Читать книгу Aufbruch in die Dunkelheit - Mark Stichler - Страница 6
Kapitel 2
ОглавлениеDer alte Escher trat ans Fenster seines Büros und dachte über Geisteskrankheit nach. Nicht dass ihn das Thema wirklich interessierte. Im Gegenteil. Es war ihm zuwider und er ärgerte sich darüber, dass sein Kopf sich mit solch abwegigen Dingen beschäftigte. Viel wichtiger wäre es, sich auf das bevorstehende Gespräch mit Mandelbaum vorzubereiten. Er musste jeden Augenblick hier sein und Escher hatte sich noch keine endgültige Vorgehensweise zurechtgelegt. Es war eine delikate Angelegenheit und er wollte die Kontrolle über das Gespräch behalten. Er würde sie behalten … Doch stattdessen schweiften seine Gedanken immer wieder ab und darüber ärgerte er sich noch mehr. Solche Zerstreutheit kannte er gar nicht an sich.
Schuld war ein Artikel, den Hans vor Kurzem erwähnt hatte. Er handelte von neuen Beurteilungen und Behandlungsmethoden verschiedener Geisteskrankheiten. Hans interessierte sich sehr dafür und ließ sich von solchen Dingen immer sehr leicht beeindrucken. Begeistert hatte er beim Abendessen vor ein paar Tagen davon berichtet. Verschiedene Wissenschaftler, Doktoren und Professoren – Escher formulierte die Wörter in Gedanken mit einem verächtlichen Unterton – hatten neue Theorien über die Ursachen von Krankheiten wie Schizophrenie, Wahnvorstellungen und Melancholie aufgestellt und darauf basierend auch neue Möglichkeiten der Therapie entwickelt.
Für einen kurzen Augenblick empfand Escher deutlich, wie sehr er es für einen Fehler hielt, körperliche und geistige Gebrechen zu trennen. Beide sollten seiner Meinung nach von den gleichen Ärzten behandelt und gar nicht in unterschiedliche Kategorien eingeteilt werden. Würde das ansonsten nicht für immer die geistigen Krankheiten in Misskredit bringen? Nicht dass er gegen eine genaue Analyse wäre … Aber er fühlte instinktiv, dass die Therapie und die Aussicht auf Heilung von der Umwelt des Patienten als vage und wenig verlässlich aufgenommen werden würden. Es war keine klare Sache wie die Behandlung eines Schnupfens, der danach definitiv endete, oder das Entfernen eines Geschwürs. Immer würde nach der Genesung von einer geistigen Schwäche eine kleine Unsicherheit zurückbleiben, ob die Heilung wirklich erfolgreich und endgültig war. Es wäre einfacher, daran zu glauben, wenn dieselben Ärzte sie herbeiführen würden, die eben auch einen Schnupfen behandelten. Ganz zu schweigen davon, dass er selbst der Meinung war, solche Störungen würden auf den Charakter schlagen.
Der eigentliche Grund dafür, dass sich der alte Escher diese Gedanken machte, war allerdings nicht der Artikel. Er hatte ihm nur eine leise Ahnung, eine Befürchtung wieder in Erinnerung gerufen, die er früher einmal gehabt hatte: dass möglicherweise einer seiner Söhne unterschwellig an einer Art dieser als ‚geistig‘ klassifizierten Krankheiten litt und deshalb unter Umständen dieser Stigmatisierung des Unheilbaren, des Labilen und Unzuverlässigen ausgesetzt sein könnte, würde sie jemals ausbrechen. Nur um seinetwillen wollte Escher Gleichberechtigung. Anderenfalls hätte ihn das Thema völlig kaltgelassen.
Der Marktplatz unter ihm lag jetzt fast vollständig in der Sonne. Inzwischen war dort einiges los, Dienstmädchen machten Besorgungen und stoppten auf eine kurze Unterhaltung am Brunnen. Der Bäckerjunge hastete mit zwei Broten unter dem Arm über den Platz. Er schien auf dem Weg zu Eschers Haus zu sein, vielleicht lieferte er eine Bestellung aus, die Maria aufgegeben hatte. Er klopfte seine mehlbestäubte Jacke ab, als er an zwei Damen vorübereilte, die offenbar zu der kleinen Modeboutique wollten, die sich seit ein paar Monaten hinter dem Rathaus befand. Der Schneider bezog seine Stoffe von Escher. Sichtlich empört blieben die beiden stehen und riefen dem Jungen etwas hinterher, doch er hielt nicht an. Kurz erregten drei Männer in eleganten Anzügen am anderen Ende des Platzes Eschers Aufmerksamkeit. Geschäftsleute vielleicht … Aber sie verschwanden in der Gasse hinter der Kirche, bevor er erkennen konnte, um wen es sich handelte.
Der Raum hinter Escher lag im Halbdunkel. Schon des Öfteren hatte er in der Vergangenheit bemängelt, dass ausgerechnet das Büro des Bürgermeisters der dunkelste Raum im ganzen Rathaus war. Die kleinen, tief liegenden Fenster zeigten nach Norden und Osten und es kam vor, dass man trotz Sonnenschein die Lampen bereits am Nachmittag anzünden musste. Aber es war eben auch mit Abstand das größte Büro des Gebäudes. Also fand er sich damit ab.
