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MEINE GESCHICHTE

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In Kölle jebore

Das Licht der Welt erblickte ich 1993 in Köln. Bis heute bin ich meinen Eltern sehr dankbar dafür, dass sie sich bei meiner Geburt gegen unsere Heimatstadt und für die Domstadt entschieden. Die Tatsache, dass ich ne kölsche Jung bin, hebt meinen ohnehin übertriebenen Lokalpatriotismus nochmal auf eine andere Ebene.

Doch genau genommen habe ich noch nie in meinem Leben in Köln gewohnt. Die ersten 23 Jahre verbrachte ich bis auf ein paar Ausnahmen in einer nahegelegenen Kleinstadt. Dort herrschten hervorragende Bedingungen, um eine Familie zu gründen, und so blicke ich heute auf eine behütete Kindheit zurück. Ich wuchs in einer ruhigen Reihenhaussiedlung auf, ging in den Kindergarten, später in die Grundschule und spielte beim städtischen Fußballverein. In allen Bereichen fand ich problemlos Freunde und konnte mich zu jeder Zeit über ein funktionierendes Sozialleben freuen.


Schon früh hatte ich das Privileg, mindestens einmal im Jahr mit meiner Familie in den Urlaub zu fahren. Dabei ging es meistens im Sommer für drei Wochen auf die dänische Ostseeinsel Bornholm, die dadurch wie ein zweites Zuhause und zu einem paradiesischen Zufluchtsort wurde. Im Alter von 20 Jahren hatte ich bereits über ein Jahr meines Lebens auf dieser Insel verbracht. Eine Anreisemöglichkeit ist bis heute die Fährverbindung vom deutschen Kurort Travemünde ins schwedische Trelleborg, von wo aus es nach einer kurzen Autofahrt zu einem anderen Hafen weiter nach Bornholm geht. Die Orte Bornholm und Travemünde spielen eine wichtige Rolle im Zusammenhang mit meiner Sinnkrise und werden im weiteren Verlauf das ein oder andere Mal auftauchen.


Nach der Grundschule folgte ich meinem vier Jahre älteren Bruder und ging auf das erzbischöfliche Gymnasium der Stadt. Die Zeit knüpfte nahtlos an meine behütete Kindheit an, da der Schulalltag nicht mit dem einer städtischen Schule zu vergleichen war. Rückblickend bin ich sehr froh, dass ich bis zur achten Klasse weiterhin im Fußballverein angemeldet war, um auch das Leben außerhalb der Schule zu kennen. Auf einer Schule, auf der es fast keine Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund gab, auf der vor dem Unterricht gebetet werden sollte und auf der es selten bis nie Gewaltprobleme gab, konnte man durchaus davon ausgehen, dass dies auch auf die gesamte Gesellschaft übertragbar war. Heute würde man wahrscheinlich von einer Filter Bubble sprechen, in der eine völlig eigene Realität herrschte.

Ich möchte aber nicht sagen, dass ich die Wahl der Schule bereue. Auch wenn ich die religiösen Werte nur bedingt lebte, fühlte ich mich sehr wohl und genoss eine sehr gute Schulausbildung. Gleichzeitig fand ich auf dem Gymnasium enge Freunde, die mich bis heute begleiten. Bevor ich allerdings mein Abitur erfolgreich abschloss, musste ich noch die große Hürde der Pubertät überstehen. Diese sollte sich als äußerst aufwühlende Zeit herausstellen, in der ich mich mehr und mehr in einem Gedankenchaos verlor.


Die Jugendkrise

Dieses Gedankenchaos sorgte letztlich dafür, dass ich zum Ende meiner Jugend mehrere Jahre mit psychischen Problemen zu kämpfen hatte. Ich muss gestehen, dass ich ein wenig gezögert habe, ob ich dieses Kapitel mit aufnehmen soll. In Deutschland gelten Depressionen und psychische Probleme im Allgemeinen traurigerweise auch heute noch als Tabuthema, obwohl aktuellen Studien zur Folge bis zu neun Prozent der deutschen Bevölkerung jährlich an Depressionen erkrankt sind. Die Dunkelziffer dürfte noch weit höher liegen. Auch gebe ich dadurch sehr persönliche Informationen von mir preis.

Aber es hätte sich falsch angefühlt, diesen Teil von mir zu verschweigen, zumal ich mich dafür auch nicht schäme. Im Gegenteil. Ich bin stolz darauf, diese Zeit überstanden zu haben, und zähle sie mittlerweile zu den wichtigsten und prägendsten Abschnitten meines Lebens. Das Teilen meiner Geschichte soll außerdem Betroffene ermutigen, sich deshalb nicht zu verstecken oder gar schlecht zu fühlen. Ich möchte einen kleinen Beitrag dazu leisten, dass dieses wichtige Thema die berechtigte Aufmerksamkeit erhält, weshalb ich kurz auf meine Erfahrungen eingehen werde.


