Читать книгу Das großartige Leben des Little Richard - Mark Ribowsky - Страница 7

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„Wohin du auch schaust … Ich bin der schöne Little Richard aus Macon in Georgia. Otis Redding stammt bekanntlich von dort, James Brown auch … Ich sah am besten aus, also verschwand ich zuerst. Ich bin das hübscheste Küchenutensil, jawohl.“

– Little Richard, 1970

Als Little Richard geboren wurde, meinte es das Schicksal sogleich gut mit ihm, denn es ließ einen kleinen bürokratischen Irrtum durchgehen: Am 5. Dezember 1932 füllte eine Schwester in einer Klinik in Macon im US-Bundesstaat Georgia seine Geburtsurkunde aus, verstand aber den Namen nicht richtig, den seine Eltern Charles und Leva Mae Penniman für ihn ausgesucht hatten – „Ricardo Wayne Penniman“ –, und trug stattdessen „Richard Wayne Penniman“ ein. Im Nachhinein fanden die Eheleute, dass Richard ohnehin besser klang als Ricardo, und beließen es dabei. Ohne diesen Augenblick der Nachsicht hätte der Junge den Rock ’n’ Roll womöglich als Little Ricardo umkrempeln müssen.

Charles, der allseits „Bud“ genannt wurde, und seine junge Frau, die er geheiratet hatte, als sie vierzehn war, hatten schon einen Sohn und eine Tochter. Richard Wayne fand sein Zuhause als ihr drittes Kind im Stadtbezirk Pleasant Hill von Macon, 90 Meilen entfernt von Atlanta im Herzen Georgias. Ihre strategisch günstige Lage hatte die Stadt im Bürgerkrieg zum Hauptversorgungsdepot der Konföderierten gemacht. Sorgfältig gepflegte Reste von Baumwollplantagen aus der Vorkriegszeit prägten das Landschaftsbild und zogen während der Wiederaufbauphase viele ehemalige Sklaven als Teilpächter an. Macon brüstete sich, die „schönste und geschäftigste Stadt Georgias“ zu sein, ein Zeugnis von bürgerlichem Stolz an einem Ort, wo Rassentrennung und gelegentliche Lynchmorde ebenso zur Wirklichkeit gehörten, wie Integration real praktiziert wurde, was man täglich im Stadtzentrum erkennen konnte. Dort hielten tüchtige Schwarze ein pulsierendes Gewühl aus Nachtclubs und Kneipen am Laufen, aus dem eine lebendige Musikszene entstand, die einige der größten Talente des Jahrhunderts hervorbringen sollte.

Die Pennimans wohnten ein paar Meilen weiter nördlich in einem schmalen eingeschossigen Haus mit gelber Fassade und der Nummer 1540 an einer Haarnadelkurve, wo die Fifth Avenue in die Middle Street mündete. Kein Auswärtiger hätte die unbefestigten Wege von Pleasant Hill komfortabel genannt, doch die Bewohner empfanden sie so – als Straßennetz mit Vorstadtflair und grünen Bäumen, wo man saubere Luft atmen konnte und die Rasenflächen gemäht waren.

Little Richard bemerkte zu seiner dortigen Zeit als Heranwachsender: „Wir waren weder eine arme noch eine reiche Familie.“ In Not geriet sie zu keiner Zeit. Dafür sorgte Bud, der die Hände nie in den Schoß legte. Er war kein gebildeter Mensch – sein Frau kam hingegen aus wohlhabenden bildungsbürgerlichen Kreisen –, aber er hatte sich vorgenommen, erfolgreich zu sein. Er war auch kein Heiliger, eher etwas proletenhaft und schnell aufbrausend, machte aber seinen Herrn Papa stolz, der Pfarrer war, indem er Prediger wurde und seinen Nachwuchs nötigte, ihn zum Sonntagsgottesdienst zu begleiten. Seine Predigten waren temperamentvoll und es fiel ihm leicht, die Gemeindemitglieder zum Stampfen, Schreien und Singen zu bewegen: eines der ersten Alltagsrituale, die Richard sofort gefielen.