Er hatte es sich so gut eingerichtet, wie es nach seinen Maßstäben möglich war. An den getünchten Wänden waren goldene Gasleuchten angebracht, den Dielenboden bedeckte ein beigefarbener, mit orientalischen Ornamenten bestickter Teppich, den er von einer seiner Geschäftsreisen mitgebracht hatte. Er nahm ein gutes Viertel des Bodens ein und reichte bis zu seinem schweren Schreibtisch, der schon seit Generationen unverrückt im hinteren Drittel des Zimmers stand. Entlang der Wand neben der Tür, die hinaus auf den Flur führte, reihten sich einige schmale Stühle mit hohen Lehnen. Vor dem Schreibtisch, in schrägem Winkel zueinander, standen zwei Sessel, deren Lehne und Sitzfläche aus Leder waren. An der Wand dahinter hatte ein Maler die Wappen Waldbrüggs und der umliegenden kleineren Gemeinden mit zunehmend verblassenden Farben aufgetragen. An manchen Stellen bröckelte der Putz. Es war dringend notwendig, die Malerei auszubessern. Doch der alte Escher hatte keinen Sinn dafür. Er kannte es nicht anders. Schon sein Großvater hatte in diesem Büro gesessen und in den wenigen Malen, die er ihn als Kind in diesem Raum besuchen durfte, war ihm das Wappen, so, wie es war, immer als bedeutend und gewichtig erschienen.
Es klopfte leise an der Tür.
„Ja?“ Escher fuhr sich mit einer hastigen Bewegung über den Bart und wandte sich um.
Herr Albrecht, der Sekretär, der seine Termine im Rathaus verwaltete, streckte den Kopf zur Tür herein. Es dauerte einen Moment, bis er den Bürgermeister am Fenster entdeckte.
„Mandelbaum ist da“, sagte er und richtete seinen starren, stechenden Blick auf Escher.
„Einen Moment“, erwiderte Escher und begab sich hinter seinen Schreibtisch. Er wollte Mandelbaum auf keinen Fall stehend empfangen. Vor ihm lagen Baupläne der neuen Brücke und einige Ordner. Willkürlich schlug er einen von ihnen auf.
„Schicken Sie ihn herein“, sagte er dann und nahm seine Brille.
Herr Albrecht zog die Tür wieder ein Stück zu und einen Moment später trat Mandelbaum mit Schwung, aber doch beinahe geräuschlos ein. Er war ein schmaler Herr, an den Schläfen wichen seine grauen Haare schon deutlich zurück. Sein für Waldbrüggs Verhältnisse sehr moderner, aber nicht extravaganter Anzug saß tadellos. Einen kurzen Augenblick blieb er stehen und kniff die Augen zusammen, wie um sich an die diffusen Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Vielleicht trug er normalerweise auch eine Brille, die er jetzt aber nicht bei sich hatte. Leichtfüßig bewegte er sich durch den Raum und blieb vor Eschers Schreibtisch stehen.
„Jakob, nur einen ganz kurzen Moment“, murmelte Escher. Er hatte die Stirn in die Hand gestützt, einen Stift vom Schreibtisch genommen und kritzelte eine Notiz in die Akte, die er aufgeschlagen hatte. „Setz dich doch.“ Er zeigte mit dem Stift auf einen der Sessel vor sich.
Mandelbaum lächelte.
„Guten Tag, Franz.“ Er sah sich um. „Ich warte“, sagte er, setzte sich aber nicht in den Sessel, sondern ging hinüber zu dem Fenster, an dem vor wenigen Minuten noch Escher selbst gestanden hatte.
Escher zog unwillig die Augenbrauen zusammen und zwang sich, seine Notiz zu Ende zu schreiben. Einen Augenblick herrschte Stille. Schließlich legte Escher den Stift beiseite.
„So. Nun komm. Setz dich doch“, sagte er und klang ein wenig ungehalten.
Mandelbaum kam vom Fenster zurück und setzte sich. Escher blickte ihn an und lächelte unverbindlich. Unwillkürlich musterte er ihn. Sie kannten sich schon lange und immer hatte er den Eindruck gehabt, als ginge die Zeit fast spurlos am alten Mandelbaum vorbei. Doch jetzt sah er müde aus, kleine, aber sichtbare Fältchen und ein leichter Schatten hatten sich unter den Augen gebildet. Seine Haut wirkte grau, das konnte aber auch am Halbdunkel im Raum liegen.
„Wir haben uns lange nicht mehr gesehen“, sagte Escher. „Wie geht es dir?“
Mandelbaum seufzte.
„Eigentlich geht’s mir ganz gut“, erwiderte er und fuhr sich mit einer schnellen Geste über die Augen, als wolle er die Müdigkeit vertreiben. „Aber meine Schwester …“ Er vollendete den Satz nicht.
Escher runzelte die Stirn.
„Jella oder Lea?“, fragte er.
„Lea“, sagte Mandelbaum. „Es geht ihr sehr schlecht und ich glaube …“ Wieder brachte er den Satz nicht zu Ende. „Jella geht es jedenfalls gut. Das nehme ich zumindest an“, fuhr er stattdessen fort. „Ich habe schon länger nichts mehr von ihr gehört und das ist bei ihr immer ein gutes Zeichen. Ich habe ihr jetzt allerdings wegen Lea geschrieben und hoffe, bald eine Nachricht zu bekommen.“
„Lebt sie noch in Frankfurt?“, fragte Escher. Er hatte sie schon lange Jahre nicht mehr gesehen. In ihrer Jugend war Jella eine sehr schöne Frau gewesen. Escher erinnerte sich ganz dunkel an etwas, das man damals wohl einen Skandal genannt hatte. Die junge Jüdin und … Hatte sie eine Affäre gehabt? Auf jeden Fall hatte sie Waldbrügg nach dieser Geschichte sehr überstürzt verlassen. Ihm war es offensichtlich nicht wichtig genug gewesen. Er wusste es nicht mehr. Das alles mochte mindestens zwanzig Jahre her sein.