Alles begann im Alter von etwa 16 Jahren. Ich war ein perfektes Beispiel dafür, dass äußere Umstände nicht immer ausschlaggebend für innere Zufriedenheit und Glück sind. Ich konnte weiter ein privilegiertes Leben führen, hatte finanzielle und soziale Absicherung, schrieb gute Noten und lebte von außen betrachtet ein klassisches Teenagerleben. Dennoch konnte ich mich in dieser Zeit nicht auf die positiven Dinge des Lebens konzentrieren und besaß wenig Selbstvertrauen. Natürlich ist es normal, dass in der Pubertät die Gedanken verrücktspielen und dass ein hormongeladener Junge nicht unbedingt mit sich selbst im Reinen ist. Doch entwickelten sich aus meinen pubertären Gedanken schnell immense Selbstzweifel. Ich fühlte mich unwohl in meinem schmächtigen Körper und hatte das Gefühl, alle anderen hatten mehr Glück im Leben. Schon damals sorgten digitale Plattformen wie ICQ und Schüler-VZ für ständiges Vergleichen und verstärkten meine Zweifel.

Irgendwann wurden diese zu sich häufenden depressiven Schüben, bis ich mich schließlich wochen- und monatelang leer und niedergeschlagen fühlte. Es brauchte dazu nicht einmal mehr einen triftigen Grund. Ich wachte morgens nach einem erholsamen Schlaf auf und suchte mir bewusst traurige Musik aus, um positive Stimmung gar nicht erst zuzulassen. Einfach nur, weil ich nicht anders konnte. Gesellschaft wurde in dieser Phase für mich verstärkt zur Anstrengung, weshalb ich mich ein bisschen aus meinem Sozialleben zurückzog. Das war allerdings die einzige sichtbare Auswirkung und selbst die ist für einen Teenager, der das Gaming für sich entdeckt hatte, nicht unbedingt verhaltensauffällig. Ich meldete mich in einem Inlineskater-Hockey-Verein an, ging weiter normal zur Schule und besuchte Geburtstage, sodass ich niemandem einen Vorwurf machen kann, dass dies nicht auffiel.


Im Alter von 18 Jahren realisierte ich allmählich, dass es sich dabei nicht einfach um pubertäre Gedankengänge handelte. Nur war ich damals nicht in der Lage, mich anderen zu öffnen, um dieses Thema anzusprechen. Das sollte sich kurz darauf ändern, als ich meine erste Freundin kennenlernte. Sie redete mir schon vor der Beziehung Mut zu, professionelle Hilfe zu suchen, was ich kurz darauf auch tat. Mit 18 zum Therapeuten. Das kennen die meisten nur von Kindern, die in schwierigen Verhältnissen aufgewachsen sind oder schon früh Schicksalsschläge erlitten haben. In Kombination mit der Beziehung brachten die Gespräche zeitnah etwas Leichtigkeit zurück, die allerdings wieder verschwand, als die Beziehung zwei Jahre später zu Ende ging. Vieles von dem, was ich besiegt geglaubt hatte, wurde wieder freigelegt. Ich hatte Sorge, wieder in dieses Loch zu fallen.

Nach mehreren Monaten tiefer Trauer und sozialen Rückzugs kam ich zum ersten Mal in meinem Leben an einen wichtigen Punkt. Ich realisierte, dass ich für das Beenden eigener Krisen selbst verantwortlich war. Als sich die Emotionen langsam gelegt hatten, schloss ich das Kapitel mit einem Kurzurlaub in Travemünde ab und nahm wieder aktiv am Leben teil.


Das Bachelorstudium

Wahrscheinlich geprägt durch die zahlreichen Urlaube auf Bornholm hatten mich Transportmittel und insbesondere Schiffe schon immer begeistert. Auch mangels sinnvoller Alternativen folgte ich nach dem Abitur erneut meinem Bruder und begann ein duales Studium mit Schwerpunkt Logistikmanagement in meiner Heimatstadt. Für die dreimonatigen Praxisphasen pendelte ich entweder zu meiner Arbeit in der Nähe von Düsseldorf oder zog dort in eine möblierte Wohnung. Da ich meinen Lebensmittelpunkt nicht von zuhause entfernen wollte, verbrachte ich jedes Wochenende bei meinen Eltern.

