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Das Seltsame gegen das Weltliche: H.G. Wells
ОглавлениеIch möchte mich dem Seltsamen jetzt aus einer anderen Richtung nähern und zwar durch eine Lektüre von H.G. Wells Kurzgeschichte »The Door in the Wall« (dt. »Die Tür in der Mauer«). Ich glaube, dass es in diesem Text eine starke Spannung des Seltsamen gibt, wenngleich anders als bei Lovecraft.
Der Erzähler ist Redmond und die Geschichte handelt von seinem Freund, dem Politiker Lionel Wallace. Wallace erzählt Redmond von einer Kindheitserinnerung, in der er eine grüne Tür in einer Mauer sieht, irgendwo in den Straßen von West Kensington in London. Aus irgendeinem Grund möchte er sie öffnen. Während er zunächst noch zögert und glaubt, es sei »unklug oder falsch«, die Tür zu öffnen, überwindet er schließlich in einem »Anfall von Emotionen« seine Angst und geht hindurch. Der Garten auf der anderen Seite gleicht einem surrealistischen Gemälde von Paul Delvaux oder Max Ernst; es herrscht eine Atmosphäre träger Freude, und von allen Menschen, die er trifft, geht ein diffuses Gefühl der Güte aus. Ungewöhnliche Dinge spielen sich ab: er sieht zwei Panther und eine Art Buch, auf dessen Seiten »keine Bildern, sondern wirkliches Geschehen« waren. Ob es sich dabei um ein magisches Objekt handelt, ein Beispiel fortgeschrittener Technologie oder das Produkt einer Rauscherfahrung, wird nicht geklärt. Nachdem er eine Weile in dem Buch geblättert hat, sieht er darin plötzlich »eine lange, graue Straße in West Kensington, zur der kühlen Zeit, kurz bevor die Lampen angehen, und dort war ich, eine erbärmliche, kleine Figur und weinte laut.«
Aus Gründen, die nicht ganz klar werden – warum geht er nicht sofort wieder durch die grüne Tür in der Mauer? –, kann er nicht direkt zurückkehren. Wieder der banalen Welt ausgeliefert, verfällt er in einen »untröstlichen Kummer«.
Ein paar Jahre später sieht Wallace die grüne Tür zufällig noch einmal. Eines Tages befindet er sich »plötzlich in einem Gewirr ziemlich ärmlicher Straßen jenseits von Campden Hill« und sieht eine lange weiße Mauer und die Tür, die in den Garten führt. Doch dieses Mal öffnet er sie nicht. Er hat Angst, zu spät zur Schule zu kommen und beschließt, später zurückzukehren, wenn er mehr Zeit hat. Er begeht den Fehler, einigen Schulfreunden von der Tür und dem Garten zu erzählen. Die Jungen zwingen Wallace, sie dahin zu führen, aber er findet die Tür nicht.
Noch ein paar Mal sieht er die Tür während seiner Jugend; einmal, als er wegen eines Stipendiums auf dem Weg nach Oxford ist. Doch weil er zu beschäftigt mit den Dingen des Alltags ist, geht er erneut an der Tür vorbei, ohne sie zu öffnen. Nun, da er erwachsen ist, verfolgt ihn wieder der Gedanken an die Tür und er fürchtet, sie niemals wiederzusehen.
»Jahre voll harter Arbeit folgten, und niemals zeigte sich die Tür. Erst vor kurzem ist sie mir wieder erschienen. Mit ihr hat sich ein Gefühl eingestellt, als ob sich ein Schleier über meine Welt gebreitet hätte. Ich hatte angefangen, es für traurig und bitter zu halten, daß ich die Tür nicht wieder erblicken sollte. Vielleicht hatte ich mich etwas überarbeitet – vielleicht war es Ausdruck dessen, was ich das Lebensgefühl mit vierzig habe nennen hören. Ich weiß es nicht. Aber ganz sicher haben die Dinge kürzlich ihren Glanz verloren...«
Und dennoch sieht er die Tür noch einmal – ganze drei Mal. Doch immer geht er daran vorbei. Einmal, weil er in wichtige politische Geschäfte verwickelt ist, ein anderes Mal ist er auf dem Weg an das Totenbett seines Vaters; ein drittes Mal unterhält er sich gerade mit jemandem über seine Stellung.
Als Wallace dies Redmond erzählt, leidet er schon lange unter seiner Unfähigkeit, noch einmal durch die Tür zu gehen. Kaum überraschend erfahren wir als nächstes, dass Wallace tot ist und seine Leiche in einer »tiefen Ausschachtung in der Nähe der East Kensington Station« gefunden wurde.