„Ja, natürlich“, sagte Mandelbaum. „Keine zehn Pferde würden sie von dort wegbringen. Aber ich denke, dass sie uns sicher bald besuchen kommt. Es gibt ja noch einen Grund.“ Er räusperte sich. „Einen erfreulichen. Ava wird heiraten.“
Escher sah ihn erstaunt an.
„Deine Tochter? Ist sie …“ Irritiert fuhr er sich mit einer schnellen Handbewegung über seinen Bart. „Sie ist im gleichen Alter wie Hans, nicht wahr?“
„Sie wird einundzwanzig“, erwiderte Mandelbaum. „Es wird Zeit. Sie hat einen jungen Mann aus der Möbelmanufaktur kennengelernt. Er ist einer meiner tüchtigsten Mitarbeiter.“ Er räusperte sich noch einmal und setzte dann ein leichtes Lächeln auf. „Ich freue mich sehr, dass du dich nach meiner Familie erkundigst, Franz“, fuhr er fort und zögerte. „Aber … Du hast sicher noch etwas anderes auf dem Herzen, nicht wahr? Sagst du mir, was so wichtig ist, um dafür einen offiziellen Termin im Rathaus zu vereinbaren? Ich nehme an, du hast mich aus einem bestimmten Grund hierherbestellt.“
Escher betrachtete ihn einen Augenblick aufmerksam. Er war sich nicht sicher, ob Mandelbaum wegen des Termins besorgt war oder ob er sich im Gegenteil ein klein wenig über ihn amüsierte. Er spürte einen leisen Ärger in sich aufsteigen. Sein Blick wanderte auf die Baupläne vor sich.
„Nun“, sagte er streng. „Es gibt Dinge, die man nicht kurz bei einer zufälligen Begegnung auf der Straße bespricht.“ Den ganzen Vormittag hatte er versucht, sich eine Strategie, eine Vorgehensweise zurechtzulegen, und wusste jetzt doch nicht, wie er die Sache richtig angehen sollte. Aber er hatte ein Thema, das Mandelbaum interessieren könnte, einen kleinen Umweg, der ihn indirekt, aber vielleicht doch zum Ziel bringen würde, und beschloss, es einfach aufs Geratewohl zu versuchen. „Es ist eine heikle Angelegenheit.“
Eine Pause entstand, während der Escher konzentriert auf seinen Schreibtisch blickte. Mandelbaum schlug die Beine übereinander und wartete geduldig.
„Wie du vielleicht schon weißt, soll in naher Zukunft die allgemeine Gewerbesteuer für Unternehmen eingeführt werden“, fuhr Escher unvermittelt mit lauter Stimme fort. Mandelbaum zuckte zusammen. Es war das erste Anzeichen überhaupt, dass er nervös sein könnte. Escher registrierte es zufrieden. „Und es steht zu befürchten, dass demnächst auch eine Vermögenssteuer eingeführt wird.“ Er sah von seinem Schreibtisch auf. „Auf die Vermögenssteuer habe ich – also, die Gemeinde – aller Voraussicht nach keinen Einfluss. Auf die Gewerbesteuer aber sehr wohl …“
Mandelbaum runzelte die Stirn.
„Ich habe von den Plänen der Regierung für eine Steuerreform gehört“, sagte er, nachdem Escher seinen Satz nicht zu Ende brachte. „Worauf willst du hinaus? Mir scheint das neue System etwas klarer, sogar gerechter zu sein als das alte.“
„Mag sein“, erwiderte Escher und lächelte verschmitzt. „Auf jeden Fall bietet es den Gemeinden mehr Flexibilität. Sollte die Steuerreform wie angekündigt kommen, dann fällt die Gewerbesteuer direkt der Stadt zu. Und ich denke, wir können da vielleicht im einen oder anderen Fall und an der einen oder anderen Stelle ein Auge zudrücken.“
Mandelbaum sah Escher nachdenklich an, als würde er überlegen, was er ihm eigentlich sagen wollte.
„Das neue Gesetz scheint für uns alle zum Vorteil zu sein“, meinte er schließlich vorsichtig.
„Nun ja.“ Der alte Escher lachte. „Zuerst einmal bedeuten Steuern Kosten. Und jeder Betrieb wünscht sich doch möglichst wenig davon, nicht wahr? Es sieht beinahe so aus, als würden die Unternehmer stärker belastet als bisher.“
„Möglich.“ Mandelbaum schien sich immer noch nicht im Klaren darüber zu sein, auf was Escher hinauswollte. „Aber wenn davon Bauvorhaben wie unsere neue Brücke finanziert werden, finde ich es eine sinnvolle Ausgabe für die Betriebe. Vielleicht wird es dadurch irgendwann auch möglich, die Ausfallstraßen endlich besser zu befestigen …“
Escher machte ein unzufriedenes Gesicht.
„Ja, ja“, erwiderte er eilig und winkte ab. Er hatte Mandelbaum nicht hergebeten, um Tipps für die Verwendung der städtischen Finanzen zu bekommen. „Vielleicht … Ich kann dir jedenfalls eins versichern: Nicht alle Unternehmen werden den Höchstsatz zahlen müssen. Ich habe vor, ein paar Ausnahmen durchzusetzen. Du wirst sehen.“
„Ja.“ Mandelbaum seufzte. „Wie gesagt, ich habe nichts dagegen, Steuern zu zahlen, die für sinnvolle Projekte verwendet werden. Aber wir müssen doch noch abwarten, ob die Steuer überhaupt wie geplant kommt. Ich habe den Eindruck, als wären nicht alle in der Regierung wirklich überzeugt von dieser Reform.“
Escher beugte sich vor und sah Mandelbaum in die Augen.
