Читать книгу Aufbruch in die Dunkelheit - Mark Stichler - Страница 7
Kapitel 3
ОглавлениеEduard hatte seinen Mantel in einem kleinen Vorraum an der Garderobe abgegeben, an der ein dickes, pausbackiges Mädchen Dienst tat. Bei jedem Kleidungsstück, das sie entgegennahm, kicherte sie nervös in sich hinein. Augenscheinlich war das nicht ihre ständige Arbeit. Sie wirkte für den Empfang eines sogenannten Herrenclubs etwas zu plump und ungelenk. Eduard lächelte leicht irritiert. Er nahm an, dass sie nur zu besonderen Gelegenheiten hier aushalf. So wie heute, wenn ein Redner erwartet wurde, der versprach, einige Zuhörer anzulocken. Die eingeschworene Gemeinschaft der Freunde und Bekannten Maarsens hängte ihre Mäntel wahrscheinlich selbst über die Bügel, wenn sie unter sich war.
Aus dem Vorraum trat Eduard in einen mit einem etwas diffusen, beinahe schummrigen Licht ausgeleuchteten Salon. Um Couchtische unterschiedlicher Größe und Höhe standen je zwei bis drei Fauteuils. Schwere, dunkelrote und grüne Vorhänge verdeckten die Fenster. An den Wänden zogen sich einige Regale bis zur Decke, gefüllt mit Büchern, einigen Pokalen, einem Tropenhelm, einer schweren Schatulle und ähnlichen Trophäen eher exotischer, jedenfalls zweifelhafter Art, die auch einen flüchtigen Betrachter dazu bringen konnten, die Stilsicherheit des Ausstatters in Zweifel zu ziehen. An den Wänden hingen Fotografien und kleinere Gemälde, die Landschaften, eine militärische Szene und Angehörige der Kolonialtruppe darstellten. Eduard tat sie mit einem Blick als Schund ab.
Alles in allem machte der Raum einen etwas schmuddeligen, abgewohnten Eindruck. Zigarrendunst hing in der Luft. Der ‚neue‘ Club, ging es Eduard durch den Kopf. Er kannte einen Club in Frankfurt und einen in Berlin, die sich beide durch mehr Gepflegtheit und Akkuratesse auszeichneten, obwohl sie schon lange nicht mehr neu waren. Aber der Nationale Club war anfangs ja auch mehr als ein Treffpunkt Gleichgesinnter geplant, nicht als ein mondäner Club. Er sollte einer, wie Maarsen es in seinen unregelmäßig erscheinenden Beiträgen bezeichnete, die er Streitschriften nannte, unterdrückten konservativ-nationalen und bürgerlichen Bewegung eine Stimme geben, ein Sprachrohr sein.
Der heutige Vortrag, zu dem Eduard von seinem Chef Dr. Köhning eingeladen war, behandelte die Problematik Deutsch-Ostafrikas, die Kolonialtruppen und ihren Fortschritt in der Kultivierung und Urbarmachung des Landes. Dr. Köhning hatte ein starkes Interesse an den Kolonien. Er selbst hatte dort schon ein Brückenprojekt realisiert und war beim Bau, wie er gern und anekdotenreich erzählte, auf allerhand Schwierigkeiten gestoßen. Den Vortrag hielt Kurt Weidenmann, ein früherer Mitarbeiter Carl Peters’, mit dem Dr. Köhning persönlich bekannt war.
Eduard sah sich um und entdeckte ein paar bekannte Gesichter, aber auch viele ihm gänzlich unbekannte. Der Raum war einigermaßen gefüllt, die Mehrzahl der Leute schien schon in den angrenzenden Vortragssaal hinübergewandert zu sein. Es präsentierte sich ihm eine erstaunlich bunt gemischte Gesellschaft. Neben ein paar wenigen Honoratioren Waldbrüggs waren auch einige zwielichtige Gestalten unter den Gästen, deren Fracks schon bessere Tage gesehen hatten. An den Türen drückten sich ein paar junge Kerle herum, die den Eindruck erweckten, als seien sie nicht zum Zuhören gekommen. Sie standen für sich und warfen nur ab und zu flüchtige Blicke auf die Anwesenden. Eduard fragte sich, ob sie als so etwas wie Türsteher fungieren sollten. Doch bevor er sie näher unter die Lupe nehmen konnte, entdeckte er Dr. Köhning, der aus dem Vortragssaal auf ihn zueilte.
Sein Chef war ein hochgewachsener Mann mit kerzengerader Haltung, vollen Haaren, deren Schläfen schon etwas grau geworden waren, und einem gepflegten Backenbart. Dr. Köhning wirkte eigentlich immer gleich akkurat und gepflegt, gleichgültig ob man ihn auf einer Abendgesellschaft oder mittags auf einer Baustelle antraf. Auf seinen Anzügen schien kein Stäubchen haften zu bleiben, seine Hemden und Kragen wiesen nie die Spur einer Falte auf.
„Mein lieber Escher“, rief er jovial. „Schön, dass Sie es einrichten konnten …“ Er schüttelte Eduard kräftig die Hand.
„Aber das ist doch selbstverständlich“, erwiderte Eduard höflich. „Ein interessantes Thema … Guten Abend, Doktor.“
Dr. Köhning musterte ihn kurz.
„Sehr interessant“, bekräftigte er dann und nickte. „In der Tat. Kommen Sie. Ich stelle Sie dem Referenten vor. Ich kenne ihn aus Deutsch-Ostafrika. Wie Sie wissen, hatte ich einige Monate dort zu tun und das Glück, nicht nur Kurt Weidenmann, sondern auch den großen Carl Peters kennenzulernen.“
Eduard lächelte zurückhaltend.
„Ich weiß, ich weiß“, fuhr Dr. Köhning gut gelaunt fort. „Peters ist nicht unumstritten. Aber ich sage Ihnen … Wenn Sie ihn kennenlernten … Er würde Ihnen gefallen.“ Er wurde ernster. „Und es ist unbestritten, was er für unser Land getan hat und immer noch tut.“
„Sicher“, erwiderte Eduard. „Ich bin gespannt auf den Vortrag.“
„Ja, ja.“ Dr. Köhning warf einen Blick auf seine Uhr. „Es geht gleich los. Vielleicht verschieben wir die Vorstellung auf nach dem Vortrag.“
Beinahe alle, die sich noch im Raum befanden, strebten bereits dem angrenzenden Vortragssaal zu. Nur ein älterer Herr drehte sich noch einmal um und kam auf Eduard und Dr. Köhning zu.