Warum sollten wir »The Door in the Wall« als eine Geschichte aus dem Reich des Seltsamen verstehen? Was Wells und Lovecraft verbindet und uns direkt ins Zentrum des Seltsamen führt, ist die Konfrontation unterschiedlicher – inkommensurabler – Welten. Wie wir im letzten Kapitel gesehen haben, hat das Seltsame immer mit einer Schwellenerfahrung zu tun. Die »Tür in der Mauer« ist offenkundig eine solche Schwelle. Die Anziehungskraft der Welt auf der anderen Seite entsteht durch die Gegenüberstellung mit dem profanen Londoner Setting und den alltäglichen Details:
»Dort befanden sich seiner Erinnerung nach eine Anzahl ärmlicher, schmutziger Läden und insbesondere ein Installateur- und Tapetengeschäft mit einem staubigen Durcheinander von Tonröhren, Bleiblechen, Wasserhähnen, Tapetenmusterheften und Farbbüchsen.«
In Lovecrafts Geschichten gibt es ständig Schwellen zwischen zwei Welten: oft ist die Durchgangsstelle ein Buch (der gefürchtete Necronomicon), manchmal – wie in den »Silver Key«-Geschichten mit Randolph Carter – im wörtlichen Sinne ein Pforte. Tore und Pforten in diesem Lovecraft’schen Sinne gibt es auch in den Marvel Comics über Doctor Strange zuhauf. David Lynchs Film- und Fernsehwerk ist ebenso fixiert auf Türen, Vorhänge und Pforten. Wie wir später sehen werden, handelt es sich bei Inland Empire um so etwas wie einen »löchrigen Raum« an der Schnittstelle zweier Welten, eine Art ontologischer Kaninchenbau. Und manchmal ist es nur eine Frage der Größenordnung: Richard Mathesons The Incredible Shrinking Man (dt. Die unglaubliche Geschichte des Mister C.) zeigt, dass unser eigenes Wohnzimmer zu einem furchterregend wie wundersamen Ort werden kann, wenn man nur klein genug ist.
Die wichtige Rolle, die Türen, Schwellen und Pforten spielen, zeigt, dass die Idee des Dazwischen für das Seltsame zentral ist. Würde Wells Geschichte nur im Garten hinter der Tür spielen, kein Effekt des Seltsamen würde sich einstellen. (Deswegen heftet sich das Gefühl des Seltsamen bei C.S. Lewis auch nicht an Narnia, sondern an die Straßenlaterne.) Wäre die Geschichte auf den Garten beschränkt, befänden wir uns im Genre der Fantasyliteratur, in der fremde Welten naturalisiert werden. Das Seltsame hingegen entnaturalisiert alle Welten, indem es ihre Instabilität und ihre Offenheit für das Außen bloßstellt.
Ein offensichtlicher Unterschied zwischen Wells und Lovecrafts Erzählungen besteht darin, dass in Wells »The Door in the Wall« keine nicht-menschlichen Wesen vorkommen. Als Wallace den Garten betritt, trifft er zwar merkwürdige Figuren, aber sie wirken alle menschlich. Das Seltsame entsteht nicht durch diese trägen, gütigen Wesen; es braucht überhaupt keine »schrecklichen Monstrositäten«, die für Lovecrafts Erzählungen so wichtig sind.
Ein zweiter Unterschied besteht in der Art der Spannung. Wie wir gesehen haben, arbeiten Lovecrafts Geschichten selten mit Angst, das heißt wir fragen uns nicht, ob das Außen echt ist oder nicht. Am Ende von »The Door in the Wall« jedoch sind Redmonds Gedanken von »Fragen und Rätseln« verdüstert. Er kann die Möglichkeit nicht ausschließen, dass Wallace an einer »seltenen, aber nicht einmaligen Art von Halluzination« gelitten hat. Entweder handelt es sich bei ihm um einen Verrückten oder einen »Träumer, Seher und Phantasten«. »Wir sehen unsere leidliche Alltagswelt, die Bretterwand und den Schacht«, schließt Redmond unsicher. »Mit unserem Maßstab des Tageslichts gemessen, ging er aus der Sicherheit in das Dunkel, in die Gefahr und den Tod. Ob er aber das so sah?«
Das führt uns zu einem dritten Unterschied zwischen Lovecraft und Wells: die Funktion des Wahnsinns. Bei Lovecraft ist jeder Wahn, der eine Figur befällt, eine Konsequenz des transzendentalen Schocks, der durch den Kontakt mit dem Außen entsteht; keinesfalls ist der Wahnsinn dafür verantwortlich, dass die Figuren die Wesen so wahrnehmen wie sie es tun (denn das würde natürlich ihren Status herabsetzen, sie wären dann lediglich Produkte des Deliriums). »The Door in the Wall« lässt die Frage nach dem geistigen Zustand des Protagonisten offen: Es ist möglich – obwohl er hinzufügt, dass es ihm »nicht ernst damit« sei –, dass Wallace verrückt oder verblendet ist oder die ganze Erfahrung aus verzerrten Kindheitserinnerungen zusammenfabuliert hat (die, um einen Gedanken aus Freuds Essay über Deckerinnerungen aufzunehmen, dann Erinnerungen über die Kindheit, nicht aus der Kindheit wären). Auch Wallace selbst erwägt, ob er eine Kindheitserinnerung überhöht oder noch einmal erträumt hat, bis zu dem Punkt, wo sie völlig unkenntlich geworden ist.