„Sie wird kommen“, sagte er fest. „Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.“ Er erhob sich. „Die Steuer wird noch in diesem Jahr eingeführt. Und ich wollte dich wissen lassen, dass es deinem Geschäft nicht zum Nachteil gereichen wird. Wir sind seit Langem Geschäftspartner … und Freunde. Nicht wahr?“
„Ja. Sicher“, erwiderte Mandelbaum zögernd. Er erhob sich ebenfalls und ging langsam zur Tür. „Das ist nett von dir.“
Der alte Escher verdrehte die Augen, aber Mandelbaum bemerkte es nicht. Er drückte die Klinke hinunter.
„Jakob“, sagte Escher in vertraulichem Ton. „Lass es dir in Ruhe durch den Kopf gehen. Wir haben doch lange gut zusammengearbeitet. Bestimmt finden wir bald einmal wieder die Gelegenheit dazu. Du weißt, meine Stoffe sind die besten der ganzen Gegend.“
Mandelbaum sagte nichts. Er lächelte und nickte leicht. Doch dieses Nicken hatte nichts zu sagen, das spürte Escher genau. Es war entweder der zunehmenden Senilität Mandelbaums geschuldet oder seinem schlauen Abwägen, was das Beste für ihn sein mochte.
„Bestimmt. Auf Wiedersehen“, sagte Mandelbaum denn auch unverbindlich. „Es war schön, dich wieder einmal zu sehen.“
„Ja“, erwiderte Escher ungehalten. „Das war es. Denk über meine Worte nach.“
Als Mandelbaum sein Büro verlassen hatte, schüttelte er den Kopf. Das Gespräch war alles andere als zufriedenstellend gelaufen. Was hatte er zu erreichen gehofft? Natürlich war nicht damit zu rechnen gewesen, dass Mandelbaum gleich mit offenen Armen auf ihn zukam. Das wäre wohl zu viel verlangt gewesen, nachdem er ihre Geschäftsverbindungen erst vor kurzer Zeit völlig auf Eis gelegt hatte. Wohlgemerkt, es war Mandelbaum gewesen, der ihre Verträge aufgekündigt hatte …
Escher stand immer noch an der Tür, die Klinke in der Hand, und starrte gedankenverloren vor sich hin. Die Verträge gekündigt … Das war doch eigentlich eine Ungeheuerlichkeit. Er erinnerte sich, wie er in Mandelbaums Möbelmanufaktur gestürmt war, völlig außer sich. Beziehungsweise fassungslos. Er war überzeugt gewesen, dass es sich nur um einen Irrtum handeln konnte. Ja, sicher, sie hatten die Preise etwas angehoben. Aber das war doch noch lange kein Grund, gleich alles hinzuwerfen. Doch genau das war passiert. Escher schüttelte wieder den Kopf, als könne er es immer noch nicht glauben. Das war eben diese typisch jüdische Art, Geschäfte zu machen. Kompromisslos gegen Freund und Feind, rein auf den Profit bedacht. Ohne Wenn und Aber kappte der Alte jahrzehntelange Geschäftsverbindungen, ohne mit der Wimper zu zucken. Über zwanzig Jahre hatte Escher Mandelbaums Möbelmanufaktur, deren Markenzeichen, die großen drei M, inzwischen bis über die Landesgrenzen hinaus bekannt war, mit Stoffen beliefert. Und dann erklärte ihm der alte Mandelbaum eiskalt, er habe einen neuen Lieferanten gefunden, der bei gleicher Qualität wesentlich günstiger liefere.
„Idiot“, sagte Escher leise, holte tief Luft und ging zurück zu seinem Schreibtisch. Er versuchte, sich auf die vor ihm liegende Akte zu konzentrieren, aber es gelang ihm nicht. Gut, er war Mandelbaum im Preis nicht entgegengekommen. Vielleicht hätte er das zumindest in Erwägung ziehen sollen. Aber damals hatte er im Traum nicht daran gedacht. Er hatte das alles nur für einen billigen Schachzug des Alten gehalten und nicht einmal Hans ins Vertrauen gezogen. Sicher würde Mandelbaum bald wieder zu ihm kommen, hatte er gedacht, zu Kreuze kriechen sozusagen. Escher lächelte grimmig, als ihm die doppelte Bedeutung des Wortes aufging.
Doch offensichtlich hatte Mandelbaum tatsächlich einen günstigeren Lieferanten gefunden. Er kam nicht, Escher hörte nichts mehr von ihm und blieb auf einem Großteil seiner Ware sitzen. Nicht, dass ihn der Verlust des Auftrags wirklich in Schwierigkeiten gebracht hätte. Das nicht. Aber andererseits machten die Lieferungen an die Mandelbaum’sche Möbelmanufaktur einen nicht unerheblichen Teil seines Umsatzes aus.