„Eduard“, sagte er mit lauter, etwas brüchiger, rasselnder Stimme, die klang, als würde er zu viel rauchen. „Eduard Escher. Es stimmt doch? Mit Ihnen hätte ich hier und heute nicht gerechnet.“
„Professor Nehringer.“ Eduard verbeugte sich artig vor dem Professor, seinem und Hans’ ehemaligen Lehrer am Gymnasium in Waldbrügg. „Ich freue mich, Sie zu sehen. Wie geht es Ihnen?“
„Gut, gut“, erwiderte der Professor. „Wenn nur nicht der ständige Husten wäre …“ Er strich sich über seinen grauen Bart, dessen Spitzen gelb waren und als weiteres Indiz dafür zu werten waren, dass er zu viel rauchte.
Eduard stellte seinen Chef und Professor Nehringer einander vor. Gleichzeitig überlegte er, ob der Professor tatsächlich ein Professor war oder ob sich der Titel über die Generationen von Schülern, die durch seine Hände gewandert waren, einfach als eine Art Spitzname eingebürgert hatte. Als Ehrentitel, ohne dass Nehringer jemals promoviert hätte. Der Professor jedenfalls hatte noch nie gegen diesen Titel Einspruch erhoben, und da er in Kürze in Pension gehen würde, war es ja auch nicht mehr weiter relevant.
„Aber, meine Herren, gehen wir doch hinein“, sagte Dr. Köhning, nachdem die beiden sich die Hände geschüttelt hatten. „Sie schließen schon die Türen …“ Eilig betraten die drei den Saal. Eduard warf noch einen Blick zurück in den Raum. Die Kerle, die an der Tür gestanden hatten, machten keine Anstalten, den Saal ebenfalls zu betreten. Es schien, als hätten sie durchaus mehrere Funktionen, ohne dass sie jedoch genau definiert waren. Dann schlossen sie die Türen.
Im Saal herrschte ein ziemliches Stimmengewirr. Es waren erstaunlich viele Leute zu Weidenmanns Vortrag erschienen. Die Kolonien in Afrika schienen in Waldbrügg auf ein breites Interesse zu stoßen. Andererseits war, wie Hans und Simon ja nicht müde wurden zu betonen, in Waldbrügg nicht sehr viel los und Eduard selbst zog es aus demselben Grund ja auch mit Macht weg von dieser Stadt. Die Leute gingen ihren Geschäften und Berufen nach, verbrachten die Abende zu Hause, gingen bei schönem Wetter am Fluss spazieren und ab und zu ins Wirtshaus. Da konnte es schon reizen, einmal den Duft der großen Welt zu schnuppern, dem Pioniergeist der Kolonialisten nachzuspüren, Teil von Deutschlands Größe zu sein, auch wenn es eben nur in Form eines Berichts war.
Eduard, Dr. Köhning und Professor Nehringer postierten sich am Rand, unter einer Balustrade, die von schmalen Säulen gestützt wurde, etwa in der Mitte des Saals. Von dort hatte man einen vergleichsweise guten Blick aufs Podium, auf dem zwei Männer standen. Den einen kannte Eduard vom Sehen. Das musste Michael Maarsen sein, Journalist, Publizist und Verleger von eigenen Gnaden, der erst letztes Jahr in die Stadt gekommen war. Er war ungefähr gleichzeitig mit dem Baubeginn der Brücke angekommen, fiel Eduard ein, als hätte dieser Zufall eine tiefere Bedeutung. Mit seinem neuen Nationalen Club und den Schriften, die er seitdem in unregelmäßigen Abständen verbreitete, hatte Maarsen einen ziemlichen Aufruhr verursacht. Es ging dabei viel um Gesellschaft, um Wirtschaft und Politik, hauptsächlich aber um die deutsche Nation und das deutsche Volk. Die Reinheit des deutschen Volkes schien ihm in besonderem Maße am Herzen zu liegen.
Innerhalb kurzer Zeit hatte er sich zum Lieblingsfeind von Hans, Simon und Ava gemausert und auch Eduard stand Maarsen sehr skeptisch gegenüber. Begegnet waren sie sich bisher noch nie.
Maarsen war auf der Bühne sichtlich um das Flair des künstlerischen Bohemiens bemüht. Er hatte sich eine weiche, fließende Krawatte umgebunden, die seinen Hals mehr wie ein Schal umschloss. Sein Jackett war weit geschnitten, wohl um seinen deutlichen Bauchansatz etwas zu kaschieren. Seine blonden, an den Schläfen schon schütteren Haare fielen ihm bei jeder seiner ruckartigen Bewegungen in die Stirn. Ständig wischte er sie mit einer ungeduldigen Handbewegung nach hinten, während er letzte Vorbereitungen für den Herrn neben ihm traf. Kurt Weidenmann, der mit dem exotischen Hauch des Afrikareisenden die vielen Zuschauer wohl angezogen hatte, wirkte neben Maarsen ruhig, unaufgeregt, fast bieder. Er trug einen unscheinbaren grauen Anzug und legte seine steife Schiffermütze akkurat auf einen Stuhl hinter sich. Seine Haare waren mit dem Kamm streng an die Schläfen gekämmt. Nachdem Maarsen noch einen Krug Wasser und ein Glas für ihn geordert hatte, trat er ans Rednerpult.
„Sehr geehrte Herrschaften“, rief Maarsen. Schlagartig wurde es ruhig. „Ich freue mich sehr, dass Sie heute Abend so zahlreich erschienen sind. Allerdings – davon bin ich überzeugt – würden Sie sich sonst auch die einmalige Gelegenheit entgehen lassen, von den Einblicken zu profitieren, die Herr Weidenmann uns mit seinem Bericht in die neue Kolonie Deutsch-Ostafrika gewähren wird.“ Er wischte sich mit einer nervösen Handbewegung die Haarsträhnen aus dem Gesicht. „Herr Weidenmann war Mitarbeiter des großen Carl Peters, seines Zeichens Reichskommandeur für das Gebiet unterhalb des Kilimandscharo, der dank seiner Bemühungen heute den höchsten Punkt deutscher Erde darstellt.“
Einige Zuschauer applaudierten laut, einige riefen: „Hurra …!“
Eduard wunderte sich ein wenig darüber, mit welcher Selbstverständlichkeit man den Namen Carl Peters hier mit dem Attribut ‚groß‘ belegte. Die Kolonien waren beileibe nicht sein Fachgebiet, aber Peters selbst und seine Projekte waren, wenn er es richtig in Erinnerung hatte, selbst innerhalb der deutschen Regierung keineswegs unumstritten.
„Herr Weidenmann hat einige seiner Expeditionen begleitet und konnte viele Erfahrungen sammeln, was die Bevölkerung, die wirtschaftlichen Aussichten und die Entwicklung von Deutsch-Ostafrika angeht. Und wenn ich ihn richtig verstanden habe, halten wir mit diesem gesegneten Land einen rohen Diamanten in Händen, den es nur noch zu schleifen gilt. Aber das soll er uns selbst erzählen, denn deshalb ist er schließlich hier. Ich freue mich sehr … Meine Herren, Kurt Weidenmann.“
Als sich Weidenmann jetzt mit einem kurzen Nicken bedankte, applaudierte der ganze Saal. Auch Eduard hob die Hände zu einem höflichen Klatschen.
