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3. Cultural Studies, Post-Colonial Theory, Interkulturalität

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Cultural Studies seit 1964

Die Hinwendung zu den sozialen Kontexten und die Frage, auf welche Sachverhalte Texte sich beziehen, aber auch das Problem der Projektion eigener Leitbilder auf fremde Kulturen wurden schon in anderen Zusammenhängen betrachtet. Selbstverständlich hat die Verschränkung von Texten mit sozialen Praxisformen eine breite Tradition, die teilweise auch für kulturwissenschaftliche Themen in Frage kommt. Sie ist dort von Belang, wo sie die symbolischen Kulturanalysen bereichern und insbesondere das Wunschbild von klar abgrenzbaren Kulturen korrigieren kann. Das gilt vor allem für die Cultural Studies, die sich völlig unabhängig von der Kulturwissenschaft entwickelten, seit mehr als vierzig Jahren in Großbritannien und den USA betrieben wurden und erst heute im deutschsprachigen Raum breiteres Interesse finden.

Ziele des Instituts in Birmingham

Als frühestes Projekt der praktischen Kulturanalyse sind sie pädagogisch und literaturdidaktisch inspiriert und folgen einem emanzipatorischen Bildungsideal mit politischen Wirkungsabsichten. Die drei wichtigsten Vertreter der Cultural Studies in den fünfziger Jahren waren Richard Hoggart (*1918), der an der Universität Birmingham 1964 das Center for Contemporary Cultural Studies (CCCS) gründen konnte, Raymond Williams (1921–1988), der schon 1958 mit dem Buch Culture and Society 1780–1950 (dt.: Gesellschaftstheorie als Begriffsgeschichte. Studien zur historischen Semantik von Kultur, 1972) hervortrat und Edward P. Thompson (1924–1992) mit The Making of the English Working Class von 1963 (dt.: Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse, 1987), der die Entwicklung einer ‘Geschichte von unten’ vorangetrieben hatte (Textauszüge in der Anthologie: Cultural Studies 1999). Die frühe Arbeit des Instituts war geprägt vom reformerischen Verständnis, von der Herkunft seiner Vertreter aus der Erwachsenenbildung, von der gesellschaftskritischen Haltung und das bestimmte die Auswahl der Themen. Man widmete sich der Erforschung der Populärkultur und der Alltagskultur ohne elitären Anstrich, natürlich besonders den sozial benachteiligten Schichten und ihren kulturellen Formen. Jugendliche Subkulturen, Popmusik, die Arbeiterklasse und das Erziehungssystem gehörten ebenso zu den Themen wie das Volkslied, ethnische Gruppen, Identitätsprobleme oder Nutzungsarten der Medien. Daraus entstand eine Mischung aus literaturkritischer und soziologischer Gesellschaftstheorie.

Stuart Hall

Das Anliegen und die Forschungsprojekte waren, obwohl institutionalisiert, letztlich unakademisch geprägt. Zur bekanntesten Persönlichkeit entwickelte sich der zweite Direktor des CCCS in Birmingham, der aus Jamaika stammende Stuart Hall (*1932), der ganz wesentlich zur Internationalisierung der Cultural Studies beitrug. Unter seiner Leitung begann in den siebziger Jahren die theoretische Ausweitung des Konzepts. Sein Bruch mit dem sozialistischen Populismus wurde forciert durch die Aufnahme des Strukturalismus und später dann auch die Lektüre der Werke von Foucault und Lacan, so dass sich hier Berührungspunkte zum Poststrukturalismus ergaben. Hall publizierte 1980 im Rückblick einen Essay über Cultural Studies: Two Paradigms (dt.: Cultural Studies. Zwei Paradigmen, in: Cultural Studies 1999, 113ff.), in dem er das bis dahin Geleistete zusammenfasste und dabei zwei Phasen erkannte.