Bud machte als Steinmetz Überstunden und lieferte während der Zeit der Prohibition zusätzlich Spirituosen von Schwarzbrennern in der Stadt aus. Eine Sünde war dies in seinen Augen nicht, weil er den Fusel ja nicht selbst herstellte. Als harter Alkohol ein Jahr nach Richards Geburt wieder legalisiert wurde, belieferte sein Vater weiterhin Händler, die es vorzogen, keine Steuern auf ihre Ware zu zahlen. Sein Sohn erinnerte sich, das zwielichtige Typen zu ihnen ins Haus kamen, und manchmal hätten Polizisten vor der Tür gelauert. Musik war allgegenwärtig in Macon, selbst die Schwarzbrenner musizierten. Einer von ihnen hockte regelmäßig bei ihnen herum und spielte Waschbrett, und irgendwann hatte Bud, der niemals ernsthaft mit dem Gesetz in Konflikt kam, genug Geld zusammengekratzt, um einen Nachtclub in der Innenstadt zu kaufen, das Tip In Inn. Dabei handelte es sich wie fast überall im Rotlichtviertel an der Fourth Street (sie wurde später zu Martin Luther King Boulevard umgetauft) um ein Lokal mit Ausschank sowohl für Schwarze als auch Weiße. Mit den Einkünften finanzierte der Vater einen schicken Ford Model-T und Luxushaushaltsgegenstände wie Elektroleuchten, worum ihn alle Nachbarn beneideten, die noch Gaslampen benutzten. Die Pennimans konnten sich sogar eine Tagesmutter leisten, die sich mit Leva Mae um die Kids kümmerte, deren Zahl auf zwölf stieg, sieben Jungen und fünf Mädchen.

Richard war recht hellhäutig, wie seine Mom, und seine kantigen Gesichtszüge, die ihm Verwandte mütterlicherseits vererbt hatten, ließen vage an amerikanische Ureinwohner denken. Er war recht auffällig und ungestüm, was Leva Mae verärgerte, die er wiederum vergötterte und für ihre „innere Stärke“ lobte. Seinen Vater beschrieb er wenig schmeichelhaft als einen „sehr eigensinnigen Mann“, der sich nie klar auszudrücken pflegte. Der Junge fühlte sich zweifellos enger mit seiner Mutter verbunden, die wesentlich toleranter war, was seine angeborenen leiblichen Gebrechen und persönlichen Marotten anging. Zunächst einmal hatte er keine gleich langen Beine, weshalb er humpelte und schlurfte. Außerdem hatte er „einen dicken Kopf, aber einen schmächtigen Körper, und eines meiner Augen war größer als das andere.“ Er selbst nahm dafür Wörter wie „verkrüppelt“ und „entstellt“ in den Mund – hämische Ausdrücke, die er bei Sticheleien auf dem Schulhof aufgeschnappt hatte. Weil seine Gangart unmännlich wirkte, „nannten mich die anderen Kinder Schwuchtel, Weichei, Missgeburt oder Abschaum, alles Mögliche.“ Richard machte er keine großen Anstalten, sich gegen die Beschimpfungen zu wehren, sondern gab sich bewusst weibisch, wozu er sogar in Leva Maes Zimmer schlich, sich schminkte und mit ihrem Rosenwasser einparfümierte. Zudem ahmte er ihre Sprechweise mit mädchenhaft hoher Stimme nach.

Sie reagierte nur kopfschüttelnd. Bud jedoch stellte sich wie die meisten, die Richard begegneten, laut die Frage: „Was ist nur mit dem Jungen los?“ Sie war nicht leicht zu beantworten, zu komplex vielleicht für das Milieu und die damalige Zeit. Der Vater gab ihm deshalb stets kurzerhand eine Abreibung mit dem Gürtel, wenn er Theater veranstaltete oder sich in Schwierigkeiten brachte. Sein Sohn ließ es über sich ergehen, trug dann aber gleich wieder Schminke auf, parfümierte sich und tat feminin. Mit der Zeit nahmen die Konflikte und Spannungen zwischen ihm und seinem Dad nur weiter zu, da er alles zu verkörpern schien, was Bud hasste. Richard räumte später ein: „Ich wusste, dass ich nicht so war wie die anderen Buben“, er fühlte sich auf „unnatürliche“ Weise zu Jungen hingezogen, deren Verhalten seinem ähnelte, und gab sogar zu, sich homosexuellem Verkehr hinzugeben. Er berichtete, dass junge schwarze Männer in Macon sich an Straßenecken aufstellten, um von weißen Männern mit dem Auto abgeholt zu werden, mit denen sie in den Wald fuhren und Sex hatten, in der Hoffnung, dafür etwas Geld zu bekommen. An den Rändern einer Kultur, in der Lynchjustiz allzu gegenwärtig war und an Restauranteingängen „Weiß“- und „Farbig“-Schilder hingen, ließen sich einige Schwarze selbst zu solchen Mitteln herab, um zu überleben. Richard eingeschlossen.