„Vielen Dank“, sagte Weidenmann gemessen. „Herr Maarsen und ich kennen uns von einigen Begegnungen in der Hauptstadt …“
Eduard überlegte nur kurz, welche Hauptstadt er wohl meinte, war aber fast sicher, dass es sich nur um Berlin handeln konnte.
„… die mir immer in sehr guter Erinnerung bleiben werden. Deshalb freue ich mich auch sehr über diese Einladung …“
Nach einer kurzen Einleitung zur Kolonisierung Deutsch-Ostafrikas kam Weidenmann schnell auf die Expedition ins Landesinnere entlang eines Flusses namens Tana zu sprechen. Einige Dutzend schwarze Träger begleiteten sie. Für Eduards Geschmack erzählte er anfangs etwas zu ausführlich und langatmig von den Strapazen, die sie zu erdulden hatten. Und einige Angriffe von Wilden später waren sie dann wohlbehalten zurück an der Küste.
„Bei unserer Rückkehr hatten wir den sogenannten Uganda-Vertrag in der Tasche“, schloss Weidenmann seinen Abenteuerbericht. „Er wäre der Schlüssel gewesen für eine weitere Expansion und die Schaffung einer deutsch-mittelafrikanischen Kolonie, die uns eine unglaubliche Einflusssphäre auf dem Kontinent gesichert hätte.“
Ein Raunen ging durch die Zuhörerschaft.
„Wie wir bei unserer Rückkehr nach Deutschland feststellen mussten, hatte die Regierung allerdings andere Pläne. Aus Rücksicht auf die europäische Politik hatte Bismarck von weiteren Gebietsansprüchen abgesehen und das ganze Areal einfach den Engländern überlassen.“
Wieder ging ein Raunen durch die Zuhörer. Manche schüttelten ungläubig den Kopf.
„Immerhin wurde daraufhin das gesamte Gebiet Deutsch-Ostafrika als Schutzgebiet übernommen“, fuhr Weidenmann fort und quittierte das Raunen mit einem schmalen Lächeln. „Und ich kann nicht oft genug betonen, wie wichtig wenigstens diese Maßnahme war. Deutsch-Ostafrika und Deutsch-Südwestafrika sind ein gar nicht hoch genug einzuschätzender Wirtschaftsfaktor für Deutschland. Die Kolonien bieten Existenzgrundlage für Tausende von Siedlern. Sie werden in kurzer Zeit einen wichtigen Absatzmarkt für in Deutschland produzierte Güter darstellen. Und von dort kommen Kaffee, Hanf, Sisal, Elfenbein, Sesam, Kokosnüsse und vieles mehr zu uns.“ Er hob den Zeigefinger. „Mit Deutsch-Ostafrika hat Carl Peters den Grundstein für den nachhaltigen Wohlstand des Deutschen Reiches gelegt. Ganz abgesehen davon, dass wir unsere strategisch wichtige Präsenz in Afrika stärken konnten gegenüber den Engländern, Franzosen, Belgiern und Italienern. Denn Deutschland, das ist klar, kann sich nicht nur auf seine europäische Rolle beschränken. Wir sind Deutsche. Und wir sollten nicht nur Großmacht in Europa sein, sondern weltweit. Und dank unserem jungen Kaiser können wir darauf wieder berechtigte Hoffnungen setzen. Die von Bismarck verpassten Chancen und in Verhandlungen mit den Engländern verschacherten Gelegenheiten und Gebiete sind nach seinem Abgang – den wahrscheinlich nicht nur ich aufs Freudigste begrüßt habe – noch nicht verloren.“
„Bravo“, rief Dr. Köhning laut und applaudierte. Spontan stimmten alle ein. Weidenmann lächelte bescheiden und trat einen Schritt vom Rednerpult zurück.
„Danke“, sagte er, als wieder Ruhe einkehrte.
„Das klingt alles sehr schön und gut und heroisch“, rief einer der Zuhörer vorne an der Bühne. „Aber kann man denn dort überhaupt auf Dauer überleben? Gibt es dort Plantagen? Und wer bewirtschaftet die?“
Weidenmann schwieg einen Moment.
„Das sind sehr gute Fragen“, sagte er dann leise. Er räusperte sich. „Nun ja. Natürlich kann man dort überleben. An der Küste lässt sich tatsächlich ja schon von einer beginnenden Zivilisation sprechen. Es gibt die Hafenstädte … Und natürlich gibt es Plantagen. Sie sind meist in europäischem Besitz. Die Arbeiter sind Neger, für die wir ein Steuersystem eingerichtet haben, um sie an regelmäßige Arbeit zu gewöhnen. Wie jedermann müssen sie bezahlen. Und dafür müssen sie auf den Plantagen arbeiten. Das ist ganz einfach.“ Er zögerte. „Ich muss zugeben, dass es nicht immer so einfach ist“, gestand er dann ein. „Die Wilden sind es einfach nicht gewohnt zu arbeiten. Manchmal gibt es Probleme mit der Disziplin und der Moral. Aber das ist ganz normal bei einem solchen ungeheuerlichen Projekt, beim Aufbruch in ein neues Land. Wie sollte so etwas ohne Schwierigkeiten gehen?“ Er warf eindringliche Blicke ins Publikum. „Aber, wann hat das deutsche Volk Herausforderungen wie diese jemals gescheut?“ Wieder sah er sich aufmerksam im Saal um. „Nie“, gab er dann selbst die Antwort. „Vor uns liegen Glück und Reichtum. Sollte uns das nicht ein paar Anstrengungen wert sein? Ein paar Abenteuer …?“
Auf Eduard wirkte Weidenmann in seinem schlichten, grauen Anzug, den an die Schläfen geklatschten Haaren und seiner steifen Haltung nicht gerade wie ein Abenteurer. Trotzdem war er von seinem anfänglichen Urteil abgekommen. Die Kolonien waren alles andere als langweilig. Die exotische Kulisse, die Erzählungen von den Plantagen, den Häfen, den Expeditionen den Tana-Fluss hinauf erregten sein Gemüt, wühlten ihn auf eine seltsame Art auf. Das war ein Leben …
„Pionier … Kolonialist … Plantagenbesitzer. Das ist schon etwas, nicht wahr, Doktor?“, flüsterte er.