Der Schritt ins Arbeitsleben traf mich Ende 2013 mit voller Wucht und ich hatte große Probleme mit dem neuen Alltag. Der Tagesablauf, die Verantwortung eines Jobs und die deutlich verringerte Freizeit machten mir schwer zu schaffen. Es dauerte mehrere Monate, bis ich mich an dieses neue Leben gewöhnt hatte. Dann allerdings konnte ich mich voll und ganz auf meine Ausbildung konzentrieren und erste Erfolge im Job verzeichnen. Die interessanteren Geschichten wurden aber verständlicherweise in den Theoriephasen an der Fachhochschule geschrieben. Auch wenn ein duales Studium kein klassisches Studentenleben bietet, holte ich in diesen drei Jahren einiges nach, was ich unter anderem in meiner Jugendzeit versäumt hatte. Speziell in den Sommersemestern gab es Phasen, in denen ich mit meinem Kurs mehrmals die Woche in Köln feiern war und in denen ich merkte, dass ein Singleleben ohne Verpflichtungen und Termine auch Vorteile mit sich bringen kann.

Gleichzeitig merkte ich, wie gut es tat, mein Sozialleben wieder in Gang zu bringen, neue Leute kennenzulernen und enge Freundschaften aufzubauen. Mit der Zeit wurde ich selbstbewusster und taute zunehmend auf. Ein Kommilitone sagte mir am Ende des zweiten Studienjahres, dass ich deutlich aktiver in der Gruppe geworden sei. Zwar agiere ich bis heute in ungewohntem Umfeld zunächst unauffällig, doch war diese Bemerkung für mich ein Zeichen dafür, dass ich mich auf dem richtigen Weg befand.


Später war ich so aufgetaut, dass ich für das obligatorische Auslandssemester von meiner ursprünglichen Idee, an eine renommierte Uni in Schweden zu gehen, absah und stattdessen mit drei Kommilitonen im Frühjahr 2016 nach Riverside in Kalifornien reiste. Ich könnte jetzt berichten, wie faszinierend es war, eine amerikanische Universität zu besuchen und wie sehr ich mich fachlich weiterbilden konnte. Doch ehrlich gesagt standen die dreieinhalb Monate eher im Zeichen persönlicher Entwicklung und einmaliger Erfahrungen. Die Vorlesungen begannen erst vier Wochen nach unserer Ankunft und fanden hauptsächlich abends statt. Zudem hatten wir uns am sogenannten Extension Center eingeschrieben, bei dem die Kurse an maximal drei Tagen in der Woche angeboten wurden. Wir hatten also ausreichend Freizeit, in der wir das Land, die Menschen und die Kultur von Amerika kennenlernen konnten.

Da wir uns zu viert ein Auto gemietet hatten, machten wir unzählige Ausflüge und Roadtrips. Besonders die zahlreichen Nationalparks wie der Yosemite National Park, der Grand Canyon oder das Monument Valley waren beeindruckende Anblicke. In unserem Alltag tauchten wir in den kalifornischen Lifestyle von Los Angeles ein, genossen unser Leben am Pool oder den bekannten Pazifik-Stränden und feierten Partys, wie man sie aus College-Filmen kennt. Es war alles in allem eine aufregende Zeit, an die ich mich für immer gerne zurück erinnern werde.


Zurück in Deutschland musste ich noch ein Semester absolvieren, bis ich im Oktober 2016 in das Vollzeit-Arbeitsleben einsteigen konnte. Meine Bachelorarbeit hatte ich bereits vor dem Auslandssemester abgegeben und bestanden, sodass ich im Grunde »nur« noch ein paar Kurse absitzen musste. Von meinem Dekan wurde mir zum Abschluss des Studiums vermittelt, dass ich Teil der hoffnungsvollen Arbeitnehmer von morgen sei und möglichst zügig eine erfolgreiche Karriere einschlagen sollte.

Genau deshalb hatte ich möglicherweise ein großes Problem damit, nach meinem Studium zunächst als Sachbearbeiter einzusteigen. Ich redete mir ein, ich sei für deutlich mehr berufen und wollte am besten direkt die Assistenz der Niederlassungsleitung werden. Heute weiß ich, dass dieser Schritt für mich sehr sinnvoll war. Zum einen hatte ich das Glück, in ein aufgeschlossenes und hilfsbereites Team zu kommen, mit dem ich auch außerhalb der Arbeit etwas unternehmen konnte. Zum anderen schaffte ich dadurch notwendige Grundlagen für meine weitere berufliche Laufbahn.