Escher hatte keine Ahnung, ob sein Angebot vorhin überhaupt bei Mandelbaum angekommen war. Wenn ja, dann hatte er sich auf jeden Fall sehr bedeckt gehalten und mit keiner winzigen Reaktion zu erkennen gegeben, dass er verstanden hatte. Ärgerlich schlug Escher die Akte zu. Er hatte seine Karten viel zu leichtfertig ausgespielt, plump beinahe … Er erhob sich abrupt. Es hatte keinen Zweck. Er konnte sich jetzt einfach nicht auf die städtischen Angelegenheiten konzentrieren. Was ihm noch heute Vormittag als ein guter Plan erschienen war, kam ihm jetzt albern und peinlich vor. Das Gespräch war katastrophal verlaufen. Was würde Mandelbaum bloß von ihm denken? Über diesen Gedanken ärgerte er sich noch mehr. Er nahm Mantel und Hut und verließ sein Büro.
„Ich bin im Kontor“, rief er unten in der Halle in Albrechts Zimmer.
„Herr Bürgermeister“, rief Albrecht verblüfft. Er sprang auf und eilte zu seiner Tür. „Herr Escher … So früh?“
„Ja“, erwiderte Escher gereizt und öffnete ohne weitere Erklärung die schwere Eichentür des Rathauses, die hinter ihm schwer wieder ins Schloss fiel.
Mandelbaums Haus und sein ehemaliges Kontor lagen in einer engen Gasse am Rand des kleinen Judenviertels Waldbrüggs. Die Manufaktur hatte er nach dem Bekanntwerden der Pläne für den Bau einer neuen Brücke nach außerhalb der Stadtmauern auf die gegenüberliegende Seite des Flusses verlegt. Das Haus stak mit düsterer, fast schwarzer Fassade wie eingequetscht zwischen zwei anderen ähnlicher Bauart, die jedoch viel kleiner wirkten. Doch man sah auch dem Mandelbaum’schen Haus von außen kaum an, wie groß es tatsächlich war, da es sich weit nach hinten erstreckte. Und trotz Avas unermüdlichen Bemühungen mit Blumen und Gardinen zeigte es zur Gasse hin stets ein düsteres und abweisendes Gesicht. Wenn Ava und ihr Bruder Simon zu kleinen Abendgesellschaften einluden – was selten der Fall war –, mussten die wenigen Gäste, die mit einer Kutsche kamen, immer vorne an der Straße aussteigen und die paar Meter bis zur Tür zu Fuß zurücklegen. Die Gasse war schlicht zu schmal für einen Wagen und zwei Pferde.
Mandelbaum betrat das Haus durch eine unscheinbare seitliche Tür. In dem kleinen, angrenzenden Vorraum war es düster und dunkel. Nur eine kleine Tranlampe erhellte den Flur notdürftig. Das ganze Haus war inzwischen mit Gaslampen ausgestattet. Nur hier, im Eingangsbereich, hatte es Mandelbaum bei den alten Öllampen belassen.
Nach wenigen Metern führte der Gang zu einer Tür im Erdgeschoss. Dort ging es zum alten Kontor, das sich im hinteren Haus in erstaunlichen Ausmaßen übers gesamte Erdgeschoss erstreckte. Jetzt stand es leer, nur ein paar alte Möbel und Ausschussware lagerten noch darin. Mandelbaum dachte an Ava und musste schmunzeln. Sie behauptete steif und fest, dass es seit dem Umzug dort spuke. Merkwürdige Geräusche würden am Abend und in der Nacht aus den Räumen hinter der Tür dringen. Ihr Bruder hatte ihr daraufhin geraten, in der Nacht zu schlafen und nicht allein durchs Haus zu wandern.
Neben der Tür führte eine dunkle, schmale Treppe hinauf zu den Wirtschafts- und Wohnräumen. Im ersten Stock wurde es unerwartet heller, denn die Rückseite des Hauses stand frei und durch die schmalen Fenster drang mehr Licht. Der alte Mandelbaum betrat das Wohnzimmer. Es war ein geräumiger, heller Raum, der sich von der Tür aus in einer Art auf dem Kopf stehender L-Form nach hinten erstreckte. Am Fenster beim Eingang stand ein Tisch, dekoriert mit einer Vase und den ersten Blumen des Frühlings. Daneben waren ein paar Stühle gruppiert, dahinter, wie eine Insel in der Mitte des Raums, eine Sitzgruppe, bestehend aus drei schweren Sesseln, einem großen Sofa und einem niedrigen Tischchen. Eine ähnliche Gruppe, nur leichter und eleganter, stand hinten im Raum, etwas im Eck versteckt. Insgesamt wirkte der Raum, so verlassen wie er jetzt schien, beinahe wie ein Ausstellungsraum für Möbel, der vielleicht zwei der Design-Linien der Möbelmanufaktur präsentierte. Auf jeden Fall waren sie etwas zu mondän und zu ausladend für das Zimmer. Dank seiner Schwester Jella standen die Sessel, Sofas und Chaiselongues der Marke MMM auch in vielen Salons großer Städte wie Hamburg, Frankfurt und Berlin. Ohne sie und ihre Beziehungen zu den Künstler- und Bürgerkreisen dieser Städte wäre die Manufaktur nie zu dem Ruf gelangt, der ihren jetzigen Erfolg ausmachte.
Als Mandelbaum die Sitzgruppen mit einem prüfenden Blick musterte, regte sich jemand in einem der hinteren Sessel. Der Raum war nicht verlassen, wie er anfangs angenommen hatte. Ava saß dort und stickte. Sie hatte die Tür gehört und beugte ihren Oberkörper vor, um zu sehen, wer das Zimmer betreten hatte.
„Du bist schon wieder zurück?“, rief sie überrascht, als sie ihren Vater entdeckte.
„Ja.“ Mandelbaum seufzte.
