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Die Stunde des Schläfers

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Gestochen scharf zeichneten die kompakten Nadelbüschel des nächtlichen Pinienwaldes ihre filigranen Konturen auf die kalte Scheibe des hoch stehenden Vollmondes, während sich die abgestorbenen Baumnadeln auf dem Waldboden zu grabhügelähnlichen, grauen Haufen formiert hatten.

Die Szenerie erinnerte Buddy Greater ein weiteres Mal an die Flüchtigkeit des irdischen Daseins; bisweilen war sie für ihn ein Spiegelbild vom Werden und Vergehen sämtlicher kosmischer Existenz. Befallen von einer leichten Müdigkeit stolperte er den schmalen Waldpfad entlang, der sich zwischen den knorrigen Bäumen hindurch erstreckte. Über grotesk anmutendes Wurzelwerk und durch holperige Vertiefungen führend, vorbei an einigen größeren Felsbrocken, endete der Weg schließlich oberhalb einer weiten Senke, die den Blick freigab auf eine phantastische, in Silber getauchte Landschaft.

Obgleich er auf seiner Flucht über die Hügel mehrmals gestrauchelt war, sich Gesicht und Hände im Dickicht zerkratzt und seine Knie blutig geschlagen hatte, so konnte er sich doch dem unheimlichen Zauber dieses Ortes nicht entziehen.

Von Norden her reichten abweisend bewaldete Gebirgsausläufer bis ganz an die Küste des völlig ruhigen Meeres, dessen Wasser im Mondschein wie geschmolzenes Blei darniederlagen. In der Ferne konnte er verstreut die flimmernden Lichter von Siedlungen ausmachen, die von den hell flackernden Sternen des Firmaments mit Gleichgültigkeit gestraft wurden. Aus den dunklen Wäldern und Schluchten drangen die rauen Rufe der Kauze sowie das eisige Geheul wilder Wölfe, welche Buddy bis ins Mark erschaudern ließen. Doch sein Raubtierinstinkt war zu ihm zurückgekehrt und vertrieb alsbald die Schwäche der Angst und Erschöpfung aus seinen müden Knochen.

Eine neblige Brise wehte die Hänge entlang und lenkte seine Aufmerksamkeit auf den alten Dorffriedhof mit der verlassenen romanischen Kirche, welcher sich etwas unterhalb von ihm auf einer mauerumfriedeten Anhöhe befand.

Die ersten Häuser des Dorfes lagen weitab des Gottesackers und verrieten nicht ein einziges Lebenszeichen möglicher Bewohner.

Eine wilde Entschlossenheit keimte in Buddy auf und im nächsten Augenblick fegte er in größter Hast über hohes Gras und Gestrüpp den Hang hinunter. Noch ehe er außer Atem gelangen konnte, befand er sich auch schon vor dem hohen schmiedeeisernen Bogentor des Friedhofsareals. Der rechte Torflügel gab dem Druck seiner Handfläche nach und ließ sich problemlos unter rostigem Quietschen öffnen. Bevor er den schmalen Vorplatz betreten konnte, musste er sich durch ein Gewirr aus dornigem Gesträuch hindurchkämpfen und kniehohen Wildwuchs überwinden. Über wenige Stufen kam er zum versperrten Türgitter der alten Steinkirche, die wohl mindestens seit einigen Jahrzehnten in einem Dornröschenschlaf lag. Der Blick nach innen offenbarte Buddy abgrundtiefe Finsternis. Nur die Silhouetten der hoch oben liegenden Bogenfenster zeichneten sich durch das Mondlicht wie Kerkerluken über der dunklen Tiefe ab. Dem wahrhaftigen Abyssus auf der Spur, war er dorthin unterwegs, wo er seinen natürlichen Trieben freien Lauf lassen konnte und nur sich selbst gegenüber für sein Handeln einzustehen hatte. Sein Instinkt verriet ihm, dass er in Kürze die verborgenen Winkel des Abgrundes betreten konnte, wenn er nur seiner Intuition folgte und sich durch nichts beirren ließ.

