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I. Grundlagen

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Seit mehr als dreißig Jahren streiten die Literaturwissenschaftler über Methoden und Theorien. In diesen Debatten übt der Begriff Kulturwissenschaft zur Zeit einen ungewöhnlichen Reiz aus. Die nachhaltige Verunsicherung durch die Reformprogramme und immer neue Veränderungsvorschläge zwingt zur Suche nach den tatsächlich innovativen Konzepten und ihren fachlichen Umsetzungen. Wenn nun die neuerliche Einführung eines Begriffes besonders attraktiv erscheint, so muss einigen Problemen der Disziplinen und der gegenwärtigen Ordnung der Wissenschaften damit eine tragfähige Behandlung widerfahren, denn anders würde sie sich kaum lohnen.

Reformen

Die philologische und hermeneutische Grundlage der Literaturwissenschaften wurde seit den sechziger Jahren immer wieder in Frage gestellt und durch konkurrierende Vorschläge bereichert. Beginnend mit den Reformdebatten um die Vernachlässigung von historisch-soziologischen Rahmenbedingungen der Literatur empfahlen sich die sozialgeschichtlichen Methoden. Durch die Erweiterung der Textwissenschaften um ihre gesellschaftlichen Kontexte war der hergebrachte Gegenstandsbereich einerseits überschritten, andererseits jedoch auf bestimmte Themen wie sozialer Status, Klasse, Ideologie eingeschworen. Daneben war auch den wirkungs- und rezeptionsgeschichtlichen Betrachtungen ein langanhaltender Erfolg beschieden. Aber schon in den siebziger Jahren erschütterte der sogenannte „linguistic turn“ ihre unangefochtene Stellung. Mit der Erkenntnis von der Sprache als einer unhintergehbaren Bedingung des Denkens ließ sich die Linguistik als Königin der Wissenschaften feiern und bewies, dass sprachliche Kategorien auch für das wissenschaftliche Denken essentiell sind. Sämtliche Ordnungen des Wissens, das ist seither unbestritten, besonders natürlich das überlieferte historische Wissen, sind sprachlich vermittelt und existieren nur in dieser Form. Das erklärt auch den Erfolg des Poststrukturalismus und der Dekonstruktion in den achtziger Jahren, die bis in kleinste Textverfahren hinein die Rhetorizität der Kommunikation nachwiesen.

Methodendebatten

Der hier nur kurz umrissene Hintergrund der Methodendebatten hat Auswirkungen auf die gegenwärtige Lage. Zum einen kann man die Kulturwissenschaft als ihre Fortsetzung oder auch Weiterentwicklung verstehen. Dabei greift sie vor allem den ungelösten Widerspruch zwischen disziplinar grundlegenden Methoden und dem kulturellen Legitimationsproblem jeder Theorie auf. Aus den enttäuschenden Erfahrungen mit dem Methodenpluralismus, der nur vereinzelt konzeptionelle Lösungen für die Legitimationsfrage bieten konnte, entstand die Suche nach Theorien, die das literaturwissenschaftliche Arbeiten auch in wissenschaftstheoretischer Hinsicht festigen können.

Theorien

In diesem Sinne sind die kulturwissenschaftlichen Literaturtheorien nicht nur ein weiterer Schritt in der endlosen Methodendebatte, sondern ein Versuch, übergreifende Konzepte bereitzustellen, die zu einer Umformung des Verständnisses von der Literaturwissenschaft führen (Bogdal 1990).

Transdisziplinarität

Zum andern berührt das natürlich auch die Verbindungen zu anderen Wissenschaften. Oft wurde gerade bei den Methodendebatten zurecht die fehlende Interdisziplinarität beklagt und die umgesetzten Einzelprojekte kamen meist nicht über eine additive Reihung von Beiträgen in Sammelbänden hinaus. Die erstrebte übergreifende Perspektive erreichten immer nur einzelne, besonders ausgewiesene Forscher. Das hatte auch mit der Ausrichtung der Methoden selber zu tun und soll nunmehr, in der Phase der Entwicklung von Theorien, zu einer neuen Herangehensweise führen. Zwar waren die Kulturwissenschaften zunächst in ihrer Reichweite auch nur von disziplinären Vorgaben bestimmt; heute ist aber die Transdisziplinarität das ersehnte Ziel jeder Beschäftigung mit theoretischen und praktischen Fragen.

