Читать книгу Aufbruch in die Dunkelheit - Mark Stichler - Страница 8
Kapitel 4
Оглавление„Bitte, komm mit. Ich kann unmöglich alleine hinuntergehen.“
Simon schüttelte den Kopf, dass seine Haare flogen, und lachte.
„Wenn du als Einzige Geister siehst, dann musst du sie auch alleine austreiben“, sagte er.
„Du musst“, beharrte Ava, verschränkte die Arme und blickte ihn mit funkelnden Augen an, als sei sie entschlossen, so lange vor ihm stehen zu bleiben, bis er sich erhob und mit ihr nach unten ging. „Ich kann einfach nicht …“ Beim Gedanken, das verlassene Kontor alleine zu durchsuchen, schüttelte es sie.
„Ava.“ Simon schüttelte noch einmal den Kopf, dieses Mal ernsthafter. „Ich kann nicht. Es ist schon spät, ich muss weg.“
„Du wirst doch wohl eine halbe Stunde Zeit für deine Schwester haben“, rief Ava mit einer Energie, die man ihr gar nicht zugetraut hätte. Sie war sehr schmal und der Kontrast zwischen der Blässe ihres Teints und ihren dunklen Haaren und Augen ließ sie oft etwas kränklich erscheinen. Der äußere Eindruck täuschte jedoch. Ava war sehr temperamentvoll, voller Tatkraft und wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, war sie nur schwer davon abzubringen. „Bitte.“
Simon seufzte.
„Da unten steht alles voller Gerümpel. Bestimmt ist es schrecklich verstaubt. Spinnweben, Mäuse … Es gibt dort wirklich nichts, was für irgendjemanden von Interesse wäre. Nicht einmal für einen Geist. Überleg doch nur. Es wäre schrecklich langweilig für ihn. So ein Geist will doch bestimmt auffallen. Es macht überhaupt keinen Sinn, in einem verlassenen Kontor zu spuken.“
„So ein Unsinn.“ Ava schüttelte unwirsch den Kopf, fasste Simon am Arm und zog ihn vom Frühstückstisch weg. „Geister spuken immer an verlassenen Orten. Und schließlich habe ich es ja bemerkt. Mir ist gestern Nacht beinahe das Herz stehen geblieben. Ein Wunder, dass du nichts gehört hast.“
„Ich habe schon mehrfach betont, dass ich die Angewohnheit habe, nachts zu schlafen“, bemerkte Simon spöttisch.
„… die Angewohnheit habe, nachts zu schlafen“, machte Ava ihn affektiert nach und verdrehte die Augen. „Ich auch … normalerweise.“ Sie zog am Ärmel von Simons Jacke. „Bitte.“
Simon gab sich einen Ruck.
„Also gut“, sagte er. „Wir sehen nach. Kurz, in Ordnung?“
„In Ordnung“, rief Ava und klatschte vor Freude in die Hände. „Komm, schnell.“
„Moment, Moment. Wir brauchen ja wenigstens eine Lampe. Da unten sind doch sämtliche Fenster zugestellt oder verhängt. Wir werden sonst kaum die Hand vor Augen sehen.“ Simon eilte in die Küche und kam mit der kleinen Laterne zurück, die Tante Lea immer benutzt hatte, wenn sie Kartoffeln oder Kohle aus dem Keller holte. Bevor sie krank geworden war … Jetzt benutzte Lina, ihr Hausmädchen, den Leuchter.
Im Vorraum zum ehemaligen Kontor brannte lediglich eine schwache Wandlampe, die ein diffuses Licht von sich gab. Bestimmt zwei Jahre war die Tür zu den früheren Geschäftsräumen der Mandelbaum’schen Möbelmanufaktur nicht mehr geöffnet worden. Anfangs waren die Büros noch als Stauraum für allerhand Plunder, alte Möbel, veraltete Kataloge und erledigte Schriftsätze und Korrespondenz benutzt worden. Aber irgendwann war der Umzug ins neue Kontor auf der anderen Flussseite abgeschlossen gewesen und niemand hatte die Räume mehr genutzt. Warum auch? Im neuen Kontor war es hell, es war ausreichend Platz vorhanden und die Möbelproduktion war direkt angeschlossen. Es gab also keinen Grund, den alten, düsteren Räumen im Wohnhaus der Mandelbaums nachzutrauern, es sei denn, man war ein alter Nostalgiker wie der Prokurist Friedmann, der Vater von Avas Bräutigam Aaron. Ihm war das neue Gebäude viel zu modern, er sehnte sich nach den düsteren, mit dunklem Holz verschalten Büros, den engen, staubigen Räumen. Friedmann war einer der ältesten Angestellten des alten Mandelbaum, aber vor allem war er, zumindest laut Simon, ein echter, eingefleischter Misanthrop.
„Ich kenne niemanden, dem Gesellschaft so abgrundtief zuwider ist wie Friedmann“, hatte er zu Ava gesagt, nachdem Aaron nach seinem ersten Antrittsbesuch im Mandelbaum’schen Haus wieder gegangen war. „Und er hasst Veränderungen. Ich hoffe, du weißt, worauf du dich einlässt.“
„Ich will ja nicht den alten Friedmann heiraten“, hatte Ava schnippisch zurückgegeben, „sondern seinen Sohn.“
Als Simon den großen Schlüssel im Schloss des Kontors drehte, hielt Ava unwillkürlich den Atem an. Langsam öffnete er die Tür einen Spaltbreit. Dumpfe, stickige Luft kam ihnen entgegen und ein leiser Ton, fast wie ein Seufzen, als wolle das Dunkel hinter der Tür nach all den Jahren der Gefangenschaft tief einatmen. Mit einem Schlag hatte Avas Anspannung auch Simon gepackt. Gebannt starrte er ins Dunkel und versuchte, etwas zu erkennen. Es war unmöglich. Ärgerlich schüttelte er den Kopf und stieß die Tür weit auf.
„Sag mal, warum begleitet Aaron dich eigentlich nicht auf deiner Abenteuerreise?“, fragte er und drehte den Kopf halb zu Ava um, die dicht hinter ihm wartete.
„Ach, Aaron.“ Ava winkte ab. „Der hat keinen Sinn für so etwas.“
„Aber ich“, erwiderte Simon entrüstet.
„Natürlich.“ Ava lachte leise. „Du schon. Los, lass uns reingehen.“
Simon hielt die Lampe hoch über den Kopf und leuchtete in den Raum vor ihnen. Es war nicht viel zu sehen außer jeder Menge Gerümpel, durch das es sich einen Weg zu bahnen galt. Offenbar hatte man zu guter Letzt einfach nur die Tür geöffnet und defekte oder nicht mehr benötigte Gegenstände und Gerätschaften gerade so weit wie nötig hineingetragen und ohne Weiteres stehen lassen. Es gab keinerlei Ordnung und die Geschwister mussten sich anfangs mühsam einen Weg zwischen Schränken, Sesseln, alten Spiegeln und Gemälden bahnen, bis der Raum weiter hinten etwas leerer wurde.