Zwei Paradigmen

In der ersten Phase, dem „Kulturalismus“, dominierten die Gesellschaftsanalyse und die Kritik der Massenkommunikation. Williams und Thompson favorisierten einen sehr weiten, umfassenden Kulturbegriff, der nach dem Modell eines radikalen Interaktionismus gebaut war. Nicht die Ökonomie wie bei Marx, sondern die Wechselwirkung aller gesellschaftlichen Praktiken determinierte Kultur. Aber so, dass keinem Element eine allen anderen vorausliegende Funktion zukam. Offen blieb dabei die Beziehung zwischen den Begriffen Gesellschaft und Kultur, die in der englischen Tradition unproblematisch erschien. Erst Stuart Hall eröffnete mit der Zuwendung zur kontinentalen Soziologie eine neue Phase der Theoriebildung. Man las zunächst Max Weber, Georg Simmel und Alfred Schütz (Hörning/Winter 1999, 146–195 und Lutter/Reisenleitner 1999), aber erst mit der Rezeption des Strukturalismus und der Semiotik begann die Erneuerung. Es kam nun zu einer Abgrenzung von humanistischen Kulturdefinitionen und zur Suche nach einer strikt materialistischen. Dazu sollten die Beziehungen zwischen kulturellen und anderen Instanzen in kleinen und klar umgrenzten Strukturen untersucht werden. Am Beispiel von Jugendlichen und ihrem ritualisierten Verhalten zeigte man, wie sie gegen unerträgliche Lebensbedingungen durch symbolischen Widerstand, etwa in der zeitweisen Aneignung von Kleidungsstilen aus der Oberschicht, einen Freiraum schaffen konnten, in dem sie auf sehr kreative Weise Handlungsmächtigkeit zurückeroberten.

Kultur als Kontextbegriff bei Grossberg

Die Auffassung von der relativen Autonomie kultureller Praktiken führte zu einer Verschiebung des Kulturbegriffs. Man erkannte, dass Kultur ein Kampf um Bedeutungen ist und daher das je konkrete Verhältnis von Kultur, Medien und Macht ins Auge gefasst werden muss. Aus der Kultur waren Kulturen geworden, Spezialkulturen der Geschlechter, der Ethnien, politische oder medial vermittelte. Solche Themen sind seither um den Leitbegriff Kontext zentriert. Kultur umfasst die Praktiken und die Produkte, die nur kontextuell, im gelebten Umfeld verfügbar sind. In radikaler Form hat Lawrence Grossberg (*1947) in seinem Essay Was sind Cultural Studies? von 1994 (in: Hörning/Winter 1999) diesen Gedanken der Kontextualität profiliert:

Bei Cultural Studies dreht es sich um das Verstehen der Möglichkeiten, Kontexte durch kulturelle Allianzen und Apparate neu zu schaffen, deren Strukturen (und die zwischen ihnen bestehenden Beziehungen) das Produkt von Machtverhältnissen und – kämpfen sind. Cultural Studies versuchen, politische und kontextuelle Theorien der Beziehungen zwischen kulturellen Allianzen und Kontexten, die die Milieus der menschlichen Machtbeziehungen sind, zu erstellen. Sie sind eine Theorie über die Entstehung, Auflösung und Neuschaffung von Kontexten (zit. Hörning/Winter 1999, 67).