Während die bekannten Disziplinen ihre historische Identität auch durch eine sorgfältige Begrenzung der Gegenstände, Methoden und Zwecke sichern konnten, steht heute die Erweiterung der wissenschaftlichen Wahrnehmung auf der Tagesordnung. Und das bedeutet das Überschreiten von klar abgesteckten Grenzen und die Hinwendung zur Forschung als einer Tätigkeit, die Problemlösungen erarbeitet. Die traditionellen Methoden und Theorien bündelt man zu einem neuen Forschungsprinzip, das nicht mehr ein bestimmtes System bevorzugt, sondern lediglich eine praktische Form für die Arbeit vorgibt. Das kann zur Vernachlässigung bestimmter Fakten und zur Überwindung der jeweiligen historischen Ausbildung einer Disziplin führen, sobald sich neue Gegenstandsbereiche bilden. Angrenzende Disziplinen legen diese neuen Gegenstände nahe oder überschneiden sich mit ihnen. Damit lässt sich natürlich nicht die längst verlorene Einheit der (alten) geisteswissenschaftlichen Fächer wiederherstellen. Vielmehr soll eine neue Praxis entstehen, die den Anspruch auf Einheit der Wissenschaften auf dem Wege ihrer praktischen Angemessenheit zur Geltung bringt (Einheit 1991). Das ist auch der Grund für die gerade begonnene Umgestaltung von Studiengängen und die Einrichtung neuer Institute, die bekannte Organisationsstrukturen ablösen.

Wissenschaftsbegriff

Die Transdisziplinarität ist sicher auch ein Reflex auf den Wissenschaftsbegriff, den die Postmoderne wesentlich geformt hat. Kombinationen von Heterogenem, Pluralität von Wissensformen, Lebensformen und kulturellen Orientierungen, Ästhetisierung der Lebenswelt – das sind auch Tendenzen bei wissenschaftstheoretischen Entwicklungen. Weitgehende Vorstellungen fügen den Hybrid-Bildungen, den Verschmelzungen von Theoremen unterschiedlicher Herkunft, noch Kreativitätsprogramme hinzu, die wissenschaftliche Innovation mit künstlerischen Prozessen erklären und fördern wollen. Somit rückt die Geschichtlichkeit der eigenen Praxis in den Mittelpunkt des Interesses. Kulturwissenschaftliche Fragestellungen berücksichtigen daher immer das eigene Handeln als ein kulturelles oder kulturell bedingtes, was dazu führt, dass sie nicht nur das eigene Tun ständig überprüfen, sondern auch den institutionellen Rahmen, in dem es seinen Platz findet.

Definition der Kulturwissenschaft

Die meisten gängigen Definitionen der Kulturwissenschaft setzen nicht bei der Frage nach den Gegenständen oder Objekten an, sondern beim wissenschaftsgeschichtlichen Status der Theorien. Demnach bildet die Kulturwissenschaft eine Metaebene der Reflexion, eine Steuerungsebene für die Modernisierung der Geisteswissenschaften und funktioniert wie eine Art Moderation der multiperspektivischen Vernetzung von Einzelergebnissen aus Disziplinen, die normalerweise nicht ohne weiteres zusammenfinden würden (Böhme/Scherpe 1996, 12).

Ein Verfahren

Diese Definition, die auf ein Verfahren abhebt, wäre dann um eine andere zu ergänzen, die eine eigene Disziplin namens Kulturwissenschaft bezeichnet (Böhme/Matussek/Müller 2000). Die Begriffsverwendung im Singular verweist dann auf den Versuch der Etablierung einer neuen Wissenschaft. Die mittlerweile hochspezialisierten Fächer (vor allem Ethnologie, Fremdsprachenphilologien, Germanistik, Geschichte, Kunstgeschichte, Medienwissenschaft, Musikwissenschaft, Philosophie, Politik, Psychologie, Religionswissenschaft, Soziologie, auch Wirtschaftswissenschaften) samt ihren wissenschaftshistorischen Filiationen sollen in den Hintergrund treten, damit sich ein interdisziplinär ausgerichtetes Fach mit eigenem Studieninhalt bilden kann.