„Autsch“, rief Simon plötzlich und fluchte mit unterdrückter Stimme. „So eine Schnapsidee.“ Beinahe wäre ihm die Laterne aus der Hand gefallen. Er bückte sich, leuchtete den Boden ab und rieb sich sein Schienbein.
„Was ist denn los?“, flüsterte Ava hinter ihm atemlos. Es war ganz offensichtlich, dass sie von ihrem Abenteuer in höchstem Grade fasziniert war.
„Ich bin mit dem Schienbein gegen einen Beistelltisch gestoßen“, erwiderte Simon nüchtern. Vorsichtig drückte er mit dem Finger auf die Stelle. „Und ich sage es noch einmal: Diese Expedition ist reinste Zeitverschwendung. Wer sollte auf die Idee kommen, sich hier unten freiwillig extremer Verletzungsgefahr auszusetzen?“
„Es gibt Luftgeister“, versetzte Ava schnippisch. „Die schweben einfach durch alles hindurch.“
„Die machen dann aber auch nicht so einen infernalischen Lärm, wie du behauptest, ihn gehört zu haben“, gab Simon ärgerlich zurück.
„Ach, meckere du nur“, sagte Ava entschieden. „Und gib mir die Lampe. Ich gehe voraus.“ Offensichtlich hatte sie nach den ersten paar Metern in dem unheimlichen Kontor Mut gefasst.
„Von wegen.“ Simon dachte nicht daran, sich solch eine Blöße zu geben. „Komm.“
Er öffnete eine weitere Tür, die in einen Gang und zu den hinteren Zimmern und Büros führte. Hier war man pfleglicher mit den Dingen umgegangen. Ein paar Schreibtische waren an die Wand gerückt und sorgfältig übereinandergestapelt worden. Daneben stand ein alter Tresor mit geöffneter Tür. Über einen verschlissenen Sessel auf der anderen Seite hatte man notdürftig ein Leintuch gebreitet. Für Ava sah er aus wie der Thron ihrer Geistererscheinung, wie er da im diffusen Schein der Kerze so fahl schimmerte.
„Die Residenz des Gespensts“, flüsterte sie Simon zu und warf einen Blick in den Tresor. Er war leer. „Es hat sein Geld mitgenommen.“
„Quatsch“, erwiderte Simon ungehalten. Aber auch er senkte unwillkürlich die Stimme, als würde er vermuten, es wäre jemand im Raum oder gleich nebenan, der sie sonst vielleicht hören könnte.
Sie durchquerten noch ein paar Räume, leuchteten hinein und gingen weiter, einen schmalen Gang entlang, bis es langsam, aber sicher heller wurde. In den Räumen weiter hinten herrschte dämmriges Tageslicht und enthüllte weitere mit Laken verdeckte Möbel und Regale mit verstaubten alten Ordnern, Heftern und Notizen. Ihre vorsichtigen Schritte scheuchten kleine Wirbel auf, die ihre Schuhe mit feinem Staub puderten, bevor sie sich in aufgeregten Kreiseln wieder legten und neue Muster auf die stumpfen Holzdielen zeichneten.
„Wo kommt das Licht her?“, fragte Ava leise.
„Wir sind im hinteren Teil des Kontors angekommen“, sagte Simon. „Möglicherweise ist eines der Fenster auf dieser Seite nicht komplett abgedeckt worden.“ Er zeigte auf eine Treppe hinter einer in Blei gefassten Glastür, die in einem kleinen Raum am Ende des Ganges nach unten führte. „Hier geht es in den Keller.“
Ava blickte ihn überrascht an.
„Es gibt hier noch einen Keller? Davon wusste ich gar nichts.“
Simon nickte.
„Er ist alt und wurde, glaube ich, nie benutzt. Sieh mal“, sagte er und deutete auf eines der Fenster, die knapp über dem gepflasterten Erdboden auf den Hof hinauszeigten. Die meisten waren mit Brettern vernagelt. Grob gewebte Vorhänge hingen davor und bewegten sich leicht. „Von ein paar der Fenster sind tatsächlich die Holzlatten abgefallen.“
Ava sah sich in dem tristen Raum mit den kahlen, grauen Wänden um, in dem in einem Eck lediglich ein paar alte Gartengeräte an der Wand lehnten. Sie trat ans Fenster.
„Nicht nur das“, meinte sie. „Sieh nur. Hier liegen Scherben und das Fenster steht offen. Es sieht fast so aus, als wäre hier jemand eingestiegen.“
Sie wandte sich zu Simon um. Er trat zu ihr und begutachtete die Scherben und das offene Fenster.
„Du hast recht.“ Er runzelte die Stirn und blickte seine Schwester an. Beiden lief auf einmal ein kalter Schauer über den Rücken.
„Was, wenn …“ Ava sprach ihren Satz nicht zu Ende, aber es war Simon anzusehen, dass er genau das Gleiche dachte. Was, wenn noch jemand hier durchs alte Kontor schlich, vielleicht auf der Suche nach etwas, das sich lohnte, mitgenommen zu werden. Oder, noch schlimmer, jemand, der sich so Zugang zum Haus verschaffen wollte …
„Es sieht aus, als wäre das Fenster schon vor längerer Zeit zu Bruch gegangen“, sagte Simon, nachdem er die Scherben genauer in Augenschein genommen hatte. „Und es ist uns ja niemand begegnet.“
„Es ist ja wohl kein Problem, sich zwischen all dem Gerümpel hier zu verstecken“, erwiderte Ava. Sie dachte an den offen stehenden Tresor und zeigte hinüber zu der Glastür und dem dunklen Loch, in dem die Treppe zum Keller verschwand. „Er könnte auch da unten sein.“
Simon warf einen flüchtigen Blick hinüber.
„Mach keine Witze“, meinte er trocken. „Wer würde schon freiwillig da hinuntergehen?“
„Warst du schon einmal unten?“, fragte Ava.
Simon verzog unwillig den Mund.
„Nein“, sagte er kurz angebunden.
„Dann wird das jetzt dein erstes Mal.“
Simon seufzte.
