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»Der Körper, ein Wust aus Tentakeln«: Das Groteske und Seltsame bei The Fall

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»Das Wort grotesk hat seinen Ursprung in einem romanischen Ornamentdesign, das zuerst im 15. Jahrhundert entdeckt wurde, bei der Ausgrabung der Bäder von Titus. Benannt nach den grottoes, in denen sie gefunden wurden, bestanden die Formen aus menschlichen und tierischen Figuren, die mit Blattwerk, Blumen und Obst zu fantastischen Formen verschlungen waren, die in keinem Verhältnis zu den logischen Kategorien der klassischen Kunst standen. Einen zeitgenössischen Bericht über diese Formen finden wir bei dem lateinischen Schreiber Vitruv. Vitruv war als Beamter mit dem Bau von Rom unter Kaiser Augustus beauftragt, den sein Bericht Zehn Bücher über Architektur anspricht. Kaum überraschend geht er mit dem ›verderbten Mode‹ des Grotesken hart ins Gericht: ›Derlei aber gibt es weder, noch kann es geben, noch hat es gegeben‹, sagt der Autor über die Verschlingung aus Menschen, Tieren und Pflanzen: ›Denn wie kann ein Rohr in Wahrheit ein Dach tragen, oder ein Lampenständer den Giebelschmuck, oder ein schwacher und weicher Stengel eine sitzende Figur, oder wie können aus Pflanzen und Stengeln Blumen mit Halbfiguren hervorsprießen? Aber obwohl die Menschen solche Lügen sehen, tadeln sie dieselben nicht, sondern ergötzen sich daran und machen sich nichts daraus, ob etwas möglich ist, oder nicht.‹« Patrick Parrinder, James Joyce

Wenn es sich bei Wells Geschichte um einen Fall des melancholischen Seltsamen handelt, dann können wir nun auch eine weitere Dimension betrachten, indem wir über sein Verhältnis zum Grotesken nachdenken. Wie das Seltsame entsteht auch das Groteske, wenn etwas deplatziert ist. Die Reaktion auf die Erscheinung eines grotesken Objekts kann Lachen oder Abscheu hervorrufen. In seiner Studie über das Groteske hat Philip Thomson darauf hingewiesen, dass das Groteske oft durch die Verbindung des Lächerlichen mit dem tief Ernsten charakterisiert wurde. Die Fähigkeit, andere zum Lachen zu bringen, zeigt, dass das Groteske vielleicht am Besten als eine bestimmte Form des Seltsamen zu verstehen ist. Es ist schwer, sich ein groteskes Objekt vorzustellen, das nicht zugleich seltsam ist, aber es gibt seltsame Phänome, die nicht zum Lachen sind – beispielsweise Lovecrafts Geschichten, bei denen der Humor eher zufällig ist.

Das Zusammentreffen des Seltsamen und des Grotesken wird vielleicht nirgends deutlicher als in der Musik der Postpunk-Band The Fall. Ihr Werk – vor allem in der Zeit zwischen 1980 und 1982 – ist voll von Verweisen auf das Groteske und Seltsame. Die Methode der Band zu jener Zeit lässt sich durch das Cover der Single »City Hobgoblins« von 1980 verdeutlichen, auf dem wir eine urbane Szenerie sehen, voll von »emigres from old green glades // Emigranten der alten grünen Wiesen«; ein lüs­tern dreinblickender, fieser Kobold thront über einem verfallenen Wohnhaus. Doch anstatt die Figur bruchlos in das Foto zu integrieren, ist der schlecht gezeichnete Kobold zart in den Hintergrund platziert. Hier handelt es sich um einen Krieg der Welten, einen ontologischen Kampf, ein Kampf um die Mittel der Repräsentation. Aus der Perspektive der bürgerlichen Kultur und ihrer Kategorien darf und dürfte eine Gruppe wie The Fall aus der Arbeiterklasse, aber experimentell, populär und modern im Stil nicht existieren, und The Fall gelingt es hervorragend, den kulturellen politischen Gehalt des Grotesken und des Seltsamen zu entfalten. Man kann sagen, dass The Fall eine seltsame, populäre, an der modernen Ästhe­tik orientierte Kunst entworfen haben, worin das Seltsame sowohl die Form als auch den Inhalt bestimmt. Tatsächlich beginnt das Märchen des Seltsamen mit der Seltsamkeit der ästhetischen Moderne – ihrer Fremdheit, ihrer Kombination vormals inkommensurabel geglaubter Elemente, ihrer Verdichtung, ihrer Herausforderung gewöhnlicher Modelle der Lesbarkeit – sowie mit all den Schwierigkeiten und Zwängen des Post-Punk-Sounds.

