Erzählungen hängt von der Differenz zwischen dem Irdisch-Empirischen und dem Außen ab. Das ist ein Grund, warum sie so oft in der ersten Person geschrieben sind: wenn das Außen langsam einem menschlichen Subjekt zu Leibe rückt, dann treten seine unwirklichen Konturen stärker hervor; das »unendliche, furchtbare Unbekannte« einfangen zu wollen, ohne einen Bezugspunkt zur Realität zu haben, riskiert, banal zu werden. Lovecraft braucht die irdische Welt aus demselben Grund, wie ein Maler auf seiner Leinwand dem riesigen Gebäude eine menschliche Figur zur Seite stellt: um ein Größenverhältnis kenntlich zu machen.
Eine vorläufige Bestimmung des Seltsamen mag daher mit dem merkwürdigen und unscharfen Wörtchen »aus« (out of) beginnen, das Lovecraft in zwei seiner Geschichten verwendet, »The Colour Out of Space« (dt. »Die Farbe aus dem All«) und »The Shadow Out of Time« (dt. »Der Schatten aus der Zeit«). Auf den ersten Blick bedeutet »aus« hier natürlich schlicht »von« (from). Aber man muss vor allem bei »The Shadow Out of Time«, noch eine zweite Bedeutung in Betracht ziehen, nämlich die Vorstellung, dass etwas entfernt, herausgeschnitten, herausgenommen wurde. Der Schatten besteht aus Zeit, er ist aus der Zeit herausgeschnitten worden. Dass bei Lovecraft Dinge von ihrem angestammten Platz entfernt werden, verbindet ihn mit der von den historischen Avantgarden verwendeten Collagetechnik. Aber es gibt auch noch eine dritte Bedeutung von »aus«, nämlich im Sinne von »außerhalb«. Der Schatten aus der Zeit ist in gewissem Sinn ein Schatten, der jenseits der Zeit liegt, wie wir sie normalerweise verstehen und erfahren.
Um ein Gefühl des Jenseitigen zu erzeugen und das Außen greifbar zu machen, können sich Lovecrafts Geschichten nicht auf bekannte Figuren oder Überlieferungen stützen. Sein Schreiben hängt entscheidend mit der Produktion von Neuem zusammen. China Miéville schreibt in seinem Vorwort zu Lovecrafts At the Mountains of Madness (dt. Berge des Wahnsinns): »Lovecraft steht außerhalb jeder volkstümlichen Tradition: hier geht es nicht um die Modernisierung bekannter Figuren wie Vampir oder Werwolf (oder Garuda, Rusalka oder irgendeinen anderen traditionellen Kinderschreck). Lovecraft schafft ein Pantheon und Bestiarium sui generis.« Hinzu kommt eine weitere wichtige Dimension von Lovecrafts Schöpfungen: Das radikal Neue an ihnen wird vom Autor dementiert und verhüllt. Miéville fährt fort: »In Lovecrafts Narrativ [...] gibt es ein Paradox. Obwohl sein Begriff des Monströsen und seine Herangehensweise an das Fantastische vollkommen neu sind, tut er so als sei das nicht der Fall.« Wenn Lovecrafts Protagonisten mit seltsamen Wesen in Kontakt kommen, dann finden sie oft Parallelen zu Mythen und Überlieferungen, die Lovecraft selbst erfunden hat. Seine Rückprojektion eines neu entworfenen Mythos in tiefste Vergangenheit rufen hervor, was Jason Colavito mit Blick auf Erich von Däniken und Graham Hancock den »Kult der außerirdischen Götter« nennt. Lovecrafts nachträgliche Verankerung des Neuen in der Vergangenheit ist auch dafür verantwortlich, warum seine seltsamen Geschichten gleichsam aus der Zeit gefallen sind; so wie in der Erzählung »The Shadow Out of Time«, wo die Hauptfigur Peaslee unter architektonischen Relikten von ihm selbst geschriebene Texte findet.