Er neigte merkwürdigerweise zu einem wagemutigen, draufgängerischen Lebenswandel und gefährlichen Drahtseilakten. Oft ließ er sich von anderen Kids zu Prügeleien provozieren, was meist damit endete, dass sie ihm sein hübsches Gesicht blutig schlugen. Sein großer Bruder Charles mischte sich dann ein. „Wenn ich herausfand, dass sie Richard drangsaliert hatten“, sagte er, „knöpfte ich sie mir vor.“ Richard konnte sich einfach nicht ruhig verhalten, was sich nicht nur auf seinen Gesang bezog. Er „nervte uns mit seinem Geheul und Geklopfe auf Blechdosen. Wenn sich Leute über ihn aufregten, schnauzten sie ihn an: „Halt dein Maul, Bursche!“ Daraufhin lief er davon und lachte sich kaputt.“ Er war in vielerlei Hinsicht bereits Little Richard – frühreif und imstande, Unruhe zu stiften, und er erkannte bald, wie nützlich seine Stimmgewalt sein konnte. Sie war insofern sinnstiftend, als er sich mit anderen Jugendlichen in Gospelchöre einbrachte, die in Kirchen sangen, aber auch in der Öffentlichkeit auftraten. Der Erste, an den er sich erinnerte, hieß Tiny Tots und wurde von einer matronenhaften Frau geleitet, die er als Ma Sweetie kannte. Mit zwei seiner jüngeren Brüder, Marquette und Walter, bildete er gelegentlich ein Trio. Ob mit oder ohne Namen: Diese Ensembles sangen auf den Straßen oder einer überdachten Veranda, um von den Leuten Obst, Süßigkeiten und manchmal sogar ein paar Dollar zu bekommen.

„Das war echt nicht zu verachten“, meinte Richard. „Alle haben gesungen, zum Beispiel ganz einfach so beim Waschen der Wäsche hinterm Haus. Wir hörten uns wie ein großer Chor an und probten trotzdem nie: eine vielköpfige Truppe, so fünfzig Stimmen aus der ganzen Nachbarschaft.“

Gelegentlich fuhr sein Onkel Willard sie in Kleinstädte auf dem Land, wo etwas mehr Geld heraussprang, beispielsweise Logtown (Bud stammte von dort), Forsyth und Perry. Sie traten dort in Sommerlagern und Kirchen auf, wobei Lieder wie „Precious Lord“ oder „Peace in the Valley“ dargeboten wurden. Richard vertiefte sich dergestalt ins Singen, dass seine Leistung in der Schule darunter litt. Er spielte mit dem Gedanken, sie zu schmeißen, um eine Karriere in den Clubs anzutreten, dachte dann aber daran, was sein alter Herr tun würde, um ihn daran zu hindern; darum schwänzte er auch nie. „Ich hatte einen Vater“, erzählte er, „der dich deswegen umgebracht hätte – die Rübe abgeschlagen mit der Gerte.“

Buds Neigung zum Jähzorn beeinflusste Richards Leben unterschwellig immer stärker, während er zum Teenager heranreifte und die düsteren Jahre des Zweiten Weltkriegs anbrachen, als viele junge Männer aus Pleasant Hill verschwanden, zum Wehrdienst in gesonderten Verbänden eingezogen oder freiwillig der Armee beigetreten. Auch wenn er sich in einer Weise aufführte, die sein Vater nicht billigte, glaubte Richard im Ernst, auch Gottesmann werden zu können, was Bud gutheißen würde, wie er wusste. Er wollte Religion und Singen wirklich miteinander vereinbaren. Zu den Menschen, die ihn schon früh beeinflussten, zählte der singende Prediger Brother Joe May, der unter dem Künstlernamen „Blitz des Mittleren Westens“ auftrat. Er stammte ebenfalls aus einer Stadt namens Macon, bloß in Mississippi, und war eigentlich kein Geistlicher, erregte das schwarze Publikum auf seinen Tourneen aber so stark, dass ihn ein Journalist als „größten männlichen Einzelkünstler in der Geschichte der Gospelmusik“ bezeichnete. May verkaufte ab 1949, als er „Search Me Lord“ aufnahm, millionenfach Tonträger. Richard besuchte eine seiner Shows im Macon City Auditorium und sah seine eigene Zukunft.