Vieles davon, wenn auch indirekt und enigmatisch, verdichtet sich in The Falls Album Grotesque (After the Gramme) von 1980. Wenn wir uns daran erinnern, dass das Groteske in Parrinders Beschreibung ursprünglich auf »Formen aus menschlichen und tierischen Figuren, die mit Blattwerk, Blumen und Obst zu fantastischen Formen verschlungen waren, die in keinem Verhältnis zu den logischen Kategorien der klassischen Kunst standen« verweist, dann beginnen wir anderweitig unverständliche Bezüge plötzlich zu begreifen: »huckleberry masks // Hei­delbeermasken«, »a man with butterflies on his face // ein Mann mit Schmetterlingen auf seinem Gesicht«, »ostrich headdress // Straussenkopfschmuck« oder »light blue plant-heads // hellblaue Pflanzenköpfe«.

Die Lieder auf Grotesque sind Märchen, aber sie werden nur halb erzählt. Die Worte sind Fragmente, als ob wir sie durch eine schlechte Verbindung hören, die ständig abbricht. Perspektiven werden entstellt; ontologische Unterscheidungen zwischen Autor, Text und Charakter werden vermischt und zerbrochen. Es ist unmöglich, die Worte des Erzählers scharf von direkter Rede zu unterscheiden. Die Lieder sind Palimpseste, schlecht aufgenommen, in absichtlicher Ablehnung der »Kaffeetisch«-Ästhetik, die der Bandleader Mark E. Smith im kryptischen Booklet denunziert. Der Aufnahmeprozess wird nicht wegretuschiert, sondern in den Vordergrund gerückt, Hintergrundrauschen und unentzifferbare Kassettengeräusche bestimmen die Lieder mit wie die improvisierten Nähte das Gesicht Frankensteins in einem Hammer-Film. Das Lied »Impressions of J Temperance« ist in diesem Zusammenhang typisch, eine Geschichte im Stile Lovecrafts, in der der »schreckliche Wiedergänger« (»hideous replica«) eines Hundezüchters (»brown sockets...purple eyes...fed with the rubbish from disposal barges // braune Höhlen...violette Augen...gefüttert mit Müll vom Entsorgungsschiff«) in Manchester herumstreunt. Dabei handelt es sich um eine seltsame Geschichte, allerdings eine, die mit den Methoden der ästhe­tischen Moderne, der Verdichtung und der Collage arbeitet. Das Ergebnis gleicht einer Ellipse: Der Text klingt, als sei er aus dem Kanal von Manchester gefischt worden, kaum noch zu erkennen unter Schlamm, Schimmel und Algen, und Steve Hanleys Bass wirkt wie das Pochen von Baggerarbeiten.

In jedem Fall gibt es hier Gelächter, eine wilde Art der Parodie und des Spotts, von der man zögert, sie Satire zu nennen, vor allem in Anbetracht der blassen und zahnlosen Form, die die Satire in Großbritannien in den letzten Jahren angenommen hat. Bei The Fall scheint es hingegen, als sei die Satire an ihre Ursprünge im Grotesken zurückgekehrt. Ihr Gelächter stammt nicht aus dem gesunden Menschenverstand des Mainstreams, sondern aus einem gleichsam psychotischen Außen. Es ist eine traumartige Satire wie bei James Gillray, Beschimpfung und Spott steigern sich bis ins Delirium, ein (psycho)­tropologisches Herausrotzen von Assoziationen und Ani­mositäten, deren wahres Ziel nicht die Demaskierung irgendeiner Redlichkeit ist, sondern die Illusion, dass menschliche Würde überhaupt möglich sei. Es überrascht nicht, dass Smith in einer kaum hörbaren Zeile von »City Hobgoblins« auf Alfred Jarrys Theaterstück Ubu Roi (dt. König Ubu) anspielt: »Ubu le Roi is a home hobgoblin. // Ubu le Roi ist ein Kobold«. Für Jarry wie für Smith galt es, die Zusammenhanglosigkeit und Unvollständigkeit des Obszönen und Absurden gegen die falschen Symmetrien der praktischen Vernunft in Stellung zu bringen. Man kann sogar sagen, dass es die Bestimmung des Menschen ist, grotesk zu sein. Denn es ist das menschliche Tier, das deplatziert ist, der Freak der Natur, ohne einen Platz in der natürlichen Ordnung und trotzdem fähig, die Dinge der Natur in furchtbare neue Formen zu bringen.