China Miéville argumentiert, dass diese Innovation bei Lovecraft unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges entstanden sei: der traumatische Bruch mit der Vergangenheit habe das Neue hervortreten lassen. Aber vielleicht ist es hilfreich, Lovecrafts Werk als Auseinandersetzung mit dem Trauma überhaupt zu verstehen, insofern als es sich mit Rissen im Gewebe der Erfahrung beschäftigt. Einige Bemerkungen von Freud in Jenseits des Lustprinzips legen nahe, dass er davon ausging, dass das Unbewusste jenseits von Kants »transzendentalen« Kategorien Raum, Zeit und Kausalität operiert, die die Wahrnehmung und das Bewusstsein regieren: »Der Kantsche Satz, daß Zeit und Raum notwendige Formen unseres Denkens sind, kann heute infolge gewisser psychoanalytischer Erkenntnisse einer Diskussion unterzogen werden.« Eine Möglichkeit, die Funktionen des Unbewussten zu begreifen und zu verstehen, wie genau dieser Bruch mit Zeit, Raum und Kausalität vonstatten geht, bestand im Studium der Psyche von Traumatisierten. Das Trauma kann als eine Art transzendentaler Schock begriffen werden, was wiederum Lovecrafts Schriften treffend beschreibt. Das Außen liegt nicht in der »empirischen« Außenwelt, sondern in der transzendentalen Außenwelt; das heißt es geht nicht nur darum, dass etwas zeitlich und räumlich fern ist, sondern um etwas, das jenseits unserer gewöhnlichen Erfahrung und jenseits unseres gewöhnlichen Verständnisses von Zeit und Raum selbst liegt. Immer wieder betont Freud, dass das Unbewusste weder Zeit noch Raum kennt. Daher das an M.C. Escher gemahnende Bild in Das Unbehagen in der Kultur, worin Freud das Unbewusste mit der Stadt Rom vergleicht und als Ort beschreibt, in dem »nichts, was einmal zustande gekommen war, untergegangen ist, in dem neben der letzten Entwicklungsphase auch alle früheren noch fortbestehen.« Freuds seltsame Geometrie zeigt deutliche Parallelen zu Lovecrafts Erzählungen und ihren ständigen Verweisen auf nicht-euklidische Räume. Man betrachte zum Beispiel die Beschreibung der »Geometrie des im Traum geschauten Ortes« in »Call of Cthulhu« (dt. »Cthulhus Ruf«): »abnorm [...], nicht euklidisch und auf ekelerregende Weise an Sphären und Dimensionen fern der unseren gemahnend.«
Es ist wichtig, Lovecraft nicht zu schnell eine Idee des Undarstellbaren unterzuschieben. Zu oft nimmt man ihn für bare Münze, wenn er seine eigenen Wesen und Gestalten »unnennbar« oder »unbeschreiblich« nennt. Wie China Miéville ausführt, bezeichnet Lovecraft ein Wesen immer dann als »unbeschreiblich«, wenn er anfängt, es detailliert zu beschreiben. Ebenso wenig ist Lovecraft zögerlich bei der Verleihung von Namen, auch wenn er das in der Geschichte »The Unnameable« (dt. »Das Unnennbare«) verspottet, aber zugleich verteidigt. Neben der Behauptung und ihrer anschließenden Widerlegung gibt es jedoch noch ein drittes Moment: Nachdem, erstens, etwas als »unbeschreiblich« bezeichnet wird und, zweitens, die Beschreibung erfolgt, resultiert daraus, drittens, eine Art Unbildlichkeit. Denn trotz aller Details oder vielleicht gerade deshalb, erlauben Lovecrafts Beschreibungen dem Leser nicht, die logorrhoische Schizophonie der Adjektive zu einem geistigen Bild zu verdichten. Deshalb hat Graham Harman den Effekt solcher Passagen mit dem Kubismus verglichen. Wenn Lovecraft in »Dreams in the Witchhouse« (dt. »Träume im Hexenhaus«) von einer »Ansammlung von Würfeln und Flächen« spricht, wird dieser Vergleich noch eindrücklicher. Tatsächlich kommen in einer ganzen Reihe seiner Erzählungen kubistische und futuristische Techniken und Motive zum Tragen, meistens als (vorgebliche) Hassobjekte. Doch selbst wenn er der modernen Kunst feindlich gegenüberstand, hat Lovecraft doch erkannt, dass sie zur Darstellung des Außen genutzt werden kann.