„Disziplin und Moral“, erwiderte Dr. Köhning neben ihm trocken. „Das sind Begriffe, die den Schwarzen dort gänzlich unbekannt sind. Den ganzen Tag hocken sie faul vor ihren Hütten, wenn man sie nicht zur Arbeit zwingt. Man gerät ständig ins Schwitzen beim Versuch, den Burschen Beine zu machen.“
„Hm“, machte Eduard leicht ernüchtert. „Aber diese Expedition zu fremden Stämmen, die Kämpfe mit Wilden … Übernachten im Zelt oder unter freiem Himmel am Fuß des Kilimandscharo. Und ist es nicht unsere Aufgabe, diese Wilden zu zivilisieren? Ihnen Kultur beizubringen?“
Dr. Köhning lachte.
„Ja, Sie sind jung, Escher. Gehen Sie in die Kolonien und suchen Sie Ihr Glück. Ich sitze lieber mit einem Cocktail in der Hand auf der Veranda.“
Es folgten noch ein paar Fragen, die sich mehr auf die wirtschaftlichen Aspekte bezogen, auf die Art von Gütern und Waren aus den Kolonien und die Transportwege nach Deutschland. Es war offensichtlich, dass die Waldbrügger Bürgerschaft mehr aus Kaufleuten als aus Abenteurern bestand. Dann war der Vortrag zu Ende. Maarsen bedankte sich überschwänglich beim Redner und bei den Zuhörern und bat, doch noch auf ein Glas zu bleiben. Die Türen wurden geöffnet und man strömte geräuschvoll aus dem Saal.
„Deckt sich Weidenmanns Bericht denn mit Ihren Erfahrungen, lieber Doktor?“ Professor Nehringer gesellte sich, nachdem er sich am Buffet mit einem Glas Wein eingedeckt hatte, wieder zu Dr. Köhning und Eduard.
„Ach, wissen Sie“, erwiderte Dr. Köhning und prostete dem Professor und Eduard mit einem Glas Bier zu. „Afrika ist ein verdammtes Land. Es ist heiß und schwül an der Küste. Im Landesinneren gibt es ein paar Orte, an denen es sich aushalten lässt. Aber für mich ist das auf Dauer kein Land.“ Er schüttelte den Kopf. „Wir haben für den Bau einer Eisenbahnbrücke beinahe doppelt so lange gebraucht wie geplant.“
„Aber es ist in vielerlei Hinsicht wichtig, dort präsent zu sein“, wandte der Professor ein. „Und es ist enorm, was unsere Jungs da leisten. Finden Sie nicht?“
„Ohne Zweifel“, stimmte Dr. Köhning zu.
Eduard war in Gedanken und hörte den beiden kaum zu. Die Bilder von den Kolonialisten, die sich ihren Weg den Fluss entlang bahnten, ließen ihn nicht los. Nackte Wilde, die hinter den Büschen lauerten, bereit, ihre Speere auf jeden zu schleudern, der in ihr Territorium eindrang. Land, das erschlossen werden wollte … Doch plötzlich erinnerte er sich an das Gemälde Marsch der Truppen auf die Stadt von C. Carstens in der Halle ihres Hauses. Auch dieses Bild hatte für ihn Freiheit und Abenteuer symbolisiert, es hatte ihn begeistert. Und als wie mittelmäßig hatte er es erst heute Morgen empfunden? Ein Gefühl der Ernüchterung überkam ihn im Gedanken daran. Es waren zwei verschiedene Dinge: Die Deklassierung des Gemäldes aufgrund technischer und malerischer Unzulänglichkeiten war eigentlich nicht logisch übertragbar auf die Emotionen, die das Motiv an sich bei ihm hervorgerufen hatte. Und doch war es geschehen. Und noch mehr: Die Mittelmäßigkeit von Marsch der Truppen auf die Stadt nahm Eduard seine aufkeimende Begeisterung für die Abenteuer der Kolonialisten. Überhaupt, dachte er, ist das keine seriöse Beschäftigung für einen Mann. Eine Kinderei, ein Abenteuerspiel für Jungs.
„Mag sein“, stimmte er Professor Nehringer vage zu, der weiter dabei war, seine Ansichten zur strategischen Notwendigkeit einer deutschen Präsenz auf dem afrikanischen Kontinent darzulegen. „Mag sein, dass es aus politischem und wirtschaftlichem Kalkül wichtig ist, dort präsent zu sein. Aber ich habe den Eindruck, als seien die Beweggründe vieler der Männer, die sich da in unseren Kolonien betätigen, nicht immer ganz frei von Eigennutz. Und ich denke, es gibt auch hier viel für unser Land zu tun.“
Professor Nehringer zog erstaunt die Augenbrauen hoch.
„Ohne Zweifel, meine Lieber“, sagte er dann. „Ein junger Mann wie Sie kann der Nation an vielen Stellen und in vielen Funktionen nützlich sein.“
Eduard sah Maarsen aus dem Saal auf ihre kleine Gruppe zusteuern. Kurz schoss ihm der Gedanke an seinen Bruder durch den Kopf und die Erinnerung daran, wie unerfreulich er dieses Gespräch empfunden hätte. Wahrscheinlich hätte er sich über Professor Nehringers Haltung gewundert, den er immer als einen aufgeklärten und distanzierten, unparteiischen Geist angesehen hatte. Offensichtlich aber nahm der Professor eine ziemlich patriotische Haltung zu den Kolonien ein, die Hans als rein politisches Instrument ansah, ganz abgesehen davon, dass man in Hans’ Augen die Schwarzen dort ausbeutete. Und er hatte auch keinerlei Berührungsängste mit dem Nationalen Club und seinem geistigen Führer. Als Maarsen sich zu ihnen gesellte, begrüßte ihn der Professor erfreut.
„Was für ein interessanter und anregender Vortrag, Herr Maarsen“, rief er. „Vielen Dank.“
Maarsen nickte, für Eduards Begriffe etwas zu selbstgefällig. Für ihn schien es selbstverständlich zu sein, dass seine Veranstaltung ein Erfolg war. Er hielt sich nicht lange damit auf, sich zu bedanken.
„Sie war dringend notwendig“, sagte er. „Ich habe das Gefühl, in Waldbrügg ist vieles notwendig, wenn es um die politische Bildung unserer Bürger geht.“ Er musterte Eduard mit einem neugierigen Blick. „Doch leider nehmen immer noch viel zu wenige unser Angebot an. Doch langsam, aber sicher ändert sich das.“ Er lächelte und streckte Eduard die Hand hin. „Eduard Escher, nicht wahr?“
Eduard zögerte, drückte sie dann aber mit festem Griff. Wider Erwarten lag Maarsens Hand weich, teigig und leicht feucht von Schweiß in seiner. Erst als er Eduards wohlbemessenen Druck spürte, ging ein Ruck durch ihn. Er riss sich quasi zusammen und erwiderte den Händedruck angemessen.