„Ava, das kann unmöglich dein Ernst sein. Lass uns noch einmal nachsehen, ob sich hier jemand versteckt. Dann gehen wir und sagen Vater, dass im Kontor ein Fenster kaputt ist. Bis es repariert wird, schließen wir die Tür zum Kontor wieder ab. Selbst wenn hier jemand etwas stiehlt … Was soll’s. Kein Mensch braucht das Gerümpel mehr …“
„Bist du gar nicht neugierig?“, fragte Ava. „Ganz abgesehen davon, dass wir nachsehen müssen.“
„Müssen?“ Simon lachte nervös.
Auch Ava lachte.
„Simon, du hast Angst. Nimm die Laterne und komm.“ Zielstrebig ging sie auf die Treppe zum Keller zu und starrte hinunter in das schwarze Loch, das sich vor ihr auftat. Es sah aus wie Materie, die da in einem haltlosen Abgrund waberte wie die See. Ein kleiner Einblick in die Unendlichkeit, die sich ihnen da im Untergrund auftun würde. Als wäre die Erde nur eine Oberfläche, eine Kruste, die sich gebildet hatte, um diesen schwarzen Ozean notdürftig vor den Augen des Universums zu verbergen. Und hier, im Keller der Mandelbaums, gab es einen Zugang.
Simon schüttelte den Kopf und verdrehte die Augen.
„Warum habe ich mich auf diesen Unsinn eingelassen?“, murmelte er. Dann gab er sich einen Ruck und trat zu Ava. „Wir werfen einen Blick da runter und dann gehen wir. Klar?“
Ava nickte. Sie sah aus, als wäre sie sich plötzlich nicht mehr so sicher, ob es eine gute Idee war, in diesen Keller zu steigen. Doch jetzt war es zu spät. Simon ging langsam die Stufen hinunter und sie folgte ihm. Der Schein der Kerze erhellte ein paar Stufen, die immer glitschiger wurden, je weiter sie nach unten kamen. Die Wände waren aus Ziegeln gemauert, die aussahen, als würden sie sich schon in einem Zustand der Auflösung befinden, wieder auf dem Weg zurück in ihre irdenen Ursprünge. Die Treppe machte einen halben Bogen, und als Ava sich umdrehte, bemerkte sie, dass von oben kein Licht mehr zu sehen war. Sie waren vollständig umgeben vom Dunkel. Die Laterne stellte die einzige Insel im Schwarz dar. Dann erreichten sie den Boden.
„Wer sich hier unten versteckt, muss verrückt sein“, flüsterte Simon.
„Stimmt“, sagte Ava mit verhaltener Stimme. „Es ist ja auch niemand hier.“
Der schwache Lichtschein erhellte einen niedrigen Raum aus Ziegeln. Die Luft war dick und feucht, wie mit gemahlenem Ziegelstaub und mit Sporen von Pilzen durchsetzt. Es fiel den beiden schwer zu atmen. Der Boden bestand aus gestampfter Erde. An der Wand lehnten einige Gerätschaften, eine Hacke, eine Sense und an der Mauer hingen ein paar schwere Ketten an einem Eisenhaken. Alles war verrostet und verschimmelt. In der Mitte stand ein großer Holzklotz, auf dem einige Fetzen von zerfasertem Stoff lagen. An dem Klotz lehnte ein Beil. In der hinteren Wand war eine niedrige, schmale Holztür eingelassen. Sie sah mehr nach einer Klappe aus als nach einer normalen Tür.
„Du meine Güte“, sagte Simon. „Was ist denn das?“
„Was haben die hier gemacht?“, fragte Ava entsetzt. „Ist das ein Verlies?“
Simon ging vorsichtig hinüber zur Tür und rüttelte daran. Sie ließ sich nicht öffnen.
„Ich habe keine Ahnung“, sagte er.
Vorsichtig drückte Lina die Türklinke von Leas Zimmer herunter. Einen Moment blieb sie in der halb geöffneten Tür stehen und sah sich mit stumpfem Blick um. Die dicken, ockergelben Lichtstreifen, die durch die Lamellen der nicht ganz geschlossenen Klappläden drangen, gaben dem süßlichen, überreifen Geruch nach Verwesung und Verfall den angemessenen farblichen Ausdruck. Lina zeigte keine Regung. Ihr Blick fiel auf die gelblichen Binden, die auf einem kleinen Nachttisch beim Bett lagen. Dort standen auch eine Reihe von Glasfläschchen und Tiegeln, an denen sich trotz strenger Hygienevorgaben an den Rändern stellenweise leicht verhärtete, schmierige Ablagerungen gebildet hatten. Einen Moment beobachtete Lina die Staubflusen, die sie mit dem Öffnen der Tür in Bewegung versetzt hatte und die jetzt beinahe widerwillig und träge durch die gelben Lichtstreifen taumelten. Dann wurde die Sonne wohl von einer Wolke verdeckt, denn alles versank in einem grauen, dämmrigen Halbdunkel, als würde jemand eine Gaslampe mit großer, aber gleichbleibender Geschwindigkeit auf die kleinste Stufe drehen.
Leise betrat Lina das Zimmer, scheinbar unempfindlich gegen den Gestank, der zwar durchzogen, aber nicht überdeckt wurde vom Geruch nach Medizin und Kampfer. Unter der weißen Decke im Bett regte sich etwas und als Lina sich vorsichtig darüberbeugte, blickte sie in Leas kalte, graue, starrende Augen. Lina verzog keine Miene, aber sie konnte sich nicht gleich von ihnen lösen, war wie fixiert von dem sezierenden Blick, der schien, als wolle er durch ihren eigenen Sehnerv tief hineinkriechen in ihr Innerstes, ihr vielleicht das Leben bis auf den letzten Rest aussaugen, um das eigene verzweifelt und auf Kosten egal welcher anderen zu erhalten, solange es ging.
Doch es war nur ein kurzer Moment, dann wandte Lina sich ab und ging hinüber zu einem kleinen Tischchen, das unter dem Fenster stand. Sie nahm einen Krug und goss Wasser in eine Schale, die sie mit einem Schwamm zum Bett hinübertrug. Lina stellte die Schale neben die Binden und schlug die Bettdecke mit einem Schwung zurück. Sie setzte sich auf die Bettkante neben Leas dürres Gerippe, das abgesehen von den Armen und Füßen bedeckt war von einem groben, weißen Nachthemd. Hinten wurde es nur von ein paar Bändern zusammengehalten. Lina drehte den dünnen Körper routiniert zur Seite, löste die Bänder und begann, Leas im Dämmerlicht graue, gelbliche Haut mit dem Schwamm abzuwaschen. Ihr Blick schweifte ab, während sie den Schwamm mechanisch über den Rücken führte, auf den Fußboden, dessen raue Dielen denen in ihrem Zimmer glichen, dann auf die Vielzahl von Fläschchen, Tiegeln und Gefäßen, deren Inhalt Leas Leben verlängern sollte. Nein, ihr das Leben zurückbringen … Lina dachte nicht daran, wie das sein würde, sollte Lea jemals wieder gesund werden. Sie dachte auch nicht darüber nach, ob und wann sie sterben würde. Ihre Pflege war wie die Hausarbeit jeden Tag zu erledigen.