Er umrundete das Kirchengemäuer bis zu den Außenfundamenten des Kirchturms, dessen morsches Glockengesims bedrohlich über das unter ihm liegende Gräberfeld blickte. An den Seiten des Sakralbaus erstreckten sich die Gräber mit rostigen Eisenkreuzen und veralteten Einfriedungen aus Schmiedeeisen; dort hinten an der Turmwand entlang reihten sich wuchtige Steingräber in massiver traditioneller Bauweise aneinander. Bei einem von diesen war die schwere Natursteinplatte, welche als Abdeckung diente, etwas verschoben; eine schmale Öffnung gab den Blick in die ewige Dunkelheit der Grabkammer frei. Um etwas erkennen zu können, steckte sich Buddy eine Zigarette an, nahm einen ersten Zug und hielt das abbrennende Streichholz dann eine halbe Armlänge weit in das klaffende Loch hinein. Sein Blick begann von den kahlen Seitenwänden hinabzugleiten zum Grund der Grube, wo er die spärlichen Überreste deren toten Bewohners deutlich sehen konnte - nur ein paar verstaubte Knochen waren von diesem erhalten geblieben und lagen auf dem steinigen Erdreich verstreut.

»Das ist alles, was vom Leben bleibt; aber der Tod wird für alle Zeit mein Meister sein«, stammelte Buddy mit seiner Fistelstimme, lehnte sich in kurzer Betroffenheit an die mondbeschienene Grabeswand und rauchte mit leicht zittrigen Fingern weiter an seiner Zigarette, während er mit der anderen Hand am Gestell seiner Bifokalbrille nestelte. Urplötzlich meldete sich eine ihm bekannte Stimme in seinem Kopf zurück, deren laute Rufe seinen Schädel fast zum Bersten brachten: »Befreie mich, dann befrei ich dich ... befreie dich, dann befreist du mich ....«

Vor Schmerz ließ er sich auf den Boden fallen und wand sich wie ein Wurm im Staub, wobei ihm die glühende Zigarette entglitt und in hohem Bogen in das knochentrockene Gestrüpp fiel, das wenige Augenblicke später bereits qualmte und kurz darauf die ersten Flammen nährte.

Während Buddy eine deliriöse Verstimmtheit durchlitt und in heftigen Krämpfen zuckte, die dröhnende Stimme sich jedoch nicht mehr vernehmen ließ, fand er in der Hitze des brennenden Grases allmählich wieder zu sich selbst zurück. Es wurde ihm gewahr, dass es die Stimme seines Alter Ego gewesen war; die Wortmeldung seines anderen Ich, das ihm zu Zeiten gerne despotische Befehle erteilte, über die er sich nie hinwegzusetzen gewagt hätte. Die Flammen züngelten immer höher zum Nachthimmel hinauf und das Feuer breitete sich rasch über das gesamte Gräberfeld aus. In zügelloser Wut raste es um das Kirchengemäuer herum und machte sich schon die uralten Zypressen neben der Eingangsmauer zum Raub. Endlich begriff Buddy die Gefahr, in der er schwebte. Wenn er nicht wie eine Hexe auf dem Scheiterhaufen verbrennen wollte, gab es nur einen Ausweg: mit einem schweren Findling zertrümmerte er hastig die bereits beschädigte Abdeckplatte der Gruft und stürzte sich hinab zu den stummen Knochenfragmenten. Von oben leckten noch eine geraume Zeit die Flammenzungen in gierigem Rhythmus herein; danach ward Grabesdunkel.

Nachdem sich Feuer und Rauch verzogen hatten, lag Buddy eine unbestimmte Zeit lang ohne klare Wahrnehmung umher. Es war pechschwarz und ein eisiger Hauch ließ ihn frösteln. Er wusste nicht recht, ob er wachte oder träumte. Möglicherweise, so dachte er, befand sich sein Bewusstsein in einer Phase der Transformation von einer Traumsequenz in die Nächste.

Beißende Fäulnis quälte seine Nase; dann glaubte er Schritte zu vernehmen, deren stakkatoartiges Herannahen ihn vermuten ließ, dass sich der Urheber derselben in einem großen Raum - etwa einer tiefen Höhle - heranbewegen musste.