Ein Fach?

Allerdings herrschen bei der Bestimmung der Lehrinhalte und der konkreten Studienbereiche noch die unterschiedlichsten Auffassungen. Sie lehnen sich im allgemeinen an die zu Unrecht vernachlässigte interkulturelle Germanistik an, die hier mit wichtigen Vorschlägen aufwarten kann, weil sie immer schon in anderen Kontexten arbeitet (Intercultural German Studies 1999).

Kulturwissenschaft als fächerübergreifendes Regulativ

Dagegen bezeichnet die hier verwendete Definition eine transdisziplinär ausgerichtete Forschungspraxis bei ansonsten unveränderten Disziplinen. Unter dem Terminus Kulturwissenschaft versteht diese Einführung ein fächerübergreifendes Regulativ. Denn die ständig zunehmende Spezialisierung der Fächer verlangt nach Formen der Integration. Insofern reagiert die Kulturwissenschaft auf Probleme aus den Fächern, die eine Behandlung unter möglichst vielen Gesichtspunkten benötigen. Kulturwissenschaft ist dann die Bezeichnung für eine bestimmte Praxis, die sich an speziellen Problemstellungen orientiert (Appelsmeyer 2001). So gesehen wäre sie zunächst einmal eine Perspektive für die Zukunft der bestehenden Geisteswissenschaften, eine Leitlinie für die Auswahl neuer Themen und Theorien in der Forschung, die sich dann auch in der weiterhin disziplinär geordneten Lehre niederschlagen könnte (Oexle 1996). Freilich ist der Status der Kulturwissenschaft somit ein weitgehend virtueller; man muss jedoch den hohen selbstreflexiven Zustand der Theorien begreifbar machen und trotzdem die Klippe einer neuen Universalwissenschaft vermeiden. Eine erste und grundlegende Bestimmung kann daher nur von diesen Voraussetzungen ausgehen.

Verhältnis zur eigenen Wissenschaftlichkeit

Der Begriff Kulturwissenschaft umfasst auch das Verhältnis von Disziplinen zu ihrer eigenen Wissenschaftlichkeit. Das beginnt schon bei der Prüfung der Gegenstände, mit denen sie sich befassen und reicht bis zur Kritik am hervorgebrachten Wissen (Daniel 2001), eben aus der Erkenntnis heraus, dass die Gegenstände nie einfach gegeben, sondern von den Disziplinen geformt, von ihrem Zugriff abhängig sind. Er bezeichnet die Suche nach einem epistemologischen Standpunkt, von dem aus unsere Wissenschaftskultur sich selber in ihrer spezifischen Wahrnehmungsfähigkeit, aber auch in ihrer historischen Bedingtheit und Konstruktion kritisch beobachten kann. Gerade das erinnert an die Kulturdebatte um 1900, die schon einmal eine integrative Wissenschaft propagiert hatte (Oexle 1996; Daniel 2001). An einige haltbare Errungenschaften knüpft auch die vorliegende Einführung an.

Ein Neubeginn ruft immer Irritationen hervor und die Orientierungsprobleme äußern sich dann in Warnungen vor dem Modischen oder Ephemeren, dem die glorreiche Vergangenheit einer glänzenden Fachgeschichte nicht leichtfertig geopfert werden dürfe. Aber gerade die letzten beiden Jahrzehnte haben den Geisteswissenschaften einen schon nicht mehr für möglich gehaltenen Prestigegewinn erbracht, der nicht zum geringsten auf die Erneuerung in theoretischer Hinsicht zurückgeht. Zwar hängt die erschreckende Freigebigkeit, mit der viele Wissenschaftler nunmehr bereit sind, ihre disziplinären Ursprünge gegen die verheißungsvolle Selbstbezeichnung Kulturwissenschaftler einzutauschen, ganz sicher mit dem unaufhaltsamen Aufstieg der Wissenschaftsgeschichte zusammen. Aber man muss doch gestehen, dass die Öffnung für Gegenwartsprobleme und ihre Rückbindung an die historische Dimension, dass die verstärkte theoretische Anstrengung im Konnex mit der geschichtlichen Rückversicherung zu einer neuen Beweglichkeit der Geisteswissenschaften entscheidend beitrug und das Erscheinungsbild so mancher Fächer zum Besseren veränderte.