Sie tauchte vielmehr ein in etwas, das man vielleicht als diffusen Nebel bezeichnen konnte, eine hellgraue, wogende Masse – obwohl das Wort Masse aufgrund der Dichte, die es suggerierte, irgendwie fehl am Platz wirkte –, in der sich nur undeutlich eine schattenhafte Gestalt abhob, eine durch ein etwas dunkleres Grau nur leicht konturierte Form eines Wesens, kaum als Gestalt zu bezeichnen. Ihr Traum … Eine Zeit lang verharrte Lina so, eigentlich nur einen kurzen Moment. Dann fokussierte sich ihr Blick wieder auf ihre Arbeit, Leas Rücken, den sie zu säubern hatte. Die gelbe, talgige Haut … An zwei Stellen, unten am Steißbein und am mageren linken Schulterblatt, dessen Knochen herausragte wie der lahme Flügel eines Kükens, waren lila Wundmale zu sehen, in deren Mitte jeweils ein kleiner Fleck rohen Fleischs zu sehen war. Hier hatte Lea sich aufgelegen, Lina konnte gar nicht sagen, wann das passiert war. Eines Morgens waren die Stellen da gewesen und jetzt breiteten sie sich langsam aus.
Lina tauchte den Schwamm ins Wasser, wrang ihn aus und tupfte vorsichtig um die Stellen herum. Lea stöhnte leise auf, die erste Regung überhaupt von ihr. Ansonsten ließ sie die Prozedur stumm und bewegungslos über sich ergehen. Nachdem sie den Rücken abgetrocknet hatte, nahm Lina mit einem kleinen Spachtel, an dem noch Reste von den Tagen zuvor klebten, Salbe aus einem der Tiegel und bestrich die Wundränder. Dann drehte sie Lea wieder auf den Rücken in ihre ursprüngliche Position. Lea blickte sie genauso unverwandt an wie zuvor. Es war, als würden sich ihre Augäpfel überhaupt nicht mehr bewegen, sondern immer nur in dieser einen Position vor sich hin starren. Doch dann bewegte sie plötzlich mit einer unerwarteten Flinkheit ihren Arm und griff unkontrolliert, aber fest in die dicke Wolle von Linas Haaren. Ihre knochigen Finger verfingen sich darin, krallten sich fest und zogen sie brutal und unbarmherzig zu sich herunter. Gleichzeitig ließ sie Lina nicht aus den Augen und sie hatte wieder das deutliche Gefühl, als würde Lea nicht zögern, ja, sogar alles daransetzen, ihr alles Leben bis aufs Mark aus den Knochen zu saugen.
Lina stemmte sich gegen den Zug, doch Lea ließ nicht locker. Der Schmerz trieb ihr schließlich die Tränen in die Augen, doch sie blieb ruhig und während sie so Auge in Auge halb auf der Frau lag, die ihr doch eigentlich schon fast tot erschien, befreite sie sich Finger für Finger aus der Umklammerung. Als sie sich schließlich gelöst hatte, sprang sie auf, machte einen schnellen Schritt vom Bett weg und atmete scharf ein. Mit dem Handrücken rieb sie sich eine Träne aus dem Augenwinkel.
Es war nicht das erste Mal, dass Lea ihr wehgetan hatte. Aber sie war überrascht von der Kraft, die noch in ihr war, besser gesagt in den Fingern, die mehr wie eine Klaue oder eine Kralle waren. Vielleicht war es ja aber auch das letzte Aufbäumen von Leben in diesem Körper gewesen, von dem nicht sicher war, ob der Geist nicht schon vorausgegangen war, wohin auch immer … Lina wusste nicht, welches Jenseits die jüdische Religion für ihre Mitglieder vorgesehen hatte. Ihre Kopfhaut brannte. Sie breitete die Decke über Lea und verließ den Raum beinahe so geräuschlos, wie sie gekommen war.
Dieses verlotterte Ding … Lea hielt ihren Blick auf Lina gerichtet, bis sie das Zimmer verlassen hatte. Und auch als sie weg war, starrte sie weiter die Tür an, hinter der sie verschwunden war. Als gäbe es noch etwas zu sehen, als gelänge es ihr, wenn sie sich nur intensiv genug bemühte, die Tür zu durchdringen, die Wände, die Mauern des Hauses, der Stadt, und dann vielleicht endgültig hinter die Dinge zu blicken, hinter die Kulissen auf die … Wahrheit. Zu finden, was sie immer schon geahnt hatte, eine Art ewige Existenz der Seele ohne dieses lästige Fleisch.
Aber nein, sie kannte ja die Wahrheit. Und es war völlig gleichgültig, wohin sie blickte. Sie kannte jeden Winkel dieses Zimmers von ihrer jetzigen Position aus genau. Wie lange lag sie schon hier? Sie wusste es nicht. Dieser Schmutz überall … Und all dieser Schmerz … Sie atmete schwer. Es gibt noch ein Wesen und es ernährt sich von mir, dachte sie. Es frisst mich von innen. Oder ist das der Tod? Sind alle anderen am Leben und ich bin tot?
Aber nein. Erinnerung heißt leben. Und ich erinnere mich daran, dass es einmal anders war. Dass es andere Zeiten gab, in denen der Tod keine Rolle gespielt hat. Er war ein Eindringling von außen, ein Feind, dem man aus dem Weg gehen konnte. Er kam nicht von innen. Aber Jella und ich wussten schon von ihm. Wir waren noch Kinder und hatten Angst, aber nicht um uns. Wir hatten Angst um Jakob, der unbedingt in den Krieg ziehen wollte. Wir hatten keine Ahnung, welcher Krieg das sein sollte. Wir wussten nicht, worum es ging. Doch Vater hatte uns gesagt, in jedem Krieg geht es um etwas, aber nie um das Wohl von Menschen.
„In diesem schon“, hatte Jakob gesagt. „Es geht um die Freiheit der Gedanken und die Selbstbestimmung der Menschen.“
Jella und ich hatten keine Ahnung, was das bedeuten sollte. Ich habe es vielleicht nie ganz begriffen und bin mir bis heute nicht sicher, ob daran etwas Gutes sein soll. Und Jella brauchte keinen Krieg, niemanden, der für sie kämpfte. Sie war schon immer frei und ist es auch geblieben. Ich weiß nicht, ob ihr das gutgetan hat. Ach was, ich weiß genau, dass es ihr nicht gutgetan hat. Sie führt ein sündhaftes Leben.