Mehr Freiheit für die Subjekte

Unter einem Kontext versteht Grossberg in erster Ordnung einen speziellen Ausschnitt des täglichen Lebens, der zwischen bestimmten Ausdrucksweisen von Praktiken und sozialen Kräften oder Institutionen eingebettet ist. Im Koordinatensystem von Macht und Widerstand interessieren die kontinuierliche Auseinandersetzung zwischen den Strategien von Starken und Schwachen oder die Aneignungsprozesse medialer Angebote, aber immer nur im jeweiligen genau bestimmten Zusammenhang. Die Subjekte werden also nicht mehr nach ihrer ‘Zugehörigkeit’ zu irgendeiner sozialen Kategorie, wie etwa Alter, Klasse oder Schicht geordnet, sondern in ihrem Verhalten, in ihrer Tätigkeit untersucht. Die situativen Bedingungen und Handlungsweisen sind wichtiger: es geht nicht um soziale Kategorie, sondern um soziale Formation. Kultur ist deshalb auch nicht exakt definierbar, sondern inkonsistent und immer anders, sie ist prinzipiell umkämpft. Sie spiegelt nicht einfach eine Sozialstruktur, noch determiniert sie das Verhalten der Subjekte. Der Einzelne ist aktiv, kann produktiv eingreifen, er ist ein Agent der Kultur. Die Verhältnisse sind zwar konstruiert, aber dennoch immer formbar (Lindner 2000).

Kontextualismus und recorded culture

Während die frühen Theorien Kultur entlang kategorialer Grenzen bestimmten, betont heute der Kontextualismus das Gefüge von Praktiken, die zwar mit der Lebensweise ihrer Akteure in einer Verbindung stehen, aber grundsätzlich variabel sind. Die Cultural Studies eröffnen ein umfassendes Spektrum an Produktivität, in der sich lokales Leben verdichtet, in der auch Routinen immer wieder aufbrechen und neue Differenzen markiert werden. Am Beispiel der Medien und der mittlerweile dominanten Medienanalysen zeigt die moderne Forschung, wie die Individuen Superstrukturen unterlaufen, gegen die sie angeblich nichts ausrichten können. Die Medien liefern Formungs- und Gestaltungsmaterial für das Leben, aber es gelingt ihnen trotzdem nicht, totale Homogenisierung oder Standardisierung zu erzeugen. Zwar sind immer mehr Bereiche unseres Alltags von medial aufbereitetem Wissen durchdrungen und vorstrukturiert – das bezeichnet der Begriff „recorded culture“ –, aber dennoch ist ein deterministischer Bezug nicht nachweisbar. Und die Aneignungspraktiken, mit denen Konsumenten die Produkte in ihren Besitz nehmen, kann kein Überwachungsorgan vollständig kontrollieren.

Popularkultur und Medien bei John Fiske

An der Schnittstelle von strukturellen Bedingungen und Lebensweisen sind die Studien zur Populärkultur (Fiske 2000) angesiedelt, die gerade die Gesamtheit moderner Lebensformen erforschen wollen. Diese neue Publikumsforschung betrachtet Konsum gleich welcher Art als einen Akt der Produktion, nicht der Reproduktion. Sie befreien die Zuschauerschaft aus ihrer passiven Rolle in der Soziologie und denunzieren sie nicht mehr als Masse. Vielmehr wirken auch hier komplexe Vermittlungen zwischen den in Diskursen lokalisierten Medieninhalten und den gleichfalls diskursiv geordneten lebensweltlichen Zusammenhängen (Hepp/Winter 1997 und Hepp 1999; Lindner 2000).

Aufgezeichnete Kultur

Es bleibt festzuhalten, dass im Umkreis der Cultural Studies ein Kulturbegriff konturiert wird, der von der modernen Gegebenheit einer vorwiegend aufgezeichneten Kultur ausgeht. Die „recorded culture“, entweder in Printerzeugnissen, Filmen oder elektronischen Medien, ist der Sektor, der heute am nachhaltigsten auf die Lebenswelt wirkt und in seinen materiellen wie auch symbolischen Bedeutungen für die Lebensweise gesellschaftlicher Gruppen wahrgenommen werden muss. Daraus ergibt sich auch die bisher eher schmale Rezeption der Studies in Deutschland. Sie beschränkte sich auf die Medienforschung (Hepp 1999), auf die Ethnologie (Kaschuba 1999), auf die Anglistik und Amerikanistik (Kramer 1997) und gewinnt gerade in der Soziologie an Attraktivität (Hörning/Winter 1999 und Lutter/Reisenleitner 1999 sowie Winter 2001).