Buddys Herz begann heftig zu schlagen; er glaubte sich hellwach; er verharrte auf dem Grund liegend; seine Atmung war flach; unter seinen Augenliedern breitete sich eine schwache Lumineszenz aus. Der Lichtschein wurde zunehmend heller; deutlich zeichnete sich über ihm eine gewölbeähnliche Struktur ab; keine Wände waren zu sehen: das Licht konnte wohl nicht an die Grenzen der gewaltigen Halle heranreichen.

Das Schrittecho wurde fortan durchdringender und begann wie die Unruhe eines Uhrwerks den Takt vorzugeben. Der Verwesungsgestank verstärkte sich in dem Maße, in dem die Schritte näher zu kommen schienen.

Der kalte Hauch der ihn umwehte, hatte Buddys Empfinden nach die Frostgrenze erreicht. Es drängte sich ihm der Gedanke auf, dass er womöglich Gefahr liefe, hier an Ort und Stelle einen kläglichen Kältetod zu sterben, falls er sich nicht von hier fortbewegte. Sollte es andererseits ein Traum sein, den er durchlebte, hatte er gleichsam weniger seinen Tod zu befürchten, als vielmehr in den Strudel eines gewaltigen Abenteuers gesogen zu werden; mehr in spannungsvoller Erwartung denn vor Kälte zitternd, harrte er der Dinge. Augenblicklich verstummten die Schritte und deren letztes Echo fraß sich durch die unbestimmbare Weite des scheinbar grenzenlosen Raumes hindurch. Doch die darauffolgende - Buddy ebenfalls grenzenlos erscheinende - Stille dauerte nicht lange an. Aus dem rätselhaften Licht unter seinen geschlossenen Augenliedern heraus vernahm er den vertrauten Klang der Stimme seines Alter Ego, die ihm gemahnte: »Erhebe dich Bud, auf dass du vernimmst die Weisungen deines Meisters! Aus den Tiefen des Raumes kam ich dereinst herab. In Zeiten der größten Not setzte ich mein Leben für die Erde ein. Doch mein Erbe wurde verbannt und für tot erklärt; über mich sollte am Ende der Zeiten gerichtet werden. Daher kehrte ich in meine kosmische Heimat zurück. Meine Seele jedoch ließ ich auf deinem Planeten ruhen. Er bleibt darin eingehüllt und ist durchtränkt davon, solange mein Wille ihn daran bindet. Gleich wie der Dichter sagte: `Schläft ein Lied in allen Dingen...`, so wird die Erde kraft meiner Unsterblichkeit bis zu ihrem letzten Atemzug mit mir verbunden sein - zu einem Reigen in die Nacht. Jedoch, alle die ihre Seelen mit der meinen vermählen, werden nach ihrem fleischlichen Tode weiterexistieren. Ihr Animus wird durch das Tor der Sterne eingehen und zur absoluten Vollkommenheit gelangen.«

Buddy hatte sich mittlerweile aufgerappelt, spürte aber keinen Boden unter seinen Füßen. Als er auf der Suche nach einem Untergrund mit beiden Beinen austrat, begann er lediglich zu taumeln. Er gewahrte zu schweben, nachdem er seine Augen geöffnet hatte und sich von dem sonderbaren diffusen Licht wie von einer gallertartigen Masse eingehüllt sah. Seine Atmung verlief jedoch ruhig und die eisigen Temperaturen, die ihn gerade noch hatten frieren lassen, waren einer wohligen durchdringenden Wärme gewichen. Es duftete nach weichem Wachs und die überwältigende Stille war wie Balsam für Buddys Ohren. So musste er sich einst als Fötus zwischen den Eingeweiden seiner Mutter gefühlt haben, die kurz nach seiner Geburt gestorben war. Aber vieles war eben so wie es war und konnte wohl kaum jemals eine Veränderung erfahren; er hingegen fühlte sich bestrebt sein Leben bei geeigneter Gelegenheit einer Wendung zuzuführen. Und so fragte er die Stimme: »Was muss ich tun, um diese Vollkommenheit zu erlangen, Meister?«