Der Sound von Grotesque ist eine scheinbar unmögliche Kombination von Chaos und Strenge, eine Verbindung des Geistig-Literarischen mit dem Idiotisch-Physi­schen. Das ganze Album ist vom Gegensatz zwischen dem Alltäglichen und dem Seltsam-Grotesken strukturiert, als sei es die Antwort auf eine waghalsige Vermutung. Was, wenn der Rock’n’Roll im Herzen der Indus­trialisierung in England geboren wäre, statt im Mississippi-Delta? Der Rockabillysound von »Container Drivers« oder »Fiery Jack« wäre verlangsamt von Fleischpastete und Soße, Fluchtfantasien im Keim erstickt von einem Humpen Bier und einer Tasse schlierigem Tee. Rock’n’ Roll wäre das Kabarett der Arbeiter, vorgeführt von einem gescheiterten Gene-Vincent-Imitator in Prestwich. Doch solche Spekulationen gehen fehl. Rock’n’Roll brauchte die endlosen Highways; er hätte niemals in England entstehen können, in seinen chaotischen Ring­straßen und klaustrophobischen Ballungsgebieten. In dem Lied The N.W.R.A. (»The North Will Rise Again« / »Der Norden wird wieder auferstehen«) wird der Konflikt zwischen der beengenden Weltlichkeit Englands und dem Grostesk-Seltsamen am deutlichsten zur Sprache gebracht. Alle Motive des Albums verdichten sich in diesem Song, einem Märchen über kulturpolitische Intrigen, das wie ein absurder Mulch aus T.S. Eliot, Wyndham Lewis, H.G. Wells, Philip K. Dick, Lovecraft und John le Carré klingt. Das Lied erzählt die Geschichte von Roman Totale, einem Hellseher und ehemaligen Kleinbühnendarsteller, dessen Körper voll von Tentakeln ist. Oft wird gesagt, dass es sich dabei um eines der »Alter-Egos« von Mark E. Smith handelt; tatsächlich steht Smith in derselben Beziehung zu Totale wie Lovecraft zu Randolph Carter. Bei Totale handelt es sich eher um einen Figurentypus statt um eine echte Person. Deswegen hat Totale natürlich keinen fest umrissenen Charakter, sondern ist vielmehr der Träger eines Mythos, ein intertextuelles Konglomerat von Pulp-Frag­menten:

»So R. Totale dwells underground / Away from sickly grind / With ostrich head-dress / Face a mess, covered in feathers / Orange-red with blue-black lines / That draped down his chest / Body a tentacle mess / And light blue plant-heads. //

Also R. Totale wohnt unter der Erde / Fernab der kranken Schinderei / Mit einem Straussenkopfschmuck / Einem dreckigen Gesicht, mit Federn bedeckt / Orangerot mit schwarzblauen Runzeln / Bis zur Brust behangen / Der Körper, ein Wust aus Tentakeln / Und einem hellblauen Pflanzenkopf.«

Die Form von »The N.W.R.A.« ist von organischer Ganzheit so fern wie Totales abscheulicher Tentakelkörper von der menschlichen Figur. Es ist ein groteskes Machwerk, eine Collage, in der nichts zusammenpasst. Vorbild des Liedes ist eher die Novelle statt das Märchen; die Geschichte wird episodisch erzählt, aus verschiedenen Blickwinkeln, mit einem vielstimmigen Gewaltstreich verschiedenster Stile und Register: komisch, journalistisch, satirisch, romanhaft, wie als wäre Lovecrafts »Cthulhus Ruf« vom James Joyce des Ulysses noch einmal geschrieben und in zehn Minuten gepresst worden.