Doch für Jakob war der Krieg heilsam. Als er Jahre später wiederkam, war sein sogenannter Krieg längst vorbei. Jella und ich waren da schon junge Mädchen. Ich erinnere mich an den Sommer, in dem er zurückkam. An die Farben und den Duft der Blumen, die Wärme, den Wind … Wir gingen am Fluss spazieren, alles war in Bewegung, die Blätter der Bäume schimmerten silbern. Auf ihren Nachen saßen ein paar Fischer … Nein, es war nur einer. An eines erinnere ich mich ganz genau: Er saß in seinem Boot in einer Biegung des Flusses. An dieser Stelle gab es kaum Strömung, das Wasser war dunkelgrün, gefärbt vom Wiederschein der Bäume und Büsche am Ufer. Mit einer ruckartigen Bewegung zog er seine Angel an und ein großer Fisch mit blauem Rücken und weißem Bauch schnellte an der Leine durch die Luft. Er zappelte und wehrte sich, doch der Fischer zog erbarmungslos seine Leine weiter ein, nahm einen Kescher vom Boden seines Nachens und brachte ihn an Bord. Mit einer Handbewegung entfernte er den Haken, legte den Fisch in einen Wassereimer und warf die Angel wieder aus. Dann verharrte er in derselben reglosen Stellung wie zuvor, seine braunen Arme auf die Knie gestützt starrte er ins Wasser, als würde er träumen. Erst als Jella ihn ansprach, hob er den Kopf.
Jakob hatte sich verändert. Er kümmerte sich nicht mehr um Freiheit, um die Politik oder die Menschheit. Er blieb daheim. Das war das Beste, was er machen konnte. Lange Zeit hat er nicht mit uns gesprochen. Er hat mir nie erzählt, was geschehen ist, und ich wollte es auch nicht wissen. Jella schon. Mir genügte es zu sehen, dass er ein anderer Mensch geworden war. Einer, der den höheren Willen akzeptierte und der nicht mehr versuchte, der Welt den seinen aufzuzwingen. Wie vermessen er gewesen war …
Jetzt gibt es auch keine Geräusche mehr. Das ist nicht der normale Tod. Der normale Tod tötet doch nicht alles. Er lässt immer etwas übrig. Oder bin ich die Einzige, die er übriggelassen hat? Zusammen mit all dem Schmutz, den besudelten Laken … Das viele Wasser, die Mittelchen und Pulver, das unverdaute Essen, das ich erbreche, der Schlamm, in den ich mich auflöse, das Blut, das mir von innen in die Augen steigt … Es ist ihnen einfach zu viel geworden.
Es ist unmöglich, das Leid des Körpers von dem der Seele zu trennen, hat Rabbi Samuel gesagt. Das Leid des Körpers schlägt sich immer auf die Seele und das Leid der Seele immer auf den Körper nieder. Es muss möglich sein, das Leid des Körpers von der Seele zu trennen. Wo liegt die Ursache? Gibt das schwarze Blut mir diese Gedanken ein? Oder verursacht die Seele das schwarze Blut? Was fragt er mich das? Ich liege hier wie ein Brett und um mich herum geht eine Welt zugrunde. Ein Ort der Finsternis.
Aber dieses ganze Gejammer bringt ja nichts. Es wird wirklich Zeit, dass ich wieder auf die Beine komme. Es gibt doch niemanden, der den Haushalt führt. Dieses verlotterte Mädchen macht nie richtig sauber. Alles bleibt liegen. Nichts wird gemacht. Ich würde ja rufen, aber … Im Zweifel sind die Menschen keine Hilfe …
Schaum stieg aus Leas Mund auf. Sie machte zwei schwere Atemzüge, ein paar kleine Blasen bildeten sich, ihre Hand verkrampfte, mit der sie vor ein paar Minuten noch unbarmherzig Linas Haar gepackt hatte. Ihr Blick gefror und blieb an einer Stelle an der Decke hängen, die sich durch nichts von jeder anderen Stelle an der Decke unterschied.
„… und dann entdeckten wir das zerbrochene Fenster. Irgendjemand hatte es eingeschlagen und geöffnet, ganz offensichtlich, um ins Kontor einzusteigen. Simon hat behauptet, das Fenster wäre schon lange kaputt, aber ich frage euch: Woher will er denn das wissen?“ Ava saß auf der Couch im Salon und sah die anderen triumphierend an. Um sie herum saßen und standen drei junge Damen und vier Herren: Hans, Eduard, Simon und Herr Stange. Hans allerdings hatte sich mit einer Teetasse in der Hand etwas abseits gestellt und schien ihrer Erzählung nur mit halbem Ohr zu folgen. Aber immer wieder warf er Ava einen flüchtigen Blick zu.
Simon hatte in einem Sessel gegenüber seiner Schwester Platz genommen und winkte bei ihren Worten unwillig ab. Eduard, Herr Stange und die drei jungen Damen neben ihm schienen weit größeres Interesse an Avas Geschichte zu haben. Herr Stange und die Alsberg-Schwestern waren regelmäßig zu den Salons von Ava und Simon eingeladen. Ina und Doris Alsberg gehörten zu einer der angesehenen Familien in Waldbrügg. Hans und Eduard hielten nicht sehr viel von ihnen. Hans behauptete steif und fest, sie teilten sich nur ein Gehirn. Wenn überhaupt … Aber es gehörte eben, wenn es vielleicht auch nicht gerade eine Pflicht war, doch zum guten Ton, die Schwestern einzuladen. Und dass sie regelmäßig erschienen, war für die Mandelbaums durchaus von gesellschaftlichem Wert. Hans war allerdings auch der Meinung, sie tauchten bei Avas Gesellschaften hauptsächlich deshalb auf, weil sich ab und zu auch Andreas von Bergen dort blicken ließ, der bei seinem Vater Baron von Bergen nicht weit von Waldbrügg auf dessen Herrensitz lebte. Baron von Bergen hatte in der Kavallerie als Oberst der Dragoner gedient und sich während des Deutsch-Französischen Krieges einige Orden verdient. In der näheren Umgebung der Stadt gab es nicht viel Adel, was wohl zudem einer der Gründe dafür war, dass die von Bergens von der städtischen Gesellschaft sehr hofiert wurden. Heute war Andreas von Bergen allerdings noch nicht aufgetaucht und bei jedem Geräusch, das aus der Richtung der Tür kam, hoben die Alsberg-Schwestern ruckartig die Köpfe wie Enten auf einem See. Hans quittierte es jedes Mal mit einem verächtlichen Lächeln.