Maarsen war ein wenig kleiner als Eduard und seine Augen glitten von seinem Gesicht auf das Revers seines Anzugs und nach unten. Eduard ließ die Hand los und widerstand dem Reflex, seine an der Hose abzuwischen. Der Händedruck und Maarsens nervöser, unsteter Blick, mit dem er scheinbar zu jeder Zeit versuchte, alles erfasst zu halten, was um ihn herum vorging, hinterließen einen unangenehmen Eindruck bei ihm.
„Ja“, sagte er. „Auch ich möchte mich für diesen äußerst interessanten Vortrag bedanken, Herr Maarsen. Und ganz sicher haben Sie recht, wenn Sie das mangelnde Interesse der Waldbrügger an politischen Themen bedauern.“ Eduard pflichtete ihm zwar bei, aber er spürte auch einen leisen Ärger über Maarsens überhebliche Art und fügte hinzu: „Doch es gibt durchaus auch einige, die sich sehr dafür interessieren.“
Maarsen wischte sich eine blonde Haarsträhne aus der Stirn und lächelte.
„Sicher, sicher“, beeilte er sich zu sagen. „Jedenfalls freue ich mich, Sie endlich einmal in unserem kleinen Club begrüßen zu dürfen.“
„Ich habe ihn endlich überzeugen können, abends einmal auszugehen“, sagte Dr. Köhning und wandte sich an Eduard: „Sie gehen entschieden zu wenig aus. Es ist in der Tat nicht einfach, hier in Waldbrügg adäquate Gesprächspartner aufzutun. Und wenn man, wie ich, hier nur vorübergehend in einer kleinen, bescheidenen Pension lebt, bleibt einem nicht viel Unterhaltung …“
„Der Winter ist vorüber“, fiel Professor Nehringer auffallend eifrig ein. „Eine eher trostlose Zeit in unserem Tal. Aber im Frühling, lieber Dr. Köhning, und im Sommer, da gibt es durchaus wieder mehr Abwechslung in unserem Städtchen. Man spaziert entlang der Flussauen, es finden Konzerte statt … Kleine natürlich, nicht zu vergleichen mit Frankfurt oder Berlin. Aber immerhin … Es gibt ein Frühlingsfest …“
Maarsen betrachtete ihn kurz und abschätzig, bevor sein Blick wieder unruhig durch den Raum glitt, als suche er jemanden.
„Vergnügungen, Tanz, Musik. Das ist alles schön und gut, lenkt die Leute aber oftmals zu sehr von den wesentlichen Dingen ab.“
„Nun ja“, erwiderte Eduard und lachte. „Sie wollen doch meinen alten Lehrer nicht als vergnügungssüchtig tadeln? Ein Spaziergang am Fluss oder ein Konzert sind sicher kein Hinderungsgrund, sich ernsthaft Gedanken über Politik, den Staat oder unsere Kolonien zu machen.“
Schnell und abrupt wie Fische glitten Maarsens Augen zwischen Professor Nehringer und Eduard hin und her, als müsse er eine Art Verbindungslinie ziehen, um den gesellschaftlichen Zusammenhang der beiden in seiner ganzen Tragweite zu erfassen.
„Aber nein“, rief er dann, winkte ab und lachte auf eine schrille Art und Weise, die man als Nervosität hätte auslegen können. Eduard war sich aber fast sicher, dass Maarsen keineswegs nervös war. „Und es ist ja richtig“, fuhr Maarsen fort: „Dr. Köhning arbeitet hart für diese Stadt, da wäre eine kleine Zerstreuung ab und an sicher angebracht. Ich hoffe jedenfalls, dass ich mit meinen Veranstaltungen und meinen Schriften ein klein wenig dazu beitragen kann. Und ich würde mich wirklich freuen, Sie alle öfter hier im Club begrüßen zu dürfen. Wir veranstalten zum Beispiel regelmäßig auch Diskussionsrunden, um den weniger gebildeten Schichten, unseren Arbeitern und Handwerkern politische Bildung näherzubringen. Das wäre doch vielleicht auch ein interessantes Betätigungsfeld für Sie, Professor Nehringer?“
Der Professor winkte ab.
„Zeit meines Lebens habe ich versucht, jungen Menschen einen Sinn für Geschichte und Politik einzupflanzen. Jetzt stehe ich kurz vor der Pensionierung und muss Ihnen sagen, dass ich froh bin, dieses hoffnungslose Unterfangen endlich aufgeben zu können. Ich lebe dann nur noch für meine privaten wissenschaftlichen Studien und darauf freue ich mich. Sehr …“
Alle lachten.
„Na, na“, rief Eduard und schwenkte den Zeigefinger in der Luft. „Zumindest bei meinem Bruder ist Ihre Saat auf fruchtbaren Boden gefallen. Noch heute beruft er sich auf Erkenntnisse, die er in Ihrem Geschichtsunterricht gewonnen hat.“
„Hans … ja“, sagte der Professor und nickte. „Das ist wahr. Hans hat sich immer für Geschichte begeistert und die Lehren, die man daraus ziehen kann. Ab und zu kommt es vor. Ich hoffe, dass er nicht der Einzige ist.“
„Ganz bestimmt nicht“, sagte Maarsen überzeugt. Er wandte sich an Eduard. „Apropos: Ihr Bruder hatte wohl kein Interesse, Herrn Weidenmanns Vortrag zu hören? Wenn er politisch und historisch so interessiert ist …?“
Eduard lächelte verbindlich.
„Nein“, sagte er nur.
Maarsen hob eine Augenbraue, erwiderte aber nichts, da in diesem Moment Weidenmann zu ihnen trat. Dr. Köhning begrüßte ihn überschwänglich und das Gespräch entfernte sich von Waldbrügg in die ostafrikanischen Gefilde.
Als Eduard später durch die dunklen Gassen nach Hause schlenderte, war er überrascht, dass der Abend trotz aller Vorbehalte und trotz des eher unangenehmen Eindrucks, den Michael Maarsen zu Anfang auf ihn gemacht hatte, äußerst anregend verlaufen war. Er schlug den Kragen seines Mantels hoch. Der Frühling war zwar schon auf dem Vormarsch, sobald der Abend hereinbrach wurde es aber immer noch empfindlich kalt.
Auf der Straße war kaum mehr jemand unterwegs, nur ab und zu huschte eine dunkle Gestalt, die Mütze oder den Hut tief in die Stirn gezogen, über die Straße. Die Pflastersteine glänzten im trüben Gaslicht der wenigen Laternen, als wären sie feucht. Nach dem Verlassen des Clubs hatten sich die Zuhörer schnell in alle Winde zerstreut. Zwar hatte Eduard zu Anfang den Eindruck gehabt, ein paar der jungen Kerle, die an der Tür gestanden hatten, würden ihm folgen. Doch bald war niemand mehr zu sehen. Er wurde ruhiger und schüttelte mit einem leisen Lachen den Kopf über seine eigene Überspanntheit, zu der wohl auch das eine oder andere Glas Wein beigetragen hatte. Doch als er durch die schmale, unbeleuchtete Gasse am Rathaus vorbeiging und den Marktplatz fast erreicht hatte, zuckte er plötzlich zusammen. Unversehens war eine Gestalt aus dem Schatten eines Hauses getreten. Das Gesicht konnte er nicht erkennen, es war vom langen Schirm der Mütze fast vollständig verdeckt. Automatisch beschleunigte Eduard seine Schritte, doch der Mann trat ihm entschieden in den Weg.