Der wichtigste Unterschied zwischen »The Door in the Wall« und Lovecrafts Geschichte besteht jedoch in der Art der Sehnsucht, die evoziert wird. Bei Lovecraft muss die positive Anziehungskraft des Außen immer unterdrückt oder invertiert, in Ekel und Furcht verwandelt werden. In »The Door in the Wall« strahlt die Faszination der anderen Welt gewissermaßen durch die Pforte hindurch. Die entscheidende Differenz bei Wells besteht nicht zwischen natürlich oder übernatürlich; wenig deutet darauf hin, dass die Welt hinter der Tür irgendwie übernatürlich ist, auch wenn sie sicherlich »verzaubert« ist. Vielmehr geht es um den Unterschied zwischen dem Alltäglichen und dem Numinösen. Wallaces Beschreibung der »unbeschreiblichen, durchscheinenden Unwirklichkeit (…), jener Abweichung von der gewöhnlichen Erfahrungswelt, die über allem lag« erinnert an Rudolf Ottos Beschreibung des Numinösen in Das Heilige (1917). Bei beiden entsteht die »unbeschreibliche Qualität einer »durchscheinenden Unwirklichkeit« immer in Begegnungen mit dem, was wirklicher als die »gewöhnliche Erfahrungswelt« ist. Das Reale fühlt sich nicht real an; es involviert eine gesteigerte Wahrnehmung, es transzendiert die Parameter unserer gewöhnlichen Erfahrung, doch für Wallace »wenigstens war die Tür in der Mauer eine wirkliche Tür; die durch eine wirkliche Mauer zu einer unvergänglichen, wirklichen Welt führte.«
Michel Houellebecq nannte sein Buch über Lovecraft Against the World, Against Life (dt. Gegen die Welt. Gegen das Leben); doch vielleicht richtete sich Lovecrafts eigentliche Antipathie vielmehr gegen das Weltliche, gegen jene gemeinen Grenzen des Alltäglichen, die seine Erzählungen immer wieder aufsprengen. Der Angriff auf den Mangel des Weltlichen ist in jeden Fall ein treibendes Element von »The Door in the Wall«. »O wie schmerzlich diese Rückkehr war«, ruft Wallace aus, als er wieder »in diese graue Welt« versetzt ist. Wallace spürt, dass seine Depression daher rührt, dass er der Versuchung des Weltlichen erlegen ist.
Wenn Wallace seine Trauer beschreibt, scheint er ein Spielball des psychoanalytischen Todestriebes zu sein:
»Es ist nämlich so – es handelt sich nicht um Geistererscheinungen und doch – es hört sich merkwürdig an, Redmond – ich bin heimgesucht. Ich bin durch etwas heimgesucht – das alles andere verblassen läßt, das mich mit Sehnsucht erfüllt...«
Als Redmond über den ersten Kontakt von Wallace mit der Tür nachdenkt, stellt er sich »die Gestalt des kleinen Jungen« vor, »gleichzeitig angezogen und abgestoßen.«2 Genauso beschreibt Freud den Todestrieb: als die ambivalente Anziehung dessen, was unangenehm ist. Es waren Lacan und seine Anhänger, die die Geometrie des Todestriebes vervollständigt haben, die Art und Weise wie sich das Begehren erhält, indem es ständig das Objekt seiner Befriedigung verfehlt – genauso wie es Wallace misslingt, noch einmal durch die Tür zu gehen, obgleich es sich um seinen tiefsten Wunsch handelt. Die Faszination, die von der Tür und dem Garten ausgeht, nimmt all seinen weltlichen Befriedigungen und Erfolgen den Geschmack:
»Nun, da ich den Schlüssel dazu habe, scheint es seinem Gesicht sichtbar aufgeprägt. Ich besitze ein Foto, auf dem dieser abweisende Blick eingefangen und verstärkt ist. Er erinnert mich an den Ausspruch einer Frau – einer Frau, die ihn sehr geliebt hatte. ›Plötzlich‹, sagte sie, ›verliert er das Interesse. Er vergißt dich. Er macht sich keinen Deut aus dir – während du ihm direkt vor der Nase sitzt...‹«
Die Tür war immer eine Schwelle und wer sie übertrat, gelangte über das Lustprinzip hinaus und in das Seltsame hinein.