Die dritte Dame im Raum war Judith Blum, ein erst vor Kurzem mit ihren Eltern nach Waldbrügg gekommenes junges Mädchen aus der jüdischen Gemeinde. Ava hatte sich bald mit ihr angefreundet und sie ein wenig unter ihre Fittiche genommen. Sie versuchte, Judith die Eingewöhnung in ihre neue Umgebung zu erleichtern. Allerdings waren ihre Eltern sehr strenggläubige Leute, die ihre Tochter kaum einmal unbeaufsichtigt außer Haus ließen. Umso mehr genoss sie diesen Abend, an dem sie nur dank der Fürsprache Jakob Mandelbaums teilnehmen durfte, der sein Ehrenwort gegeben hatte, gut auf sie aufzupassen.
„Und was ist dann passiert?“, fragte Judith jetzt ungeduldig. Sie war augenscheinlich diejenige, die Avas Geschichte die größte Aufmerksamkeit entgegenbrachte.
„Nichts ist passiert“, sagte Simon ungehalten. Aus irgendeinem Grund nahm er an, Ava würde die Geschichte hauptsächlich erzählen, um ihn vor den anderen zu blamieren. Obwohl an sich ja gar nichts geschehen war. Möglicherweise ärgerte er sich auch selbst über seine zögerliche Haltung, derentwegen Ava ihm mehrere Male vorgeschlagen hatte, selbst vorauszugehen.
„Simon wollte wieder gehen und das Kontor abschließen, sodass niemand ins Haus gelangen kann“, sagte Ava und lächelte.
„Eine gute Idee“, meinte Eduard.
„Danke“, erwiderte Simon erleichtert und nickte Eduard zu.
„Ihr habt doch bestimmt einen Handwerker gerufen, um das zu reparieren, nicht wahr?“
Simon schüttelte den Kopf.
„Das machen wir gleich nächste Woche. Bis dahin bleibt das Kontor abgeschlossen. Es gibt ohnehin keinen Grund mehr, es offenstehen zu lassen.“
„Wir haben einen Keller entdeckt. Ein schwarzes, bodenloses Loch, in das eine Treppe nach unten führt“, unterbrach Ava ihren Bruder. „Ich hatte es noch nie zuvor bemerkt und auch Simon ist nie zuvor da unten gewesen.“ Sie hatte ihre Stimme gesenkt und sprach in einem verhaltenen Flüsterton. „Wir konnten die Hand nicht vor Augen sehen und unsere Kerze leuchtete gerade mal einen Meter weit.“
„Ach, übertreibe doch nicht so maßlos“, rief Simon. „Wie sonst hätten wir denn sehen können …“
„Psst“, rief Ava eifrig. Eduard lachte. Er fand Avas Vorliebe für geheimnisvolle Geschichten und Abenteuer etwas überspannt, aber doch auch sehr charmant.
„Ja, wir sahen etwas weiter“, fuhr Ava fort und warf ihrem Bruder einen ungnädigen Blick zu. „Aber was wir sahen, ließ uns das Blut in den Adern gefrieren.“ Sie machte eine kunstvolle Pause. Simon verdrehte die Augen.
„Ja, was denn?“, fragte Doris Alsberg, die ältere der beiden Schwestern, schließlich. Offenbar hatte Avas Erzählung auch sie jetzt in ihren Bann geschlagen.
„Es hingen schwere Ketten an den Wänden. Folterwerkzeuge … Und in der Mitte stand ein großer Holzblock mit einem Beil“, sagte Ava mit Grabesstimme und warf vielsagende Blicke in die Runde.
Eduard runzelte die Stirn.
„Eine Folterkammer?“, fragte Herr Stange plötzlich ungläubig. Er hatte sich bisher noch gar nicht zu Wort gemeldet.
Herr Stange war sehr bleich und trug einen schmalen, hellblonden Schnurrbart. Seine hellen, wässrigen Augen wanderten stets unstet durch den Raum. Er wirkte schüchtern und konnte niemandem lange ins Gesicht sehen. Zumeist stand er nur bei den anderen und sagte keinen Ton. Die Escher-Brüder nahmen an, Ava lud ihn nur ein, weil er einen vorzüglichen Zuhörer abgab. Und das war auch der Fall. Bei keinem noch so banalen Thema erfand Herr Stange Ausflüchte, um dem Gespräch eventuell entkommen zu können. Geduldig saß er da, den Blick meist zu Boden gerichtet oder auf einen fernen Gegenstand im Raum, und hörte zu. Er nickte meist an den richtigen Stellen oder warf einsilbige Kommentare ein. Bei den seltenen Diners der Mandelbaums, der Alsbergs oder der Eschers war Herr Stange außerdem ab und zu von Nutzen, wenn einmal ein Tischherr fehlte.
„Eine Folterkammer“, bestätigte Ava, etwas überrascht von Herrn Stanges unerwartetem Einwurf.
„Ach, was“, rief Simon gereizt und sprang auf. „Wir wissen überhaupt nicht, was das ist.“ Er wurde kurz nachdenklich. „Es war schon ein merkwürdiger Anblick. Aber … wahrscheinlich haben sie dort früher den Hühnern den Kopf abgeschlagen. Es waren ein paar alte Ketten an der Wand. Das ganze Zeug war komplett verrostet.“ Er ging hinüber zu einer Anrichte, auf der verschiedene Flaschen und Flakons standen. „Möchte irgendjemand etwas zu trinken? Cognac? Sherry? Likör?“
Ava war eigentlich noch nicht bereit, das Thema fallenzulassen. Ihre Entdeckungen im Keller des Hauses hatten ihre lebhafte Fantasie zu sehr angeregt. Doch in diesem Moment ging die Tür zum Salon auf und Herr von Bergen trat ein.
„Guten Abend, meine Lieben“, rief er und ging rasch auf Ava zu. „Ich hoffe, man verzeiht mir meine Verspätung, aber ich wurde aufgehalten.“
Er schien ein wenig außer Atem zu sein, sein gewelltes, braunes Haar war leicht zerzaust und die Schleife seiner weichen Krawatte etwas verrutscht. Alles in allem machte er den Eindruck eines jungen Mannes, der sich schweren Herzens von einer äußerst wichtigen Verabredung hatte lösen müssen, ob geschäftlicher oder amouröser Natur blieb offen. Und der sich dann sehr beeilt hatte, noch einigermaßen rechtzeitig zur nächsten Verabredung bei den Mandelbaums zu erscheinen. Es war allgemein bekannt, dass Andreas von Bergen nichts gegen den Ruf eines in Liebesdingen nicht ganz unerfahrenen Mannes einzuwenden hatte.