„Feuer?“, fragte er, als Eduard vor ihm stehen blieb.
Eduard klopfte mechanisch die Taschen seines Mantels ab und brachte nach einer umständlichen Suche tatsächlich eine Schachtel mit Streichhölzern zum Vorschein. Er brauchte einige Versuche, um eines der Hölzer anzureißen, doch schließlich gelang es ihm. Der Mann beugte sich mit dem Gesicht über die Flamme und schützte sie mit seinen Händen. Im sparsamen Licht vermeinte Eduard, einen der Burschen aus dem Club zu erkennen, die wahrscheinlich fürs Schließen der Türen und … – ja, für was denn noch? – verantwortlich gewesen waren.
Was machte der Mann hier? War er ihm doch gefolgt, wie er anfangs vermutet hatte? Oder war das ein Zufall? Möglicherweise hatte er ja denselben Heimweg wie Eduard. Es war aber kaum möglich, dass er vor ihm gegangen war. Die Gruppe der Männer, zu denen er gehört hatte, war noch geschlossen versammelt gewesen, als die Gäste den Club verlassen hatten. Er musste also einen anderen Weg eingeschlagen haben. Und er musste sich beeilt haben, um jetzt hier an der Ecke im Schatten auf Eduard zu warten.
„Mhm“, machte der Mann, was wohl als Dank zu verstehen sein sollte. Er zog an seiner Zigarette und richtete sich wieder auf.
Eduard schüttelte das Streichholz, bis es erlosch, und warf es zu Boden.
„Keine Ursache“, sagte er steif. Seine Stimme klang hohl in seinen Ohren und etwas zu laut für seinen Geschmack.
Vielleicht bildete er sich alles auch nur ein und das hier war ein ganz anderer Mann. Er hatte ihn im sparsamen Schein der Flamme ja nur kurz und undeutlich gesehen.
„Sie bauen die neue Brücke, nicht wahr?“, fragte der Mann, und an seiner Art zu sprechen erkannte Eduard, dass er nicht von hier stammte.
„Ja“, sagte er und atmete tief ein. Er trat einen Schritt zur Seite, um an dem Mann vorbeizukommen, der keine Anstalten machte, ihm aus dem Weg zu gehen. „Entschuldigen Sie. Es ist spät …“
Damit eilte er weiter. Nachdem er einige Meter gegangen war, wandte er den Kopf, obwohl er sich eigentlich zwingen wollte, sich nicht umzudrehen. Der Mann folgte ihm nicht, aber er stand immer noch am selben Fleck und blickte ihm nach. Eduard sah, wie die Glut seiner Zigarette in der Dunkelheit aufleuchtete. Er beschleunigte seine Schritte und war bald auf dem Marktplatz, wo es heller war. Erstaunt schüttelte er den Kopf über diese seltsame Begegnung der unheimlichen Art. Was hatte das zu bedeuten? Es war doch eigentlich ganz unmöglich, um diese Zeit in Waldbrügg auf offener Straße angesprochen zu werden. Ja, drüben, auf der anderen Seite des Flusses, im Lager der Arbeiter, dort vielleicht. Aber hier? Die Zeiten änderten sich vielleicht doch auch in Waldbrügg …
Eduard wollte zu seinen ursprünglichen Gedanken zurückkehren und die Gespräche des Abends noch einmal rekapitulieren, konnte sich aber nicht mehr darauf konzentrieren. Erst als er den Platz überquert, das Haus erreicht hatte und in der düsteren Halle stand, atmete er auf. Und als er seinen Mantel aufhängte, kamen seine Gedanken langsam auf den Abend im Club zurück. Doch den Zwischenfall – er beschloss, diese Begegnung für sich zu behalten und nannte sie nur in Gedanken einen Zwischenfall, denn was war denn schon geschehen? Ein Mann hatte ihn nach Feuer gefragt … – konnte er nicht ganz vergessen. Immer spukte er in den hinteren Regionen seines Kopfs und verknüpfte sich ganz automatisch mit den Eindrücken im Club, als hingen beide Ereignisse auf geheimnisvolle Weise zusammen.
Bei dem Vortrag und auch danach, während der Unterhaltung mit Maarsen und Weidenmann, waren Eduard gewisse, ihm unangenehme Ansichten der beiden aufgestoßen, an denen weder Dr. Köhning noch Professor Nehringer scheinbar etwas auszusetzen hatten. Wobei auch er kaum Einwände vorgebracht hatte und auch die anderen sich vielleicht nur höflich zurückgehalten hatten. Und insgesamt war es, das erstaunte ihn selbst, ein anregendes und interessantes Gespräch gewesen. Wenn er ehrlich war, reduzierten sich die unangenehmen Aspekte der Unterhaltung im Nachhinein auf einige wenige, und die hatte er auch immer aus dem Blickwinkel seines Bruders betrachtet. Kleine Momente, in denen er sich gefragt hatte, was Hans wohl dazu sagen würde. Sicher, sie waren sich grundsätzlich in ihrer fortschrittlichen Haltung einig. Doch Hans war doch um einiges radikaler in seinen Ansichten.
Während des Studiums hatte Eduard sich in vielen Dingen eine etwas moderatere Sicht der Dinge zugelegt. Er hatte das genau durchdacht. Einerseits war es seinem Bestreben geschuldet, gesetzter und abgeklärter zu wirken, andererseits machte es aber auch vieles leichter. Er fand Freunde aus angesehenen Familien und schließlich resultierte daraus auch seine Anstellung im Büro von Dr. Köhning. Hätte er sich an der Universität mit den Aufsässigen, den Liberalen oder gar Sozialisten eingelassen, dann stünde er heute nicht da, wo er jetzt stand.
Das Verhältnis zu seinem Bruder hatte sich nach seiner Rückkehr nach Waldbrügg geändert. Hans billigte seine neuen Grundsätze keineswegs und war ihm gegenüber misstrauischer geworden. Doch ihre Positionen hatten sich auch wieder nicht so weit voneinander entfernt, dass sie nicht mehr miteinander auskamen. Und Eduard hatte bisher keinen Anlass gehabt, allzu heikle Themen mit Hans zu diskutieren. Er war allerdings nur noch sehr selten mit ihm zu den Treffen mit Simon und Ava Mandelbaum – ihren kleinen Salon, nannte Ava es im Scherz – gegangen, von denen er früher keines verpasst hatte. Die Unterhaltungen, die er geliebt hatte, erschienen ihm heute eher kindisch und weltfremd.