Ava legte ihr Stickzeug beiseite und trat zu ihrem Vater.
„Was wollte er denn?“, fragte sie neugierig.
Mandelbaum betrachtete sie ernst. Die dunklen Locken, den hellen Teint … Die lebhaften, beinahe schwarzen Augen hatten sie und ihr Bruder von ihrer Mutter geerbt, die schon vor vielen Jahren gestorben war. Ava trug ein einfaches, schlichtes Frühlingskleid, das den Raum heller machte. Sie selbst machte den Raum heller, fand Mandelbaum. Er schüttelte den Kopf und lächelte.
„Es war wohl doch nicht so wichtig, wie ich gedacht hatte“, sagte er. „„Außerdem ist das keine Frage, die eine Tochter ihrem Vater stellt. Du könntest zum Beispiel fragen, ob ich müde bin. Oder ob ich zu Mittag essen will. Oder …“
„Ja, ich weiß schon …“, unterbrach Ava ihn und nickte ungeduldig. „Fragen, die ein braves Mädchen seinem Vater eben stellt.“ Sie hakte sich bei Mandelbaum unter. „Aber da hast du mich wohl falsch erzogen.“ Sie lachte. „Nun sag schon, Papa. Was wollte Escher denn so dringend?“
Mandelbaum warf ihr einen bedenklichen Blick zu.
„Ich weiß auch nicht“, sagte er. „Die Frauen in dieser Familie …“
„Vater …“, beharrte Ava mit vorwurfsvollem Blick.
„Wir wollen hinübergehen. Sicher ist das Essen schon aufgetragen, und wie ich deinen Bruder kenne, sitzt er bereits am Tisch und wartet ungeduldig auf uns.“
„Soll er warten“, erwiderte Ava erbarmungslos.
„Na.“ Mandelbaum runzelte die Stirn. „Sicher will auch er wissen, wie die Besprechung mit Escher gelaufen ist.“
Tatsächlich saß Simon im Esszimmer am Tisch und blätterte in einer Zeitung, als Mandelbaum mit Ava den Raum betrat. Simon warf die Zeitung hin.
„Da seid ihr ja“, rief er lebhaft. „Ich habe schon auf euch gewartet.“
Mandelbaum lächelte.
„Du hattest recht“, flüsterte Ava, gab seinen Arm frei und setzte sich Simon gegenüber.
Von der Küche brachte das Mädchen eine Schale Knishes und einen Krug Wasser herein. Lina war eine kräftige, bleiche junge Frau, fast noch ein Kind, mit widerspenstigem, mausbraunem Haar, das sie schlampig nach hinten gebunden hatte. Sie war die jüngste Tochter einer verarmten Bauernfamilie. Ihre Eltern hatten sie zum Arbeiten in die Stadt geschickt.
Mandelbaum nahm am Kopf der Tafel Platz.
„Und?“, fragte Simon.
„Und?“, gab Mandelbaum zurück. „Sollte das eine Frage sein? Euer Benehmen lässt manchmal wirklich zu wünschen übrig.“ Er nahm ein Knish aus der Schale und goss sich Wasser ein. „Wie läuft es in der Manufaktur? Wird der Auftrag für Frankfurt diese Woche noch fertig?“
„Ich denke schon.“ Auch Simon griff zu. Er legte seiner Schwester ein Knish auf den Teller, dann sich selbst. „Wenn nicht, müssen wir am Samstag die Schicht verlängern. Aber ich glaube, wir schaffen es ohne Überstunden.“
„Mhm.“
Einen Augenblick herrschte Ruhe.
„Ich wollte eigentlich wissen, wie es bei Escher im Rathaus war“, sagte Simon dann.
„Ich auch“, rief Ava ungeduldig.
Mandelbaum verzog unwillig den Mund. Das Gespräch hatte bei ihm einen unangenehmen Nachgeschmack hinterlassen. Es war ihm klar, dass Escher nicht wirklich über die Steuerreform mit ihm sprechen wollte. Es ging ihm um seine Aufträge. Aber die Art und Weise, wie er es anging, erregte Mandelbaums Besorgnis. Er wollte nicht in dieses System eingebunden werden, das Escher ihm indirekt angeboten hatte. Sein Vorschlag, die Steuern für die Manufaktur zu erleichtern, war wahrscheinlich noch im Rahmen der Legalität. Aber es war auch nicht ganz sauber, nicht fair anderen gegenüber, und er erhoffte sich dadurch Vorteile. Jedenfalls nahm Mandelbaum das an … Seine Sorge lief aber auf etwas anderes hinaus, das er sich nicht richtig erklären konnte. Es war mehr ein Gefühl, dass etwas nicht richtig lief und Escher sich möglicherweise auch anderer Mittel bedienen könnte.
„Es war nichts“, sagte er. „Ganz belanglos.“
In kurzen Worten schilderte er das Gespräch mit Escher.
„Und er hat nach euch beiden gefragt“, fügte er abschließend beiläufig hinzu.
„Hat er nicht versucht, einen neuen Vertrag auszuhandeln?“, fragte Simon erstaunt, ohne auf die letzte Bemerkung seines Vaters einzugehen.
„Nicht direkt“, erwiderte Mandelbaum. „Aber ich hatte schon das Gefühl, als sei er daran interessiert.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich bin mit dem neuen Lieferanten bis jetzt sehr zufrieden. Es gibt keinen Grund, wieder mit Escher zusammenzuarbeiten …“
„… außer um des lieben Friedens willen“, ergänzte Simon.