Die Alsberg-Schwestern jedenfalls griffen beinahe synchron zu ihren Taschentüchern und tupften sich nervös den Hals, während von Bergen Ava und Simon begrüßte.
„Es war nichts Wichtiges“, entschuldigte er sich dann noch einmal bei den anderen.
Hans erschien es beinahe so, als hoffe er durch die Erwähnung weiter nach dem Grund seiner Verspätung ausgefragt zu werden, um irgendwann mit einem Lachen vor dem Ansturm der Fragen kapitulieren zu können und von seiner vorherigen Verabredung zu berichten. Er und von Bergen waren im gleichen Alter und Hans hatte ihn schon seit der Schulzeit in Verdacht, sich immer quasi der Rolle des jungen Adeligen verpflichtet zu fühlen, von der er ein ziemlich klischeehaftes Bild hatte. Wobei der Adel für Hans per se vom Klischee lebte und von Bergen somit ja genau ins Schema passte. Doch jetzt beschäftigten Hans andere Dinge. Die ganze Zeit schon stand er wie abwesend und tief in Gedanken etwas abseits von der Gruppe. Die Aufmerksamkeit, die von Bergen auf sich gezogen hatte, kam ihm gelegen. Er nahm Ava kurz entschlossen am Arm und führte sie ein Stück von den anderen weg.
„Ich muss mit dir reden“, sagte er leise.
Beim Fenster blieb er stehen und wandte sich ihr zu. Einen Moment schwieg er und blickte ihr in die Augen. Ava, die seinen Blick zuerst neugierig und mit einem Lächeln erwidert hatte, wurde nervös.
„Was ist denn los?“, fragte sie und errötete. Ihre Gedanken waren die ganze Zeit mit ihrem Abenteuer im Keller beschäftigt gewesen. Hans’ plötzliche Ernsthaftigkeit irritierte sie.
„Du heiratest?“, fragte Hans nach kurzem Zögern mit rauer Stimme und wurde plötzlich verlegen. Er versuchte, es zu überspielen, indem er eilig weitersprach, ohne ihre Antwort abzuwarten. „Du hättest ruhig etwas sagen können. Oder ist das ein Geheimnis, das du deinen engsten Freunden vorenthalten willst? Zumindest dachte ich bisher, Eduard und ich gehörten zu deinen engsten Freunden.“
„Aber ja doch“, rief Ava leise und wandte sich zu den anderen um. Von Bergens Taktik, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, funktionierte. Alle hatten sich um ihn geschart, während Simon einige Gläser füllte und herumreichte. Niemand achtete auf Ava und Hans.
„Wie kann es dann sein, dass anscheinend alle Welt von deiner bevorstehenden Hochzeit weiß, nur wir nicht?“, fragte Hans mit unterdrücktem Ärger.
„Ich … Ich …“ Ava war auf Hans’ Vorwürfe offensichtlich in keiner Weise vorbereitet und sehr verwirrt. „Wir haben es doch noch gar niemandem gesagt, außer der engsten Familie“, brachte sie schließlich hervor. „Alle Welt …“ Sie schüttelte energisch den Kopf.
„Und … Hättest du es nicht wenigstens mir sagen können?“, fragte Hans weiter, durch Avas offensichtliche Bestürzung etwas besänftigt.
„Ich hätte … Wir hätten es euch natürlich erzählt“, erwiderte Ava und versuchte, ihre Fassung wiederzufinden. „Es ist noch lange nicht so weit. Und ich hätte nicht gedacht, dass es dich so sehr interessiert.“
Hans betrachtete sie einen Augenblick. Dann berührte er leicht ihren Arm.
„Das kann unmöglich dein Ernst sein“, sagte er. „Wie kannst du nur einen Moment annehmen, dass es mich nicht interessiert? Hatten wir nicht immer …“ Er unterbrach sich. „Wer ist er denn überhaupt? Siehst du, ich bin derartig durcheinander, dass ich sogar vergessen hab zu fragen, um wen es sich eigentlich handelt.“
Ava blickte zu Boden.
„Aaron“, flüsterte sie.
„Wie bitte?“, fragte Hans laut. Andreas von Bergen warf einen kurzen Blick zu ihnen hinüber, fuhr aber gleich wieder mit seiner Geschichte fort. Eduard hatte ebenfalls bemerkt, dass Hans und Ava sich am Fenster unterhielten, kümmerte sich aber auch nicht weiter darum.
„Aaron Friedmann“, sagte Ava deutlich und blickte Hans fest in die Augen.
Hans runzelte die Stirn.
„Aaron Friedmann“, wiederholte er. „Ist das nicht der Sohn eures Prokuristen?“
Ava nickte.
„Und wo ist dein Verlobter heute?“ Hans blickte sich um, als müsse bei gründlicher Untersuchung des Raumes Aaron Friedmann ganz bestimmt irgendwo auftauchen. Hinter einem Sofa, unter dem Teppich …
„Er ist unterwegs …“, antwortete Ava ausweichend. „Er trifft einige Lieferanten, glaube ich.“
„Aha“, machte Hans unzufrieden. „Wahrscheinlich haben wir es ihm zu verdanken, dass ihr eure Stoffe jetzt von einer anderen Firma bezieht.“
„Unsinn“, sagte Ava unwirsch. „Außerdem sind solche Abende nichts für ihn.“
Hans lachte.
„Er ist sich wohl zu fein für unsere Gesellschaft“, meinte er spöttisch.
„Unsinn“, rief Ava noch einmal ärgerlich und stampfte mit dem Fuß auf. Jetzt sahen sogar die Alsberg-Schwestern für einen kurzen Moment zu ihnen hinüber. „Er sagt nur, er fühle sich da nicht wohl in seiner Haut. Die Gespräche sind nichts für ihn. Er ist …“, sie überlegte, „er ist ruhig. Nüchtern und besonnen. Für Simons Ideen hat er nichts übrig.“
„Du meinst, für Simons und meine Ideen“, ergänzte Hans.
„Vielleicht“, sagte Ava vage. „Diese ganzen Utopien, die Träume von einer besseren, gerechteren Gesellschaft … Aaron ist eben Realist.“
Hans schüttelte unwillig den Kopf.
„Man ist also ein Träumer, wenn man über eine bessere Gesellschaft nachdenkt, für Veränderung eintritt?“
„Das habe ich nicht gesagt“, erwiderte Ava ärgerlich. „Wie kannst du mir das nur vorwerfen? Ich bin doch eurer Meinung. Haben wir nicht stunden-, tage- und nächtelang miteinander diskutiert? Das Sozialistengesetz, die Ausbeutung der Arbeiter, die Ungerechtigkeit gegen Juden nur aufgrund ihrer Religion …“
„Und Herr Aaron Friedmann hält das alles für Unsinn? Für Kindereien? Einen müßigen Zeitvertreib, während erwachsene Menschen ihrem Beruf nachgehen?“
Ava seufzte.