Kritik der Cultural Studies

Nicht zu vernachlässigen sind aber einige fragwürdige Aspekte. Wer einen Reader mit dem Titel Cultural Studies aufschlägt, kann darin höchst unterschiedliche Arbeiten finden. Themen wie Rasse, Sexualität, Kulturpolitik, Cyberkultur, Kolonialismus, Quiz-Shows oder Soap Operas stehen nebeneinander. Diese bizarre Vielfalt der Arbeitsfelder resultiert aus dem grenzenlosen Kulturbegriff und der Verweigerung einer Kontextualisierung auf der Theorieebene. Das methodische Verfahren lässt Komplexität nur auf der unteren Ebene zu, eben bei der Beobachtung von kulturellen Praktiken. Dort soll möglichst viel Wissen aus den sozialen Formationen einbezogen werden. Dann aber fehlt der zweite Schritt, der die Kulturwissenschaften erst legitimiert. Seit ihnen die marxistische Gesellschaftstheorie abhanden gekommen ist, bleiben die Cultural Studies weitgehend bei den Herrschenden und Beherrschten als letzten Bezugspunkten ihrer Analysen stehen. Eine zweite Schwierigkeit bieten die zentralen Termini Alltag und Formation. Ihr Doppelcharakter wird nicht als Problem gesehen, die enge Verwobenheit von Praxis und Wissenschaft nicht reflektiert (Kaschuba 1999, 131). Und als eine Formation bezeichnet man auch die Art und Weise der Forscherorganisation. Durchaus selbstkritisch sehen manche auch die Zirkularität des radikalen Kontextualismus (Hepp 1999, 250ff.). Darin verschärft sich die genannte Verweigerung der Theorie zum Paradox. Die Notwendigkeit des Kontextualisierens wird durch ihre schon gewusste faktische Undurchführbarkeit unterlaufen und wo sie gelingen könnte, wäre sie immer nur ein Segment des tatsächlich abwesenden gesamten Zusammenhangs, auf den es ja ankommt. Einen Ausweg sucht der Soziologe Hörning. Seine These von der Kultur als einer „wissensunterlegten sozialen Praxis“ (Hörning/Winter 1999, 98) in der Formel vom „Konnektionismus“ bleibt bei der Forderung nach einer völlig neuen Soziologie des Wissens stehen, hat damit wohl aber die Richtung angegeben, in der sich die Cultural Studies bewegen müssten.

Post-Colonial Theory

Ganz wesentlich profitierte ihre Praxis auch von der Affinität zur Post-Colonial Theory (Childs/Williams 1997, 75 und Moore-Gilbert 1997). Nicht nur die Themen, auch die Biographien ihrer Vertreter verweisen darauf. Orientiert an der eigenen Lebensgeschichte skizzierte schon Stuart Hall im Anschluss an Schriftsteller der ‘Dritten Welt’ ein Identitätsverständnis, das den „neuen Ethnizitäten“ Rechnung trug. In vermehrtem Maße prägen Brüche und Diskontinuitäten gerade bei Migranten die einzelnen Lebensläufe und fordern andere Auffassungen von Authentizität. Maßgebend sind jedoch die aus der dritten Welt stammenden Kosmopoliten (Hansen 2000, 347ff.).

Begriff Postkolonialismus

Die Bezeichnung Postkolonialismus als Begriff für die kulturelle Emanzipation der ehemaligen Kolonien ist in mehrfacher Hinsicht problematisch. Zum einen kommt darin die historische Situation der ehemals besetzten Länder, die politisch unabhängig geworden sind, immer nur im Bezug auf ihre koloniale, also fremd dominierte Vorgeschichte zum Ausdruck, so dass die Zeitgeschichte ausschließlich als Verarbeitungsphase des nachwirkenden Kolonialismus erscheint. Zum anderen erfasst der Terminus einander überlagernde Zustände, historisch, funktional oder geographisch, wenn man bedenkt, dass Emanzipationstendenzen schon während der Kolonialzeit vorhanden waren oder aber zahlreiche Probleme der ehemals Kolonialisierten entweder durch neokoloniale Strategien fortgeschrieben oder durch die verstärkten Migrationsbewegungen in die westlichen Staaten reimportiert werden.