»Folge der Natur von Licht und Schatten und erkenne zuerst, was du von dir selbst erwartest. Fordere nicht mehr von meiner Autorität, als du selbst zu geben imstande bist. Ich bin allgegenwärtig, doch kaum ein Mensch begreift etwas von dem, was meine Gegenwart ausmacht. Erst der Blick hinter den Spiegel verschafft Gewissheit; er schürt die Begierde nach reiner, aber auch unbequemer Erkenntnis. Diese zieht ihre Bahnen zwischen den menschlichen Definitionen von Gut und Böse, ungerührt von irdischem Verdruss und ist erhaben über jegliches zivilisatorische Vorurteil. Dein Wille muss entscheiden, reine Erkenntnis in Vollkommenheit - gepaart mit unumschränkter Existenz der Seele - erlangen zu wollen oder aber, wie alles Vergängliche, am Tage dessen Ablebens lediglich zu verrotten und faktisch nie existiert zu haben.

Darum habe ich dich an diesen Ort geleitet, um deine Entscheidung entgegenzunehmen, Bud.«

»Aber warum hast du mich erwählt? Ist es nicht nur deshalb, weil wir beide ohnedies untrennbar miteinander verbunden sind?«, frotzelte Buddy.

»Sieh es wie du willst, Bud, aber begreife: ich bin dein Herr. Ich habe die Kontrolle über dich und deine Träume. Wenn du aber bereit bist, mir zu vertrauen, so kann ich deine psychischen und physischen Grenzen aufheben und Raum und Zeit zu deinen Werkzeugen machen. Gemeinsam werden wir dann über das Universum herrschen.«

Der Größenwahn gefiel Buddy, aber Vertrauen war ihm ein abstrakter Begriff und so war er entschlossen, seinem stärkeren Ich ein etwas handfesteres Versprechen abzuringen. Ein Hang zu falscher Bescheidenheit haftete ihm für gewöhnlich nicht an, daher kam er ohne Umschweife zur Sache: »Behalte du die Oberhand über mich, aber verleihe mir die alleinige Macht, über die Geschicke der Erde bestimmen zu dürfen. Dann werde ich dir in treuer Ergebenheit folgen; wohin immer du mich auch geleiten magst, Meister.«

»So sei es denn!«, bestätigte sein Alter Ego.

Buddys Absicht gemäß hatte es die List hinter seinen Worten nicht durchschaut. Doch wenn er sich schon unterwarf, so wollte er sich wenigstens seiner Stellung als Sklave würdig erweisen: die verhasste Welt sollte ihm dafür auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sein. Unbeirrt dessen tönte die Stimme fort und belehrte ihren Adepten: »Dein Wort sei dein Weg und dein Wille sei dein Wort. Alle Antworten sind in dir, denn du selbst bist die Antwort. Du bist das Alpha und das Omega der Erkenntnis. Du gehst ein in dein Universum. Du hegst keine Furcht, weder vor dem Licht noch vor der Dunkelheit.

Der dich sucht, den findest du. Der dir Feind ist, den zerschmetterst du.

Die alten Dinge sind nicht mehr, noch werden sie jemals im Geiste wieder aufkommen. Fortan wirst du deiner Selbst wegen bestehen; keine irdischen Belange werden deine Sinne und dein Handeln beeinträchtigen; keine bohrenden Fragen nach einem Sinn und Zweck werden deine Gedanken lähmen. Kraft deines Willens vermagst du zu jeder Zeit und an jedem Ort des Kosmos zu erscheinen oder aber zu verschwinden; ganz wie es dir beliebt. Grundsätzlich bist du als Seelenwesen in der Lage, je nach Erfordernis körperlich manifestiert aufzutreten oder aber visuell nicht in Erscheinung zu treten.

Dein neuer Name soll ab jetzt Ngabu-Nganba sein, was soviel bedeutet wie Der unveränderliche Veränderliche.

So sei also du selbst der Spiritus Rector deiner Seelenwanderschaft und gehe nun ein durch das Tor der Vollkommenheit.«

Buddys Wahrnehmung begann mit dem Ende dieser Worte wie Wachs in der Sonne zu schmelzen. Das Konglomerat lebenslanger Impressionen in seinem Hirn löste sich zunehmend in Einzelteile auf, die sich bald zu einem unlösbaren Puzzle vermischt hatten: sein Sphärentransfer hatte begonnen.

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