„Er denkt natürlich über solche Dinge nach. Aber er ist …“ Sie zögerte. „Er ist eben sehr zurückhaltend.“
„Du weißt es nicht“, sagte Hans mit einem triumphierenden Unterton in der Stimme. „Du weißt nicht, wie er über solche Dinge denkt, nicht wahr?“
„Er ist mehr an den praktischen Dingen des Lebens interessiert“, erwiderte Ava wenig überzeugend.
Hans sah ihr fest in die Augen.
„Liebst du ihn denn?“, fragte er plötzlich.
Ava errötete tief.
„Wie kommst du nur dazu, mir eine solche Frage zu stellen?“, rief sie außer sich. „Was geht es dich an?“
„Was mich das angeht?“, fragte Hans irritiert. „Ich dachte, wenn jemand das Recht hat, eine solche Frage zu stellen, dann ich.“
„Du?“ Ava sah ihn überrascht an. „Warum denn das?“
Hans schüttelte entrüstet den Kopf.
„Ava, wir beide kennen uns, seit wir Kinder sind. Wir haben zusammen in der Theatergruppe der Gemeinde gespielt. Unsere Väter sind Geschäftspartner, seit ich denken kann. Und, nun ja, irgendwie auch befreundet miteinander. Du und Simon, Eduard und ich, wir haben unsere ganze Jugend gemeinsam verbracht.“ Er blickte Ava tief in die Augen. „Und haben wir beide uns nicht schon vor Ewigkeiten Treue geschworen? Ich weiß es noch, als sei es gestern gewesen. Solltest du es tatsächlich vergessen haben?“
Ava schwieg und blickte zur Seite. Hans nahm sie beim Arm.
„Wir haben so viele Gespräche geführt, so viele Träume geteilt“, fuhr er fort. „Das kann dir doch unmöglich gar nichts bedeutet haben. War das alles nur Theater? Das kann ich nicht glauben.“
Ava presste die Lippen zusammen und starrte vor sich hin. Doch dann holte sie tief Luft und blickte Hans fest in die Augen.
„Du meinst ein Recht zu haben aufgrund eines Schwurs, den wir uns in der Kindheit geleistet haben?“, fragte sie leise und beherrscht, aber mit bebender Stimme. „Dir ist es tatsächlich ernst damit? Ich könnte auch dich fragen, ob das alles nur Theater ist. Vielleicht ist es nur ein bisschen verletzter Stolz, weil ich mich nicht nach dir verzehre, dir keine dramatische Szene mache?“
„Warum solltest du …“, warf Hans verblüfft ein. Doch Ava unterbrach ihn.
„Mir war nicht klar, dass du überhaupt noch daran denkst“, fuhr sie nachdenklich fort. „Wir waren fast noch Kinder …“
„Aber natürlich“, rief Hans eifrig. „Ava, willst du die Sache nicht noch einmal überdenken?“
Ava sah ihn traurig an.
„Ach, Hans. Für dich ist das alles einfach. Du denkst, du kannst alles mit ein paar Worten verändern. Du denkst, das alles hätte keine Konsequenzen. Es ist einfach nur ein Spiel.“ Sie seufzte. „Für dich mag das zutreffen. Aber nicht für mich. Nicht mehr, seit ich kein Kind mehr bin. Ich bin eine Frau. Wir können solche Spiele nicht spielen.“
„Wir?“, fragte Hans erstaunt. „Wer ist wir? Und ich spiele nicht. Es ist mein Ernst.“
„Wir?“ Ava sah ihn ärgerlich an. „Such dir etwas aus. Wir Frauen … Wir Juden …“, ereiferte sie sich. „Wie kannst du nur sagen, es ist dir ernst? Du weißt gar nicht, was das bedeutet. Mit was ist es dir denn ernst? Willst du mir deine Liebe gestehen? Oder hast du das schon getan? Und wenn ja, wie stellst du dir denn das vor? Ich will nicht das Gesicht deines Vaters sehen, wenn du ihm davon erzählst.“ Sie wurde ruhiger. „Hans, diese Szene ist doch eine Farce. Denk noch einmal darüber nach. Ist es nicht vielleicht die Sorge darüber, dass sich alles verändern wird, die dich so reagieren lässt? Unsere Abende mit Simon und Eduard werden vielleicht nicht mehr dieselben sein. Aber wenn du ehrlich bist, sind sie das doch schon lange nicht mehr. Auch Eduard hat sich sehr verändert, seit er zurück ist. Und …“, sie drückte sanft Hans’ Arm, „Aaron ist ein lieber Mensch. Ich bin sicher, dass ihr euch gut verstehen werdet. Zugegeben, er ist anders als du und Simon. Vielleicht ist er nicht so gebildet, nicht so politisch, nicht so radikal … Er ist zufrieden mit seiner Arbeit und seinem Leben. Aber deshalb ist er keineswegs dumm. Und bestimmt haben wir auch mit ihm noch eine Menge schöner gemeinsamer Abende vor uns.“
Hans wollte etwas erwidern, aber in diesem Augenblick öffnete sich die Tür zum Salon und der alte Mandelbaum trat ein. In der Regel ließ er die jungen Leute bei ihren Treffen allein, doch manchmal kam er, um die Gäste seiner Kinder zu begrüßen. Sehr selten gesellte er sich für kurze Zeit zu ihnen und nahm an der Unterhaltung teil, die sich dann naturgemäß stark veränderte. Doch heute lag eine merkwürdige Aura um ihn, die alle Aufmerksamkeit sofort auf sich zog und die Gespräche augenblicklich verstummen ließ. Er wirkte filigran, beinahe zerbrechlich. Seine Augen schienen dunkler zu sein als gewöhnlich, seine von jeher schon sehr akkurate Art sich zu bewegen schien an Präzision noch zugelegt zu haben. Er ging vorsichtig, fast behutsam, als wolle er die Luftströme um ihn herum nicht zu sehr in Aufruhr versetzen. Als befürchte er, die natürliche Ordnung der Dinge mit seinem Erscheinen durcheinanderzubringen.
Alle blickten ihn gespannt an.
„Es tut mir sehr leid, stören zu müssen“, sagte Mandelbaum mit leiser, seltsam brüchiger und doch deutlich vernehmbarer Stimme. „Aber ich habe eine traurige Nachricht. Tante Lea ist gestorben. Sie hat uns wahrscheinlich am frühen Abend verlassen. Ich bitte um euer Verständnis, aber ich muss euer Treffen unterbrechen.“