The Empire Writes Back

Flankiert wird diese seit Jahrzehnten anhaltende kulturelle Unabhängigkeitsbewegung auch von der Selbstkritik westlichen Denkens. Über die Analyse des kolonialen Diskurses in den westlichen Imperien entsteht eine Reformulierung der Literaturtheorie, die praktische Konsequenzen einklagt. Salman Rushdies Formel „The Empire Writes Back“ (Ashcroft 1989) meint nicht nur den aktiven Eintritt der ehemals unterdrückten Literaturen in die Weltliteratur, sondern den Anspruch auf Veränderung des westlichen Kanons durch die Berücksichtigung ganz anderer Mentalitäten. Hier treffen die ethnologische Krise der Repräsentation und Grundgedanken des Poststrukturalismus aufeinander. Sie vereinen sich im Werk von Edward W. Said (1935–2003), der sie in eine literaturtheoretisch geleitete Interpretationskunst umgesetzt hat.

Edward W. Said

Said, der in den USA als Komparatist lehrte, begründete mit seinem Buch Orientalism (1978, dt.: Orientalismus 1981 und 1995) den postkolonialen Diskurs im eigentlichen Sinne. Ganz ähnlich wie Geertz behandelt Said die Repräsentation des kulturell Anderen im Text. Er greift mit dem Titel des Buches, der die seit dem 19. Jahrhundert bestehende akademische Disziplin der Orientalistik bezeichnet, eine diskursive Konstruktion auf, die einen fundamentalen Einfluss auf das westliche hegemoniale Denken ausübte. Der Orientalismus antworte mehr der eigenen Kultur als seinem mutmaßlichen Objekt, das er nämlich erst über bestimmte Verfahren herstelle. Dieses Set von Beziehungen, das zwischen der okzidentalen und der orientalen Kultur aufgespannt wurde, also zugkräftige Stereotype wie Despotie, Korruption oder Brutalität, habe für eine fortgesetzte Projektion gesorgt, die den Orient gleichsam ‘orientalisiert’ hätte. Das so entstandene diskriminierende Bild leite sich aus bewussten wie auch unbewussten Manipulationen her, Said verdächtigt sogar das gesamte Fach der Komplizenschaft, und es lasse sich in ganz verschiedenen Textsorten explizit und implizit nachweisen. Beteiligt waren daran neben wissenschaftlichen Werken auch Reiseberichte, journalistische Texte und religiöse Studien seit der Romantik, die ihren Rassismus hinter einem mythischen Bild vom guten Orient versteckten (Said 1981, 32, 115). Was Said exemplarisch am Orientalismus nachweist, kann man verallgemeinernd auf die Repräsentation fremder Kulturen übertragen. Denn solche Unterstellungen oder dominante Vorstellungsmuster üben eine konkrete Funktion aus. Sie sollen die eigene Identität festigen, indem sie die Überlegenheit über die letzten Endes weniger zivilisierten Völker festschreiben. Mit dem Orientalismus entlarvt Said also bestimmte Verfahren der politisch-kulturellen und geistigen Landnahme.