„Es ist nur ein Geschäft.“ Mandelbaum zuckte mit den Schultern. „Escher hatte die Preise schon wieder erhöht. Und zwar deutlich. Es ist mein gutes Recht, mich nach einem besseren Angebot umzusehen.“
„Hast du ihm von der Hochzeit erzählt?“, fragte Ava dazwischen. Sie war ein bisschen rot geworden.
Mandelbaum warf ihr einen erstaunten Blick zu.
„Ja, habe ich“, sagte er. „Warum fragst du?“
„Nur so.“ Verlegen blickte sie vor sich auf den Teller.
„Er hat sich auch nach deiner Tante erkundigt.“
Das Mädchen kam aus der Küche und brachte Fisch und Gemüse herein.
„Es geht ihr schlechter“, sagte Ava traurig. „Heute Nachmittag kommt der Arzt, um nach ihr zu sehen. Sie hat viel geschlafen. Aber es hilft ihr nicht. Sie wird einfach immer schwächer.“
„Ich besuche sie nachher.“ Mandelbaum wandte sich an das Mädchen. „Bekommt sie von dem Eintopf?“
„Ich habe ihr gerade eben welchen gebracht“, murmelte Lina. „Aber sie wollte nichts essen.“
Mandelbaum schüttelte besorgt den Kopf.
„Sie muss“, erwiderte er bestimmt. „Ich rede mit ihr.“
„Wir können doch …“ Ava zögerte. „Wir können doch am Freitag trotzdem unsere Gäste empfangen, oder, Vater?“
„Ach, ja. Bitte“, rief Simon, bevor Mandelbaum etwas sagen konnte. „Es ist so wenig los in dieser Stadt. Und es sind doch nur ein paar Leute.“
„Ich weiß nicht“, sagte Mandelbaum unschlüssig. „Man wird uns mangelnde Pietät vorwerfen. ‚Seht nur die Mandelbaums‘, werden sie sagen. ‚Die Schwester liegt todkrank im Bett und sie feiern.‘ Ich kenne doch die Leute …“
„Es ist mir völlig gleichgültig, was die Leute sagen“, ereiferte sich Simon. „Es sind doch nur ein paar Freunde. Junge Leute aus angesehenen Familien. Das ist sicher nicht schlecht fürs Geschäft. Und mit ein paar von ihnen kann man sich wenigstens ein bisschen unterhalten. Über Literatur … Politik … Das ist wirklich selten hier.“
„Literatur … Politik“, wiederholte Mandelbaum verächtlich. „Als ob es nichts Wichtigeres gäbe.“
„Was sollte es Wichtigeres geben als Politik?“, rief Simon.
„Ja, ja, ich weiß schon …“ Mandelbaum winkte ab. Die Gespräche mit seinen Kindern über dieses Thema liefen immer gleich ab. Simons dunkle Augen begannen zu funkeln, sobald das Gespräch auf Politik kam. Er wollte debattieren, argumentieren, streiten … Mandelbaum wurde durch ihn an seine eigene Jugend erinnert, als auch er sich von der Politik viel versprochen hatte. Damals war es nicht beim Debattieren geblieben. Aber gebracht hatte es letzten Endes … so gut wie nichts. Nicht für die Bürger und auch nicht für sein Volk. Seit Langem hatte er es aufgegeben, Erwartungen in die Politik zu legen. Er war nach Waldbrügg zurückgekommen und hielt sich nur an seine Geschäfte. Und er hatte Glück gehabt mit seiner Manufaktur.
„Es sollte euch nicht egal sein, was die Leute sagen“, sagte er. „Ihr dürft nie vergessen, wer ihr seid. Ihr hattet Glück. Wir alle hatten Glück. Aber ich habe auch schon andere Zeiten erlebt. Ihr seid in einer ruhigen Stadt und in einer relativ ruhigen Zeit aufgewachsen. Doch das ändert sich wieder. Und langsam wird es auch hier spürbar. Der Ton in den Zeitungen … Dieser Journalist, der hergekommen ist und den neuen Club gegründet hat …“
„Genau deshalb ist es doch so wichtig, den Unsinn nicht unkommentiert zu lassen, den Maarsen schreibt. Zu zeigen, dass wir hier am Leben teilnehmen“, erwiderte Simon eifrig.
Mandelbaum seufzte.
„Von mir aus ladet eure Gäste ein. Auch wenn ich wünschte, ihr würdet auf diese Treffen verzichten.“
Der alte Escher hatte das Rathaus in schlechter Laune verlassen, und als er jetzt den Platz überquerte, wurde sie immer schlechter. Das Gespräch mit Mandelbaum war keinen Augenblick so verlaufen, wie er es sich vorgestellt hatte. Als er die Unterhaltung in Gedanken noch einmal rekapitulierte, stand am Ende sogar er noch als Bittsteller da. Oder wie jemand, der unlautere Geschäfte vorschlug. Mandelbaum hatte ihn jedenfalls so seltsam angesehen, als würde er genau das vermuten. Von ihm, dem Bürgermeister. Weshalb wohl hatte er ihn zu einem offiziellen Gesprächstermin ins Rathaus gebeten? Um sich solchen Unterstellungen auszusetzen? Er hatte Mandelbaum von den Steuerreformen berichtet, mehr nicht. Dass er ihm als Unterstützung seines Unternehmens eventuelle Erleichterungen in Aussicht gestellt hatte, das sollte ihm jetzt als Bevorteilung ausgelegt werden? Escher war außer sich und erwiderte kaum einen der zahlreichen Grüße, die ihm verschiedene Leute auf dem Marktplatz zuriefen.