Bis auf Weiteres verbrachte er indes die meiste Zeit in dieser oder jener Kirche, da seine Eltern unterschiedlichen Konfessionen angehörten: Bud der Methodistenkirche Foundation Templar, Leva Mae den New-Hope-Baptisten. Hinzu kamen drei weitere Gotteshäuser, in denen drei seiner Onkel Seelsorger waren, und noch einige weitere in der Umgebung, wo er im Chor sang. Er hatte bereits erkannt, dass es klug war, nicht nur eine gute Stimme, sondern auch eine besondere Masche dazu zu haben. Wie er später behauptete, sei er schon mit zehn Jahren herumgezogen und habe sich als Heiler ausgegeben. „Ich besuchte Leute, die krank waren, sang fromme Lieder und berührte sie, woraufhin viele schworen, dass sie sich besser fühlten! Manchmal kriegte ich Geld von ihnen.“

Dann kam dank Blues und R&B frischer Wind auf. Unter den zahllosen Impulsgebern, auf die Richard schließlich zurückblicken konnte, nannte er den großen „König der Jukebox“ Louis Jordan aus der Swing-Ära – ein Ausbund an Talent, der sang, tanzte, seine Band führte und Saxofon spielte, alles laut und in rasantem Tempo. Er ließ nicht nur von sich hören, sondern flimmerte auch in Musikfilmen über die Leinwand, derentwegen Richard stundenlang in den Kinos von Macon saß. „Caldonia“, einer von Jordans R&B-Hits, war das erste nicht geistliche Stück, das der Junge je sang, und dass er seine eigenen Lieder nach Frauen benannte, geschah nicht zufällig, denn sein Vorbild tat dies auch.

Zwar passte er im Unterricht nie gut genug auf, um ordentliche Noten zu schreiben, lernte aber auf der Hudson High School, Altsaxofon zu spielen, und schloss sich der Schulband an.

Da Jazz- und R&B-Kompositionen auf Blasinstrumente ausgerichtet waren, arbeitete er mit großem Ernst darauf hin, Musik zu seiner Berufung zu machen. Das Macon City Auditorium und einige der weniger feinen Clubs in der Innenstadt waren bedeutende Anlaufstellen für Underground-Bluessänger, deren Songs auf weltlichen Inhalten beruhten, also streifte Richard regelmäßig kreuz und quer durch die Straßen im Zentrum, um die Stimmung, die Gerüche und den Sound dessen zu verinnerlichen, was man bald unter einem Schlagwort zusammenfasste: Rock ’n’ Roll. Macon-Mitte war nicht nur der Nährboden für die schwarzen Wurzeln dieser Musik, sondern brachte auch den weißen Priester und Sänger Emmett Miller hervor, dessen durchdringendes Falsett Richards Stimme stark ähnelte und auf das Jodeln der Hillbilly-Stilistik zurückging.

Egal von welcher Musik man sich anregen ließ: Die Sehnsucht nach etwas, das die Grenzen des Konventionellen überschritt, ließ sich nicht leugnen, und falls irgendjemand die entsprechenden Gefühle zuerst freisetzte, waren es junge schwarze Männer und Frauen, die nacheinander durch die Clubs oder – wenn sie besser wurden – das Douglass Theatre tingelten, das Macons erster farbiger Millionär Charles Douglass eröffnet hatte. Auf den Leuchttafeln prangten Namen wie Hot Lips Page, Cootie Williams, Lucky Millinder oder Sister Rosetta Tharpe, die Richards Lieblingssängerin war und auch Gitarre spielte. Sie alle standen für einen Wandel, indem sie die Musik des Herrn mit teuflischen Blues-Rhythmen zum Hüftschwingen und offenen Bekundungen fleischlicher Gelüste spickten. Sister Rosetta strahlte unter ihnen am hellsten; Jahre später würdigte man sie als Pionierin des Rock ’n’ Roll und rückwirkend auch als allererste „Soul Sister“. Trotz Anfeindungen von schwarzen Kirchen ließ sie sich nie einschüchtern. Sie stand in den 1940er-Jahren bei Decca unter Vertrag – einem Major-Label, damals eine Seltenheit für Farbige – und landete mit bluesigen Versionen von Spirituals wie „Strange Things Happen Every Day“ R&B-Hits.