Romane des 19. Jahrhunderts und der Imperialismus

In seinem 1993 erschienenen Buch Culture and Imperialism (dt.: Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht, 1994) geht Said über die Ideologiekritik hinaus und tauscht das Konzept aus im Hinblick auf eine postkoloniale Literaturtheorie. Mit seiner umfassenden Theorie der Wechselwirkung von essentialistischen Zuschreibungen – die Europäer brauchen Orientalen wie auch umgekehrt – dringt Said zu einer „kontrapunktischen“ Lesart der Literatur vor (1994, 92ff.). Er beschäftigt sich ausschließlich mit dem Kanon westlicher Literatur und analysiert Romane des 19. und 20. Jahrhunderts. In Texten von Jane Austen, Charles Dickens, Joseph Conrad, Rudyard Kipling sieht er eine spezifisch imperiale Wahrnehmungsweise am Werk, die nicht einfach ideologiekritisch angeprangert werden kann. Am Beispiel von Jane Austens Roman Mansfield Park (1814) zeigt Said, dass die Sklavenplantage in der Karibik elementar zum englischen Landsitz gehört, dessen Lebensweise von den brutal erwirtschafteten Erträgen abhängt. Wichtig ist nun die Art und Weise, in der solche Referenzen auftreten, denn aus diesen Modi schließt Said auf die „kulturelle Topographie“, auf die „Strukturen der Einstellung und Referenz“, wie er in Anlehnung an Raymond Williams schreibt (94). Der Text geht nämlich nicht in der Darstellung des Imperialismus auf, sondern enthält im Umgang mit den Hinweisen auf die außereuropäischen Ländereien zugleich eine subversive Seite, indem er ihre Kontingenz mit darstellt. Wenn also der Interpret solcher Texte immer nur die eine Seite der Repräsentation wahrnimmt, wird er die tatsächliche Komplexität, die sich in den literarischen Diskurs, gerade auch in seine imperiale Wahrnehmung eingeschrieben hat, verfehlen. Insofern kann die postkoloniale Lesart nachweisen, wie stark die europäische Kultur von nicht-europäischen Einflüssen geprägt war und ist. Die postkoloniale kontrapunktische Lektüre trägt bei zur Erkenntnis des Problems zwangsläufiger Ein- und Ausgrenzungen. Sie bleibt dabei nicht stehen, sondern will die „Komplementarität und Wechselseitigkeit“ (148) dieser Erfahrungen zeigen.

Postkoloniale Lektüre

Für Said ist die postkoloniale Lektüre eine streng kontextuelle Aufgabe. Sie will den Imperialismus und den Widerstand gegen ihn nachweisen, indem sie das in die Lektüre hineinnimmt, was einst gewaltsam aus den Texten ausgeschlossen wurde (112). So kann man erklären, wie die großen englischen Romane die „konsolidierte Vision“ (123ff.) des Imperialismus herstellen. Sie verfestigten die Gefühle, Einstellungen und Referenzen. Ganz ohne Zweifel hat die Methode, zentrale Werthierarchien und moralische Geographien der westlichen Literatur zu dekonstruieren bereits Schule gemacht. Und sie ist ein Muster kulturwissenschaftlicher Literaturinterpretation, weil sie das symbolische Netz, von dem schon die Rede war, in der Verschränkung von sozialer und textueller Realität vorführt. Selbst dann, wenn Kolonien nicht beharrlich ins Blickfeld treten, sanktionieren die Texte einen „räumlichen Sittenkodex“ und konsolidieren also Autorität. Sie eröffnen eine anspruchsvolle und weit subtilere Wahrnehmung der damaligen sozialen Welt als sie die bloß kulturkritische Haltung zulässt, denn gleichsam hinter dem Rücken schleicht sich der imperiale Diskurs in sprachliche Strukturen ein. Zugang zu den kulturellen Mustern, den Wahrnehmungen und Erfahrungswelten gewinnt der Leser nur durch die „langsame Analyse“, die es erlaubt, Romane wie die Jane Austens auch „von innen wahrzunehmen“ (148f.). Denn die vormals erste Erfahrung ist nur in der vom Text verschlüsselten zweiten zugänglich. In seinem zentralen Kapitel Erzählung und sozialer Raum verdeutlicht Said den kulturwissenschaftlich bedeutsamen Impetus seines Buches. Der Zusammenhang von Kultur, Roman und Imperialismus ist ein spezifisch englischer Horizont, der mit dem einstigen Weltreich gegeben war. Insofern reflektiert die Theorie die Individualität kultureller Phänomene. Aber indem sie beispielhaft die Durchlässigkeit literarischer Texte für ein größeres Spektrum von kulturellen Interaktionen vorführt, liefert sie ein Verstehensmodell für die Positionierung von poetischen Texten. Sie sind Teil einer Rhetorik der Selbstdefinition, die Said in ihren diskursiven Mechanismen aufschlüsselt. Ihre Repräsentationen sind eben nicht harmlos und ihre Verfahren sind kulturwissenschaftlich relevant. Said hat die prinzipielle Unhintergehbarkeit von Repräsentationen zwingend belegt und klar gemacht, das wir einen interesselosen Beobachterstandpunkt beim Beurteilen von Kulturen nie erreichen können.