Wer war Mandelbaum, ihm diesen moralischen Zeigefinger vor Augen zu halten? Empört stieß Escher die Tür zum Kontor auf und platzte ins Büro von Hans. Der sah erstaunt auf und betrachtete seinen Vater, der mit rotem Kopf vor ihm stand. Dann lächelte er.
„Ich brauche wohl nicht zu fragen, wie das Gespräch mit Mandelbaum verlaufen ist“, sagte er ruhig.
„Sei nicht so vorlaut“, herrschte Escher ihn an. Wütend schüttelte er den Kopf. „Also, so etwas ist mir noch nie passiert.“
Hans sagte nichts und wartete.
„Ich …“, stieß Escher hervor. „Ich … wollte ihm nur helfen.“ Er warf einen schnellen Blick auf seinen Sohn, als wolle er kontrollieren, ob er ihm glaubte.
„Nun ja“, erwiderte Hans lahm.
„Was heißt hier ‚Nun ja‘?“ Escher runzelte erbost die Stirn.
„Nun ja heißt, dass du doch mit ihm über die gekündigten Verträge sprechen wolltest.“
„Dazu ist es nicht gekommen“, sagte Escher barsch und winkte ab. Nur langsam wurde er ruhiger. „Zuerst haben wir über die bevorstehende Steuerreform gesprochen. Ich habe ihm in Aussicht gestellt, dass er möglicherweise von einigen Nachlässen profitieren könnte, die in meinem Ermessen liegen.“
„Und?“, fragte Hans. Sein Vater setzte sich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch.
„Ich bin mir gar nicht sicher, ob er verstanden hat, um was es geht“, sagte er verächtlich.
„Ach, Vater.“ Hans beugte sich vor. „Wir kennen die Mandelbaums schon so lange … Er wird schon verstanden haben, um was es dir geht.“
„Dann bin ich noch auf unsere Geschäfte zu sprechen gekommen … indirekt. Ich wollte ihn ja nicht gerade bitten, wieder mit uns zusammenzuarbeiten.“
„Hm.“ Hans zuckte mit den Schultern. „Wir sind auf seine Aufträge nicht angewiesen.“
„Was verstehst du schon davon?“, fuhr sein Vater ihn an. Er atmete tief ein und fuhr dann ruhiger fort: „Vielleicht nicht, aber es wird schwer, den Verlust auszugleichen. Mandelbaum war einer unserer großen Kunden. Und jetzt stellt er sich quer …“
„Also …“, wollte Hans einwenden, überlegte es sich dann aber anders. In dieser Laune war mit seinem Vater nicht zu reden.
„Es ist immer das Gleiche“, sagte Escher mehr zu sich selbst als zu Hans. „Da denkt man, man kennt jemanden … Es ist einfach kein Verlass auf die Leute. Und am wenigsten auf Mandelbaum und seine Sippe.“ Er blickte auf. „Apropos Sippe. Seine Tochter heiratet. Da werden bald noch mehr Mandelbaums durch die Gegend laufen.“
„Was?“ Hans setzte sich abrupt auf. „Ava heiratet? Davon hat sie mir gar nichts erzählt.“
Escher sah seinen Sohn verwundert an.
„Ich wusste nicht, dass sie dir Rechenschaft schuldig ist“, sagte er.
„Das ist sie natürlich nicht“, beeilte Hans sich zu sagen und wurde rot. „Mich … wundert nur, dass sie es nicht erzählt hat.“
„Geht ihr immer noch zu ihren Gesellschaften?“, fragte Escher ärgerlich.
„Ab und zu“, sagte Hans lahm. „Es ist nicht gerade viel los in dieser Stadt.“
„Dann geh lieber mit Eduard in den Club. Da ist was los“, meinte Escher unzufrieden.
„Niemals“, rief Hans entrüstet. „Leute wie Maarsen setzen Gerüchte in die Welt, wiegeln die Leute auf, stiften Unruhe mit ihren völlig haltlosen Theorien …“
„Ach, was.“ Escher wischte Hans’ Einwände mit einer Handbewegung beiseite. „Das sind gebildete Leute. Weitgereist … Dieser Maarsen, na ja … Aber er lädt regelmäßig bekannte Gastredner ein. Industrielle, Politiker, die sich intensiv mit unserer Gesellschaft beschäftigt haben. Was ihr hilft, woran sie krankt. Leute, die am Aufbau und am Fortschritt mitarbeiten.“
„Wenn es nach denen geht, krankt die Gesellschaft vor allem an den Sozialisten und den Juden“, wandte Hans ärgerlich ein.
„Was ja kein Trugschluss ist“, sagte Escher trocken. „Oder glaubst du im Ernst, dass die Theorien von Marx, Lassalle und wie diese Querulanten alle heißen, unserer Nation von Nutzen sind?“
„Bei Ava und Simon trifft man eben ab und zu interessante Leute. Das ist wirklich selten hier“, erwiderte Hans trotzig. Er würde sich mit seinem Vater nicht auf eine Diskussion über Sozialismus einlassen, schon gar nicht in der Stimmung, in der er sich gerade befand.
„So schlimm, wie ihr beide es immer schildert, ist es um unsere Stadt gar nicht bestellt“, brummte Escher. „Komm, lass uns essen gehen.“
„Wer ist denn der Glückliche, den Ava heiraten will?“, fragte Hans, als sie zusammen sein Büro verließen.
Der alte Escher zuckte mit den Schultern.