Sind es überhaupt meine Ansichten, die zur Debatte stehen, fragte er sich, als er die dunkle Treppe nach oben zum kleinen Salon nahm. Durch den Türspalt drang etwas Licht und er vermutete, dass Hans noch wach war. Oder sind es nur Ansichten, die ich mir zugelegt habe, weil sie ganz praktisch sind? Abgeklärt, vernünftig, ohne große Leidenschaft … Aber für was soll Leidenschaft auch gut sein? Sie bringt einen nur in Schwierigkeiten. Er hatte plötzlich die leise Befürchtung, um eine Auseinandersetzung mit Hans nicht herumzukommen, wenn er jetzt den Salon betreten würde.
Eduard zögerte einen Augenblick, dann öffnete er die Tür und warf einen Blick hinein. Tatsächlich war Hans noch wach. Er lag halb auf dem Sofa, die Füße auf einem kleinen Schemel vor dem Couchtisch, und war vertieft in die Lektüre seines Buchs. Eduard wusste, was Hans zurzeit las: Es war Die Anatomie der Melancholie. Robert Burton, ein anglikanischer Geistlicher und Gelehrter, hatte es Anfang des 17. Jahrhunderts verfasst. Eduard selbst hatte es Hans empfohlen, hauptsächlich wohl, um ihn endlich einmal wieder auf andere Gedanken zu bringen. In letzter Zeit hatte er sich in seiner Freizeit fast ausschließlich mit Autoren wie Karl Gutzkow oder Heinrich Laube beschäftigt. Für Eduard waren das Sozialisten reinsten Wassers. In Hans’ Zimmer – er hatte es seinem Bruder unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut – lagen gut versteckt ein paar Aufsätze von Karl Marx. Wenn ihr Vater davon erfuhr, würde er seinen Sohn wahrscheinlich ohne Weiteres aus dem Haus jagen. Mindestens, hatte Hans gesagt und gelacht, als er Eduard die Schriften zeigte.
Eduard wollte ihn deshalb auf eine etwas unverfänglichere Lektüre bringen, die er in verschiedenen Passagen dennoch seltsam geheimnisvoll und irgendwie anrührend fand. Robert Burton, selbst prominentes Opfer der „englischen Krankheit“, unternahm darin den Versuch, Ursachen, Symptome und auch die Möglichkeiten der Heilung einer der – wie er sagt – schwersten Krankheiten der Menschheit darzulegen, der Melancholie. Beinahe nebenbei fand er auch noch Raum und Zeit zur Beurteilung und Kommentierung verschiedenster Entwicklungen beispielsweise in der Astronomie, in Gesellschaft und Klerus seiner Zeit.
Eduard hatte seinen Bruder immer für den emotionaleren, vielleicht auch labileren, für spirituelle Erfahrungen anfälligeren und auch leichtfertigeren von ihnen beiden gehalten. Er war schnell zu begeistern, doch oftmals hielt diese Euphorie nicht lange an. Er selbst, so sagte Eduard sich, war von dem Buch amüsiert gewesen. Für ihn war es eine nette Unterhaltung und nur von Nutzen, um die Sichtweise der Menschen vor 250 Jahren vielleicht etwas besser verstehen zu können. Manchmal war er überrascht gewesen von der Nüchternheit und Weitsicht, mit der Burton über bestimmte Dinge urteilte. Aber insgesamt hielt er die Anatomie lediglich für einen Zeitvertreib. Bei Hans war er da nicht so sicher. Vielleicht würden einige Ideen oder Anregungen aus dem Buch bei ihm auf fruchtbaren Boden fallen … Und er war einige Zeit abgelenkt von seinen eher radikalen politischen Ideen, die er mit Simon Mandelbaum spann. Als wären sie noch Kinder …
Als Eduard den Salon betrat, blickte Hans auf und legte das Buch zur Seite. Es hatte den Anschein, als habe er gar nicht gelesen, sondern mit dem Buch in der Hand vor sich hingedöst. Doch jetzt setzte er sich rasch auf und war hellwach.
„Endlich“, rief er. „Du warst lange weg …“
„Nun ja.“ Eduard schmunzelte. „Es ist noch nicht Mitternacht.“
„Trotzdem“, erwiderte Hans. „Setz dich. Wie war es? Willst du etwas trinken? Hast du Hunger? Es hat noch kalten Braten in der Küche. Ich kann Maria holen … Oder ich schneide dir selbst ein Stück ab. Ein Glas Wein?“
Eduard hob die Hände, wie um den Wortschwall seines Bruders abzuwehren.
„Hans“, rief er. „Hans … Hör auf.“ Er lachte. „Ich setze mich. Und ja, ich nehme ein Glas Wein. Und keine Sorge, ich werde dir alles berichten. Aber vielleicht …“ Er sah sich in dem nur spärlich beleuchteten Raum um. „Ist Vater noch wach?“
Hans schüttelte den Kopf, während er für Eduard an der Anrichte ein Glas füllte. Dann füllte er auch sein eigenes und brachte beide zum Couchtisch.
„Er ist schon vor einer Stunde oder mehr zu Bett gegangen“, sagte er.
Beide setzten sich und nahmen einen Schluck.
„Jetzt schieß schon los“, sagte Hans irgendwann, als Eduard keine Anstalten machte, zu berichten.
„Nun ja, was soll ich sagen?“ Auf einmal fühlte Eduard sich unwohl in seiner Haut. Ja, wirklich. Was sollte er sagen? Dass es ihm eigentlich ganz gut gefallen hatte? Dass einige merkwürdige Leute da gewesen waren? Aber zum Beispiel auch der von Hans hochverehrte Professor Nehringer? Sollte er die Erwartungshaltung seines Bruders bedienen oder sich zu später Stunde noch auf eine Konfrontation einlassen? Er betrachtete Hans, dessen schmales, jugendliches Gesicht im Schein des gedämpften Lichts noch jünger wirkte. Er hatte sich nach vorn gebeugt, die Ellbogen auf die Knie gestützt und blickte Eduard erwartungsvoll an. Über seinen Lippen war ein spärlicher Flaum zu sehen, erste zarte Anzeichen eines Bartes. Sein Gesicht war weicher, die Wangenknochen nicht ganz so ausgeprägt wie bei Eduard oder ihrem Vater.
„Den Vortrag hat ein gewisser Kurt Weidenmann gehalten“, sagte er. „Er war an einer oder mehreren Expeditionen in Deutsch-Ostafrika beteiligt und hat davon berichtet.“
„Wie ist der Raum?“, fragte Hans, ohne im Mindesten auf Eduards Worte einzugehen. „Was für Leute verkehren dort? Hast du Bekannte getroffen?“
Eduard seufzte.