Heute sind diese Lieder aufgrund ihres urtümlich tuckernden Rock-Beats bemerkenswert, während ihre laute Resonatorgitarre (heute eher als Dobro geläufig) mit Piano, Bass und Schlagzeug verschmolz. Die Aussicht, Sister Rosetta im Macon City Auditorium zu erleben, war seinerzeit für einen Teenager, der das musikalische Nirwana suchte, so verlockend, dass Richard eine Stelle als Coca-Cola-Verkäufer dort annahm, nur damit er am Bühneneingang warten konnte, bis sie eintraf. Als es so weit war, stapfte er mutig auf sie zu und stimmte „Strange Things“ an. Sie war beeindruckt und lud ihn ein, am Abend mit ihr auf der Bühne zu singen, wofür es herzlichen Applaus gab. Dies sei „das Beste gewesen, was mir je passiert ist.“ Tatsächlich drückte ihm Sister Rosetta anschließend 40 Dollar in die Hand, und obendrein hatte er nun Zugang zum Gebäude, also auch zu anderen Acts. Dazu gehörte auch die große Marion Williams, die an der Spitze der ungeheuer beliebten Gospel-Blues-Truppe Ward Singers stand. Sie gab dem Jungen eines seiner wesentlichen Markenzeichen, wie er sagte: „Sie war diejenige, von der ich das ‚Whoooo!‘ habe.“

1949 galt der 17-jährige Richard gewissermaßen als Kuriosum am Rand des „schwarzen“ Musikgeschehens. Er konnte mit jedem Act jammen, der in einem der städtischen Clubs Station machte. Wenn ihm danach zumute war, sprang er auf die Bühne, auch bei Doctor Nobilio, dem sogenannten „Propheten von Macon“, der einen rot-gelben Umhang und Turban trug, mit einem Zauberstab herumfuchtelte sowie eine gruselige Puppe mit Krallen an den Füßen und Hörnern am Kopf bei sich trug, angeblich ein Kind des Teufels. Außerdem schloss sich Richard für kurze Zeit dem Wanderzirkus Dr. Hudson’s Medicine Show an, dessen Leiter sogar von der Bühne aus Schlangenöl verkaufte. Der Junge kam zum ersten Mal aus Georgia heraus, als man in Florida auftrat. Er kannte nach wie vor nur wenige Lieder, die nicht unter Gospel fielen, konnte aber dafür lauter als jeder andere schreien. Deshalb wurde er für weitere Tourneen engagiert, in deren Verlauf er einfach auf Feldern schlief, weil er sich nicht einmal Zimmer in billigen Absteigen leisten konnte. Unterwegs im Süden lebte man selbst zu besten Zeiten gefährlich.

„Ich wurde grundlos verdroschen“, berichtete er. „Mit Stöcken ins Gesicht geschlagen. Die Polizei hielt mich an und zwang mich, mein Gesicht zu waschen. Ich versuchte immer, mich nicht darüber aufzuregen. Wir kamen in keinem Hotel unter und durften niemandes Toilette benutzen, also machte ich mein Geschäft hinter Bäumen und schlief in meinem Wagen. Ich wusste, dass es etwas Besseres gab und der König der Könige es mir zeigen würde. Ich war Gottes Sohn. Er würde mir den Weg ebnen.“

Und falls nicht Gott, dann Leute, die ihm Unterschlupf gaben. In Fitzgerald, einem Bauernnest in Georgia, hatte die Nachtclubbesitzerin Ethel Wynnes „Erbarmen mit mir“ und gab ihm „Schweineinnereien und -füße zu essen.“ Als dann der Frontmann der Band B. Brown and His Orchestra sturzbetrunken war und es nicht zu einem Auftritt im Etablissement der Frau schaffte, sprang Richard in die Bresche, bevor er zu einer weiteren Tour durchs Hinterland aufbrach – mit derselben Gruppe. Solche glücklichen Fügungen sind es, die Geschichte schreiben. Auf jener Tournee ließ B. Brown ihn als „Little Richard“ auftreten; er hob ihn sogar mit diesem Namen an der Seitenwand des Kombiwagens der Band, der an den Film „The Bingo Long Traveling All-Stars & Motor Kings“ erinnerte, als Mitglied hervor. Das blieb hängen. Und wie das hängen blieb …