Interkulturelle Lebensläufe

Waren Saids Lektüren noch auf die Analyse der vom Kolonialismus geprägten englischen Klassiker beschränkt, so interessierte sich die nachfolgende postkoloniale Literaturtheorie für die andere Seite des Themas. Längst dominiert die Aufwertung der englischsprachigen Literaturen aus den ehemaligen Kolonien und die Lebensläufe von Autoren zwischen den Kulturen sind zu einem eigenständigen Thema geworden (Thum/Keller 1998 und Interkulturelle Literatur in Deutschland 2000). Als gemeinsamer Fluchtpunkt von Biographien, die Salman Rushdie, Toni Morrison, Nadine Gordimer und viele andere Autoren wie etwa Elias Canetti oder Irene Dische kennzeichnen, dient die Debatte über Folgen und Probleme der Interkulturalität.

Homi K. Bhabha

Sie entzündet sich an der Erkenntnis von der Ambivalenz des kolonialen Diskurses. Die Beziehungen zwischen Herrschern und Beherrschten sind komplexer als die Ideologiekritik will und werden daher psychoanalytisch betrachtet. Es geht um die Überwindung von Polarisierungen wie ‘Selbst versus Anderer’ oder ‘Drinnen versus Draußen’ und damit auch um eine genauere Untersuchung der verschiedenen Spielarten von Repräsentation. Eine wichtige Variante der Ambivalenz entdeckte der in den USA lehrende Inder Homi K. Bhabha (*1949), der die Identitätsfindung unter postkolonialen Bedingungen problematisiert. In seiner Aufsatzsammlung The Location of Culture 1994 (dt.: Die Verortung der Kultur 2000) gibt er mehrere Stichworte für eine mit interkulturellen Ansätzen angereicherte Literaturtheorie.

Mimikry

Anstatt Gegensätze herauszustellen, sucht er nach Formen des Unangeeigneten wie etwa der Mimikry, also Verhaltensweisen, bei denen man nicht mehr zwischen Unterwerfung und Herrschaftsanspruch unterscheiden kann und mit denen Autorität gekonnt unterlaufen wird. Dieses Gebiet zwischen Ernst und Posse (Bhabha 2000, 127ff.), für das sich die „Chamäleon-Menschen“ entscheiden, ist als Figur der Repräsentation wichtig, weil sich an ihr die Zeichen des kulturellen und ethnischen Vorrangs gegenseitig aufreiben (129). Die englische Literatur sei aber voll solcher „mimic men“, wie der Titel eines Romans von V. S. Naipaul aus dem Jahr 1967 lautet (Ashcroft 1989, 88). Sie seien „autorisierte Versionen der Andersheit“, so Bhabha (131), weil sie, als Figuren der Verdoppelung, genau die Aneignung der kolonialen Haltung zum Teil wieder umkehren, indem sie ihre partielle Präsenz produzieren. Sie sind fast dasselbe, aber eben nicht ganz und kultivieren darin die Differenz.