Neue Zuständigkeit der Literaturtheorie

Im Zuge der transdisziplinären Forschungspraxis tritt die Literaturtheorie in ein neues Stadium ein und muss daher unerwartete Ansprüche erfüllen. Sie muss die unhintergehbare sprachliche Verfasstheit allen Wissens und seine textuellen Darstellungsweisen reflektieren, die rhetorischen Strategien und Normen von Begründungen, aber auch das Zusammenspiel von Texten und Begleittexten. Schon auf dieser Ebene verzeichnet sie eine Erweiterung der Zuständigkeit. Darüber hinaus tendieren radikalere Auffassungen zu der These, bei ‘Kultur’ handle es ich immer um einen symbolischen oder textuellen Zusammenhang; man komme also bei der Erschließung kultureller Phänomene nie ohne Handwerkszeug aus, das dem Arsenal der Text- und Zeichentheorien entstammt, wenn nicht der hermeneutischen Interpretationskunst. Gerade solche umfassenden Theorien wenden textwissenschaftliche Verfahren auf kulturelle Phänomene an, die traditionell nicht bei den Literaturwissenschaften angesiedelt sind. Im Gesamtgefüge der Wissenschaften bedeutet diese Entwicklung nicht nur eine Aufwertung der Gegenstände, mit denen sich die Literaturwissenschaften befassen, sondern auch eine Wende in der Einschätzung ihrer Stellung. Denn das Ungleichgewicht, das sich bei den verschiedenen Stadien des Theorieimports in der Vergangenheit abzuzeichnen begann, ist dadurch korrigiert und man kann mindestens auf diesem Sektor von einem Theorieexport in angrenzende Fächer sprechen.

Theorie und Kompetenzen

Die Beschäftigung mit Literaturtheorien ist deshalb längst kein abgehobenes Ansinnen kleiner Spezialistenzirkel mehr, sondern eine Voraussetzung für die Teilnahme am transdisziplinären Gespräch. Die Kompetenzen und die analytischen Fähigkeiten, zu denen die Literaturtheorie erzieht, sind auch diejenigen, die beim Dialog zwischen den Fachsprachen eine wichtige Rolle spielen. Anders gesagt: gegen das obsolete Anhäufen von schnell überholtem Sachwissen hilft nur das Training von Reflexions- und Theoriekompetenz, mit dem auch die unvermeidbare Komplexität, auf die man bei den Sachthemen stößt, zu bewältigen ist. Und dass hierbei die Literaturtheorien hilfreich sein können, wird niemand bestreiten, der in ihnen auch Verfahren des Umgangs mit kognitiven Strukturen zu sehen vermag.

Auswahl der Arbeitsfelder

Eine kurze Begründung für die Auswahl der Arbeitsfelder kulturwissenschaftlicher Forschungen folgt aus den genannten Prämissen und schließt auch die Anordnung mit ein: die ersten zwei Kapitel entwerfen den institutionellen und kontextuellen Rahmen der Kulturwissenschaften. Sie konturieren die wissenschaftsgeschichtlichen Bedingungen für neuere und neueste Literaturtheorien. Die Kapitel III–VII versuchen eine gegenstandsbezogene Begründung für ausgewählte Literaturtheorien. Die Kapitel III und IV widmen sich der Anthropologie und ihrer Ausdifferenzierung. Sie belegen, wie man die Literatur von anderen Formen kulturellen Wissens theoretisch abgrenzen und ihnen gegenüber legitimieren kann. Mit den Gender Studies greift die Darstellung im Kapitel V ein herausragendes Beispiel für typisch kulturwissenschaftliche Themen auf und erklärt ihre charakteristische Aufmerksamkeit für die Verbindung von realen und symbolischen Ordnungen. Die Gedächtnistheorien und die Intertextualität, in den zusammengehörenden Kapiteln VI und VII, zielen auf Verfahren und Formen der kulturellen Selbstrepräsentation. Sie setzen die Theorien über Symbolisierung und Inszenierung in operable Lesepraktiken um. Außerdem erlauben sie eine Positionsbestimmung der Literaturwissenschaft, die weiterhin dem ästhetischen Status der Literatur besondere Aufmerksamkeit widmet.

Einführung in die Kulturwissenschaft

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