Es war sicherlich kein Durchbruch, erdete ihn aber zumindest in der brodelnden „Race Music“-Szene der Nachkriegszeit, in der es ständig lebhafter – und lauter – zuging. Little Richard ließ sich das Wahnhafte gern gefallen. Je häufiger er sich zur Schau stellen konnte, desto besser. Manchmal sang er die Standards oder gab vor, es zu tun, obwohl er nur ein paar Fetzen von „Goodnight Irene“ und „Mona Lisa“ kannte. So zahlte er eben Lehrgeld und trat auf der Stelle, bis er durchstarten konnte. Es ging eindeutig aufwärts, doch er adaptierte weiterhin Allüren anderer Künstler. Ihm dämmerte, dass das Saxofon etwas für Begleitmusiker statt für Sänger war, wohingegen Klaviere nützliche Hilfsmittel sein konnten; man sang, während man einen Tusch auf den Tasten klimperte, erhob sich von der Klavierbank und spielte im Stehen, hüpfte herum und dirigierte die Band. Deshalb heuerte er den lokalen Pianisten Luke Gonder an, der ihm die Grundlagen beibrachte, und entwickelte gewisse Sperenzchen, etwa den Fuß aufs Manual zu legen und eine Hand zum Weiterspielen unters Bein zu schieben.

Darin lag jedoch der Haken, zumindest für Bud. Die Bands und der Inhalt der Jukebox im Tip in Inn beliefen sich strikt auf den Mainstream-Pop und Blues, die beruhigenden Klänge von Duke Ellington, Ella Fitzgerald, Louis Armstrong, den Mills Brothers und Andrews Sisters oder Bing Crosby. Was flippige Sounds anging, waren Blues und Jazz für die Massen – „Take the A-Train“, „Luluʼs Back in Town“, „Boogie-Woogie Bugle Boy of Company B“ – für ihn das Höchste der Gefühle. Wenn sein Sohn in einem Club seiner Konkurrenz auftrat, stellte sich Bud ihn als Teil einer neuen Bewegung übermütiger Bluessänger vor, die alle aufreizende Anzüge trugen, herumzappelten und mit ihren sexuellen Errungenschaften prahlten – der Inbegriff von Teufelsmusik. Dass dieser Teenie ein Wunderkind war, interessierte ihn nicht. Er schämte sich bereits für Richards Respektlosigkeit und hatte schließlich genug davon.

„Weil mein Vater keine ausgefallene Musik mochte und ich mich auch ausgefallen anzog, setzte er mich mit dreizehn Jahren vor die Tür. Er mochte mich nicht, weil ich schwul war, und sagte: ,Mein Vater hatte sieben Söhne, und die wollte ich auch haben. Du hast es versaut, du bist nur ein halber Sohn.‘ Dann schlug er mich, aber ich konnte ja nichts dafür. So war ich einfach.“

In der Tat saß Richard schon seit geraumer Zeit auf der Straße. Er hatte sich mehr oder weniger daran gewöhnt, in jedem Bett und auf jeder Bank zu schlafen, die er finden konnte. An dem Abend, als Bud ihn hinauswarf, verschlug es ihn in eine seiner Stammkneipen im Stadtkern: Miss Annʼs Tic Toc Lounge, betrieben von „Miss“ Ann Howard und ihrem Ehemann Johnny. Er fühlte sich dort unwiderstehlich hingezogen, denn die Kundschaft war … nun ja – jedermann: Schwarze, Weiße, Heteros und Homos (binnen Kurzem wurde Miss Annʼs Macons erste offenkundige Schwulenbar). Wie er sich entsann, stieg er auf die Bühne, erhob seine Stimme, „und die Gäste tickten aus. Ich spielte diesen ,Guitar Rag‘ auf dem Klavier und musste ihn schließlich jeden Abend vier-, fünfmal bringen. Die Besitzer adoptierten mich dann und kauften mir [später] ein brandneues Auto. Ich ging zur Schule, und Ann war viele Jahre lang einfach so zu mir, wie meine Mutter es früher gewesen war. Dann starb Johnny, und ich wurde berühmt, doch sie weigerte sich, Geld von mir anzunehmen. Ich will ihr [immer noch] welches geben, aber nichts da. Sie ist ja selbst Millionärin, aber die beiden waren wirklich lieb zu mir. Ich schlief zwischen ihnen in ihrem Ehebett und werde sie nie vergessen.“

Das größte Lob, das er jemandem aussprach, war den Howards vorbehalten: „Ich glaube, es hat viel mit ihnen zu tun, dass ich Little Richard wurde.“