Bis jetzt hat sich meine Auseinandersetzung mit Lovecraft auf das konzentriert, was in den Geschichten geschieht. Doch einer der wichtigsten Effekte des Seltsamen entsteht bei Lovecraft zwischen seinen Texten. Die Systematisierung von Lovecrafts Erzählungen zu einem »Mythos« wurde zwar von seinem Anhänger August Derleth geleistet, doch der Zusammenhang zwischen den Geschichten, die Art und Weise, wie sie eine konsistente Realität bilden, ist entscheidend, um zu verstehen, was an Lovecrafts Werk einzigartig ist. Es mag so aussehen, als würde Lovecraft solche Konsistenz ähnlich herstellen wie Tolkien, doch erneut zeigt sich, wie wichtig das Verhältnis zu unserer Welt ist. Indem die Erzählungen in Neuengland spielen statt in einem unberührten, fernen Land, durchkreuzt Lovecraft das hierarchische Verhältnis zwischen Fiktion und Realität.
Dass bei Lovecraft authentische Geschichte und ausgedachte Forschung nebeneinander stehen, führt zu ontologischen Verwirrungen, ähnlich wie in der »postmodernen« Literatur von Alain Robbe-Grillet, Thomas Pynchon oder Jose Luis Borges. Indem Lovecraft echte Phänomene so behandelt als hätten sie denselben ontologischen Status wie seine eigenen Erfindungen, nimmt er den Fakten ihre Wirklichkeit, während er das Fiktionale zur Wirklichkeit macht. Graham Harman sieht den Tag kommen, da Lovecraft Friedrich Hölderlin von seinem Thron als beliebtestes Forschungsobjekt der Literaturwissenschaft verdrängt haben wird. Und vielleicht können wir uns auf eine Zeit freuen, wenn nicht mehr der postmoderne Borges, sondern der Pulp-Poet Lovecraft als berühmtester Erforscher ontologischer Rätsel gilt. Lovecraft realisiert, was Borges’ nur »fabuliert«; niemand würde jemals glauben, dass Pierre Menards Version von Don Quichotte außerhalb von Borges Geschichte existieren könnte, während nicht wenige Leser die Britische Bibliothek kontaktierten und nach einer Ausgabe des Necronomicon fragten, dem Buch der alten Überlieferung, das in vielen Geschichten Lovecrafts auftaucht. Dabei erzeugt er einen »Realitätseffekt«, indem er uns immer nur kleine Teile des Necronomicon zeigt. Weil die Verweise auf die obskure Schrift fragmentarisch bleiben, beginnt der Leser zu glauben, dass es sich um ein echtes Objekt handeln muss. Man stelle sich vor, Lovecraft hätte tatsächlich einen ganzen Text des Necronomicon produziert; das Buch würde viel weniger echt wirken als wenn wir nur Ausschnitte sehen. Lovecraft schien die Macht dieser Zitate verstanden zu haben, die Art und Weise, wie ein Text echter wirkt, wenn er zitiert wird, als wenn man ihn als Ganzes vor sich hat.
Eine Folge dieser ontologischen Verschiebungen ist, dass Lovecraft keine absolute Autorität mehr über seine Schriften hat. Wenn die Texte eine gewisse Autonomie gegenüber ihrem Autor erlangt haben, dann wird Lovecrafts Rolle als ihr vorgeblicher Urheber nebensächlich. Er wird vielmehr der Erfinder von Wesen, Charakteren und Formeln. Was zählt, ist die Konsistenz seines literarischen Systems – eine Konsistenz, die kollektive Teilnahme von den Lesern und anderen Autoren herausfordert. Wie bekannt ist, haben neben Derleth auch Clark Ashton Smith, Robert E. Howard, Brian Lumley, Ramsay Campell und viele andere Erzählungen über den Cthulhu-Mythos geschrieben. Indem Lovecraft seine Geschichten miteinander verwebt, verliert er die Kontrolle seiner Kreationen an das entstehende System, das seine eigene Regeln hat und das seine Anhänger genauso bestimmen wie er selbst.