Soweit sich erkennen lässt, steht der Protagonist Totale – von Beginn korrumpiert und betrogen – im Zentrum einer Verschwörung, um den Norden wieder zu alter Glorie zurückzuführen, vielleicht zurück in die viktorianische Zeit der ökonomischen und industriellen Vorherrschaft; vielleicht sogar noch weiter zurück, vielleicht zu einer Größe, die alles übersteigt, was es jemals gegeben hat. Mark E. Smiths Vision des Nordens ist mehr als eine lokale Tirade gegen das Kapital, sein Norden steht vielmehr für alles, was der gute Geschmack der Stadt unterdrückt: das Esoterische, das Unnormale, das vulgär Erhabene, will sagen: das Seltsame und das Groteske selbst. Totale, geschmückt mit einem widersinnig-grotesken Kos­tüm eines »Straußen-Kopfschmucks«, »Federn / oran­ge-rot mit blau-schwarzen Runzeln« und »hellblauen Pflanzenköpfen«, ist der Möchtegern-Elfenkönig dieser seltsamen Revolte. Er endet als ihr Fischerkönig, zurückgelassen wie eine modernistische Pulp-Version von Miss Havisham inmitten der Reste eines Karnevals, der niemals stattfinden wird, das geifernde Totem eines erfolglosen Kampfes gegen den sozialistischen Realismus, der visionäre Führer, zurückgestutzt auf einen heruntergekommenen Kabarettisten, während die Psychotropen ver­blassen und der Eifer verhallt.

Mit dem 1982er Album Hex Enduction Hour kehrt Smith zur Form des seltsamen Märchens zurück, eine weitere Platte, die voller Anspielungen auf das Seltsame ist. In dem Song »Jawbone and the Air Rifle« beschädigt ein Wilderer aus Versehen eine Grabstätte und buddelt einen Kieferknochen aus:

»And here is a jawbone cacked in muck / Carries the germ of a curse / Of the Broken Brothers Pentacle Church //

Und hier ist ein Kieferknochen, beschmiert mit Mist / Er trägt die Saat eines Fluches / Von der Pentakel Kirche der Gebrochenen Brüder«.

Das Lied ist ein dichtes Gewebe aus Anspielungen auf Geschichten von M.R. James wie »A Warning to the Curious« und »Oh, Whistle, and I’ll Come to You, My Lad«, Lovecrafts »Shadow over Innsmouth« bis hin zum Hammer-Horror und The Wicker Man – alles kulminiert in einem psychedelisch/psychotischen Zusammenbruch, einschließlich eines Fackeln schwingenden Dorf-Mobs.

»He sees jawbones on the street / advertisements become carnivores / and roadworkers turn into jawbones / and he has visions of islands, heavily covered in slime. / The villagers dance round pre-fabs / and laugh through twisted mouths. //

Er sieht Kieferknochen auf der Straße / Werbeplakate werden Fleischfresser / Und Straßenarbeiter werden Kieferknochen / Er hat Visionen von Inseln voller Schleim / Die Dorfbewohner tanzen um Fertighäuser / Und feixen durch verzerrte Münder.«

»Jawbone and the Air Rifle« erinnert am deutlichsten an einen Sketch der britischen Comedy-Gruppe League of Gentlemen. Der von ihnen inszenierte fiebrige Karneval – voller Verweise auf das Seltsame und ständigen Verbindungen des Lachhaften mit dem Ernsten – ist eher ein würdiger Nachfolger von The Fall als die Musikgruppen, die versucht haben, es mit ihrem Einfluss aufzunehmen.

Das Lied »Iceland« wiederum, aufgenommen in einem Reykjaviker Studio mit Wänden aus gehärteter Lava, ist eine Begegnung mit den verblassenden Mythen der nordeuropäischen Kultur auf dem gefrorenen Territorium, wo sie entstanden sind. Hier ist das groteske Gelächter verstummt. Das hypnotisch wallende Lied, meditativ und voller Trauer, erinnert in seiner arktischen Stimmung an die knochenweißen Steppen von Nicos The Marble Index. Ein klagender Wind (auf einer Kassettenaufnahme von Mark E. Smith) zieht durch das Lied, während Smith uns einlädt, »die Runen gegen unsere Seele zu werfen« (»cast the runes against your own soul«), ein weiterer Verweis auf M.R. James, diesmal auf seine Erzählung »Casting the Runes« (dt. »Drei Tage Frist«). »Iceland« ist eine Art Götterdämmerung für die sich zurückziehenden Hobgoblins, Kobolde und Trolle der verblassenden Kultur des Seltsamen in Europa, ein Klagelied für die Monstrositäten und Mythen, deren letzte Atemzüge auf der Kassette gebannt sind:

Witness the last of the god men

A Memorex for the Krakens //

Schau’ den letzen Göttermensch

Ein Memorex3 für Kraken

Das Seltsame und das Gespenstische

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