Nach dem Unterricht kehrte er ins Tic Toc zurück. Vater und Sohn gingen sich gegenseitig aus dem Weg, obwohl sie nahe beieinander wohnten. Richard wusch für ein paar Dollar Geschirr, lungerte herum und drängelte sich in einer Pause ins Abendprogramm, um zur Freude des homosexuellen Publikums einige Lieder zum Besten zu geben. Zudem merkte er sich Ideen für Songs, die er in der Küche zu schreiben anfing, nachdem er bei Fremden am Tisch gesessen und es sich bequem gemacht hatte. Zwei jener Stücke waren noch nicht vollendete Fassungen von „Long Tall Sally“ und „Miss Ann“. Das Erstgenannte bezog sich auf „eine Dame, die ziemlich viel trank und vorgab, erkältet zu sein, wenn sie zu uns ins Haus kam … sie war groß und hässlich. Mann, was für eine hässliche Frau. Sie war so hässlich, dass sich die Leute nach ihr umdrehten, und hatte nur noch zwei Zähne links und rechts neben ihrer Zunge. Noch dazu schielte sie. Wir sagten immer: ,Die lange Sally hat eine flotte Zunge.‘ Ihr Macker hieß John. Wenn man in Georgia unter vielen Menschen aufwächst, nennt man sie Onkel oder Tante, also war dieser Typ unser Onkel John, aber eigentlich mit Mary verheiratet, einem richtig fetten Brummer. Sie saß immer auf der Veranda und aß Wassermelonen … Alle Schwarzen bekamen ihr Gehalt freitags, und man wusste, wenn sich das Wochenende anbahnte, weil dann Whiskey getrunken und gestritten, aber auch gefeiert wurde. Jedenfalls gerieten die zwei mal heftig aneinander, worauf er sich in einem Gässchen versteckte, wenn er sie kommen sah.“

Zu einem weiteren Song wurde Richard inspiriert, als seine Tante Lula unwissentlich Cannabis rauchte und high wurde. Die Familie hatte ihr einen Streich gespielt. „Sie stopften heimlich Gras in ihre Pfeife und dann Tabak obendrauf“, erzählte er. „Sie schmauchte vor sich hin und wusste von nichts, und dann lachte sie einfach in einem fort … Sie war zierlich und zahnlos, der Rausch fast zu heftig für sie. Dabei ist mir „Good Golly, Miss Molly“ eingefallen, denn das sagte sie, als sie so über allen Wolken schwebte. Alles, was ich sang, beruhte auf wahren Begebenheiten.“

* * *

Mit kanpp unter 20 hatte sich Richard zu einem gut aussehenden jungen Mann von knapp zwei Metern Größe gemausert, gertenschlank und dennoch nicht schlaksig, mit Menjoubärtchen und hohen Wangenknochen, die sein Grinsen umso breiter wirken ließen. Seine Frisur entsprach der Mode anderer schwarzer Sänger: eine mit Pomade hochtoupierte Tolle, mit der er schon Jahre zuvor herumgelaufen war, ehe er sie Bud zuliebe abgeschnitten hatte. Seine Aufschneiderei war mehr als putzig; sie drang ins Publikum und gebot Aufmerksamkeit. Er schlug den Saal in seinen Bann, und selbst der Vater musste einsehen, dass sein Sohn einen eigenen Weg einschlagen, eigene Musik singen würde. Als Richard die Hudson High abbrach, wussten seine Eltern, dass sie ihn nicht dazu bringen konnten, es sich noch einmal anders zu überlegen. Trotz allem aber kam der Vater dem Sohn wieder näher, sobald dieser nicht mehr unter seiner Fuchtel stand. Für die zwei begann ein schwieriger Versöhnungsprozess, wobei Bud ein für ihn großes Zugeständnis machte, indem er einem Auftritt von Richard beiwohnte. In seinen Augen gewannen sie beide dadurch, dass Richard für sich selbst aufkam, seinen Mann stand.

„Er hat unsere Telefonnummer“, sagte er zu Leva Mae. „Falls etwas passiert, kann er jederzeit anrufen, dann kommen wir ihn holen, und zwar auf der Stelle.“ Seine letzten Worte zum Thema waren klipp und klar: „Lass ihn gehen.“

Im Grunde aber war Richard bereits gegangen. Für immer.

Das großartige Leben des Little Richard

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