Hybride Kulturen

Das wichtigste Konzept verbirgt sich hinter dem Begriff Hybridität oder hybride Kulturen (vgl. die Anthologie von 1997). Wenn nämlich die angegebene Ambivalenz sich innerhalb des Subjekts auswirkt und sowohl identitätsstiftende als auch bedrohliche Züge annimmt, dann muss man essentialistische Vorstellungen von Kultur aufgeben. Es gibt demnach kein unabhängiges Gebilde namens ‘Kultur’, das sich durch feste Grenzen oder einen gleich bleibenden Kern auszeichnet. Vielmehr sind Kulturen immer schon gemischt und bestehen aus vielfältigen Identitäten, von denen die nationale nur eine unter anderen ist. Mit dem Terminus wird Kultur als ein „Ort des Widerstreits zwischen Repräsentationen von Welt, Subjekt, Geschichte usw.“ (Hybride Kulturen 1997, 11) entworfen. Und die Vorstellung von einer festen Kultur wird verflüssigt, wenn die Differenz sich nicht im Äußeren manifestiert, sondern intern jeweils neu markiert werden muss. In Anlehnung an die psychoanalytische Literaturtheorie, die aus dem Werk von Jacques Lacan entwickelt wurde, lokalisiert Bhabha die Kultur in den Suchbewegungen der Einzelnen, die ihre Verortung jeweils neu leisten. Modell stehen dabei die Identitätsprobleme von Minoritäten, die sich unter oft schwierigen Bedingungen artikulieren und durch das ständige Hinterfragen konstituieren.

Übersetzen zwischen den Kulturen

Literaturtheoretisch bedeutsam bleibt an dieser Debatte der Hinweis auf die Überlagerung von Kulturelementen. Die Arrangements postkolonialer Texte bedienen sich höchst verschiedener Semantiken, die, wie Salman Rushdie sagt, vom „Übersetzen“ zwischen den Kulturen profitieren. Sie leben von den veränderten und sich verändernden Geschichten, von der Umdeutung bekannter Poetiken und der Vermischung mit ‘eigenen’ literarischen Traditionen. Und sie zeigen das Aushandeln von Identität, indem sie entsprechende Interaktionsverläufe darstellen. Die Kulturwissenschaft wird so bereichert um die Erkenntnis von der Durchlässigkeit literarischer Texte für ein breites Spektrum von Zugehörigkeiten. Literatur erscheint als geeignetes Medium für die probeweise Darstellung von Vorgängen der Akkulturation, also der Übernahme von Elementen anderer Kulturen durch die eigene (Thum/Keller 1998). Sie partizipiert damit an einem grundsätzlich veränderten Kulturbegriff, der Vorstellungen von Ursprünglichkeit und Reinheit verabschiedet hat. Indem die Literatur die Zone zwischen den Kulturen als Ort des Aushandelns von Differenzen nutzt, kommt ihr eine Schlüsselrolle zu beim Vermessen des neuen Geländes („cognitive mapping“, Bachmann-Medick, in: Böhme/Scherpe 1996, 60ff.).

Ästhetische Standards und Interkulturalität

Die Folgen für die Wissenschaften sind noch abzuwarten. Projekte wie die interkulturelle Germanistik, die etwa Erzählhaltungen als Verfahren für die Verarbeitung von Hybridität untersuchen und kulturell bedingten Rezeptionen nachgehen, versuchen bereits, die Kulturdifferenzen aufzuarbeiten (Intercultural German Studies 1999). Immer wieder wird dabei deutlich, dass gerade anspruchsvollen Texten eine kulturerschließende Leistung zukommt. In ihren ästhetischen Standards stellen sich Bezüge zur kulturellen Mentalität her, so wie den Wissenschaften bestimmte ‘Erzählungen’ vorausliegen, die deren kognitive Stile prägen. In ihrer gegenwärtigen Gestalt ist die postkoloniale Literaturtheorie noch zu sehr auf die Bedürfnisse westlicher Universitäten zugeschnitten und müsste die kanonischen Autoren und Diskurse fremder Kulturen stärker berücksichtigen (Gandhi 1998).

Einführung in die Kulturwissenschaft

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