„Ach, Hans. Was willst du denn hören? Wirklich … Du erwartest, dass alles ganz genau so ist, wie du und Simon sich das immer ausmalen, nicht wahr? Geistige Brandstifter, sozialistenfressende Nationalisten und kapitalistische Ausbeuter, die sich in dunklen Salons gegen das freiheitliche Gedankengut verschwören … Einen nach dem anderen ziehen sie in ihren Bann.“ Er hielt einen Moment inne. „Aber so ist es nicht. Um die Wahrheit zu sagen, ich weiß es nicht.“
„Na, hör mal“, rief Hans. „Du warst doch immer unserer Meinung. Und jetzt?“
„Jetzt war ich dort“, entgegnete Eduard. „Und ja, ich habe ein paar Bekannte getroffen.“ Einen Moment lang zog er wieder in Erwägung, Professor Nehringer zu erwähnen. Aber, aus keinem bestimmten Grund, behielt er sich das lieber für später vor. „Es ist nicht so, wie du denkst.“
„So?“ Hans warf ihm einen spöttischen Blick zu. „Wie ist es denn?“
„Der Vortrag war interessant. Es ging um die Kolonien, was für ein Potenzial für unser Land dort schlummert.“ Eduard dachte einen Moment lang nach. „Natürlich ist nicht alles ideal. Es gibt Probleme mit den Eingeborenen, mit verschiedenen Nationen, die Einfluss nehmen wollen. Das Gebiet ist umstritten, wird reklamiert von Wilden, den Engländern … Darum ging es in der Hauptsache.“
„Dir ist aber schon klar, dass die Kolonien der Regierung hauptsächlich zur Ausbeutung dienen, oder?“, fragte Hans kühl. „Ganz zu schweigen von Männern wie Carl Peters, die skrupellos und ohne Rücksicht auf Verluste ihre persönliche Bereicherung vorantreiben.“
Eduard nickt nachdenklich.
„Das ist schon wahr“, sagte er und verschwieg auch, dass beinahe alle Anwesenden Carl Peters uneingeschränkte Bewunderung entgegengebracht hatten. „Aber sie alle glauben auch, dass die Gebiete dem Reich auf lange Zeit großen Wohlstand bringen werden. Und dass auch die Kolonien davon profitieren.“
Hans schüttelte unwirsch den Kopf.
„Und Maarsen?“, fragte er und wechselte abrupt das Thema. „Wie ist er so?“
Eduard zögerte. Unausstehlich wollte er sagen, weil er wusste, dass seinem Bruder das gefallen würde. Unangenehm, dachte er dann, und das war ja auch wirklich sein erster Eindruck gewesen.
„Eigenartig“, sagte er schließlich. „Er ist überzeugt von seinen Ansichten. Die ich allerdings nicht so genau kenne. Außer ein paar Andeutungen hat er sich ziemlich zurückgehalten. Für seine Verhältnisse ist er sehr gemäßigt aufgetreten. Aber das war wahrscheinlich den vielen Besuchern geschuldet, die normalerweise nicht im Nationalen Club verkehren. Er wollte sie sicher nicht vor den Kopf stoßen. Und ich denke, das ist ihm gelungen.“
Hans warf ihm einen misstrauischen Blick zu.
„Du scheinst ihn ja fast zu bewundern“, sagte er verdrießlich.
„Ich mag ihn, glaube ich, nicht besonders“, erwiderte Eduard. Allmählich war er diese Inquisition leid. „Aber er ist nicht dumm und es ist nicht alles falsch, was er sagt.“
Empört sprang Hans auf und ging zum Fenster.
„Wie kannst du das sagen?“, rief er. „Du hast seine Artikel doch auch gelesen. Seine sogenannten Streitschriften … Die Hetze gegen politisch Andersdenkende, ganz zu schweigen von den Angriffen gegen Juden.“ Er schüttelte heftig den Kopf. „Wenn ich das schon höre …“
„Ich will Maarsen doch gar nicht verteidigen“, rechtfertigte Eduard sich. „Aber kann man jemanden verurteilen, nur auf Grundlage von ein paar Artikeln? Ich sage nur, dass er wahrscheinlich unterschiedliche Seiten hat, wie wir alle. Und dass seine Ansichten fragwürdig sind, bestreite ich ja gar nicht. Bei manchen Themen klingt er aber gar nicht unvernünftig.“
„So? Welche sind das denn?“
„Zum Beispiel bei wirtschaftlichen Fragen. Und es ist ja wohl kein Fehler, sich um seine Nation Gedanken und Sorgen zu machen. Er sieht eben einen Wertezerfall in unserer Gesellschaft. Das mag absurd und fortschrittsfeindlich sein. Aber es ist nichts, was man im Gespräch nicht klarstellen kann.“
„Na, das will ich sehen, wie du Michael Maarsen klarmachst, dass die Juden keine Verschwörung planen, um die wirtschaftliche Kraft des Deutschen Reichs zu schwächen oder den Großteil des Kapitals in ihre Hände zu bekommen.“ Wütend ging Hans zum Tisch, nahm eine dünne Zeitschrift und warf sie Eduard hin. „Das kannst du nicht ernsthaft gutheißen.“
„Ja.“ Eduard seufzte. „Ich lese es. Morgen. Hans, ich will mich doch nicht mit dir streiten. Ich kann dir nur über den Abend berichten. Und der war interessant. Komm das nächste Mal mit, dann kannst du dich mit eigenen Augen überzeugen.“ Er erhob sich. „Aber jetzt ich bin müde und ich muss morgen früh aufstehen. Lass uns schlafen gehen und die Unterhaltung ein anderes Mal fortsetzen.“
Als Eduard sich wenig später beim spärlichen Schein einer Kerze entkleidete, die er auf den Tisch neben seinem Bett gestellt hatte, spürte er deutlich, wie weit er sich doch von seinem Bruder entfernt hatte. Er hielt inne und blickte aus dem Fenster. Es war stockdunkel, nichts zu sehen außer den Umrissen einiger Dächer, die sich schwarz vom dunklen Himmel abhoben. Eine große Traurigkeit überkam ihn und er fühlte sich plötzlich so einsam, als sei er der einzige Mensch auf der Welt. Als würde Waldbrügg ihn umklammern, festhalten, zu Boden drücken, tief hinein durch die Pflastersteine ins Erdreich, und ihn nie mehr entlassen in die Welt, die ihm so frei schien. Er dachte an Robert Burton und es tröstete ihn ein bisschen, dass wenigstens kein Nebel herrschte, wie es auf den britischen Inseln zu dieser Jahreszeit üblich war. Beklommen ging er zu Bett.