Besondere Erfahrungen

Ich glaube, es ist nichts Besonderes, dass ich mit Mitte 20 meinen Einstieg ins Arbeits- bzw. Studentenleben gefeiert habe, neue Leute kennengelernt habe, viele neue Eindrücke gesammelt und gleichzeitig auch persönliche Rückschläge erlitten habe. All diese Erfahrungen zählen meiner Meinung nach zu normalen Umständen, die wir alle wahrscheinlich so oder so ähnlich schon erlebt haben und aus denen wir unsere ganz eigenen Erkenntnisse gewonnen haben. Abgesehen davon trägt jeder Mensch allerdings noch ganz persönliche Erfahrungen mit sich, die in dieser Form nur wenige andere erlebt haben. Das können normale Alltagssituationen sein oder aber Gefahrensituationen, die besonders prägend waren.

Auch ich habe solche Erfahrungen gemacht, von denen ich im Folgenden kurz berichten möchte. Das mache ich nicht nur, weil ich so gerne erzähle, sondern vor allem, weil sie einen nachhaltigen Einfluss auf mich hatten. Die drei kleinen Geschichten spielten sich dabei alle im Zeitraum von 2016 bis 2017 ab.


Die erste Erfahrung war der Besuch von Ground Zero in New York, wo wir auf der Rückreise aus Kalifornien für ein paar Tage stoppten. Eventuell kennen viele das Memorial aus Dokumentationen oder waren selbst schon einmal dort. Für alle anderen möchte ich eine kurze Beschreibung geben. Neben dem 2015 neu eröffneten One World Trade Center sind zwei riesige quadratische Brunnen in den Boden eingelassen, die den Grundrissen der ehemaligen Twin Towers entsprechen. In den Rand der Brunnen sind die Namen der über 2.700 Todesopfer der Anschläge vom 11. September 2001 graviert.

Ich erinnere mich noch genau, wie erdrückend der Anblick dieser Gedenkstätte war. Die Stimmung in unserer Gruppe war über das gesamte Auslandssemester hinweg fröhlich bis albern. Als wir von der Greenwich Street auf das Gelände des Memorials einbogen, war davon schlagartig nichts mehr zu spüren. Mit einem Mal hatte es uns die Stimme verschlagen und wir standen mehrere Minuten einfach nur wie angewurzelt vor einem der Brunnen. Je mehr Eindrücke wir aufnahmen, umso erdrückender wurde die Atmosphäre. Wir blickten auf die riesigen Brunnen, die die Dimensionen der Twin Towers verdeutlichten. Das benachbarte One World Trade Center diente als Höhenvergleich zu den Türmen, die innerhalb kürzester Zeit in sich zusammengestürzt waren. Und dann waren da noch weinende Angehörige, die eine weiße Rose in einen der eingravierten Namen steckten und damit den Terroranschlag auf einmal personalisierten.

Bis heute habe ich keinen Ort auf dieser Welt besucht, der mich so sehr hat erstarren lassen wie das 9/11-Memorial. Natürlich war ich mit acht Jahren nicht in der Lage, die Tragweite des Ereignisses entsprechend einzuordnen, und habe den 11. September 2001 nicht so intensiv erlebt wie beispielsweise meine Eltern. Dennoch gibt es genügend Dokumentationen, Bilder und Videos von den Anschlägen, um das Ausmaß zu kennen. Und diese Bilder im Kopf wurden plötzlich unglaublich real, als ich knapp 15 Jahre nach den Anschlägen direkt am Ort des Geschehens stand.


Für die zweite Erfahrung war eine solche Transformation von Gedanken in die Realität hingegen nicht notwendig, da ich sie zum Zeitpunkt des Geschehens aus nächster Nähe miterlebte. Im August 2017 lag ich gerade mit drei Freunden an der Playa de Bogatell in Barcelona, als uns die Eilmeldung zu einem Anschlag auf der beliebten Einkaufsstraße La Rambla erreichte.

Am Strand wurde es unruhig, da sich die Nachricht schnell unter den Badegästen verbreitete. Einige brachen sofort hektisch auf, andere – so auch wir – blieben zunächst am Strand. Nicht aber als Zeichen der Ignoranz, sondern aus purer Verunsicherung. Die Anschläge in Paris hatten zwei Jahre zuvor gezeigt, dass es auch mehrere Ziele geben könnte. Dennoch fühlten wir uns am Strand sicherer, als mit der U-Bahn oder mit dem Taxi zurück zu unserer Unterkunft zu fahren. Nach etwa zwei Stunden entschieden wir uns, in einem benachbarten Imbiss essen zu gehen, um anschließend ein Taxi zu rufen. Es herrschte eine bedrückende Stimmung und wir redeten kaum miteinander. Gespannt blickten wir auf die Nachrichten, die im Fernseher hinter dem Tresen liefen. Innerlich waren wir alle schwer mit unseren eigenen Gedanken beschäftigt. Noch am Montag hatten wir uns unbeschwert in das faszinierende Nachtleben von Barcelona gestürzt. Nun saßen wir hier und wollten eigentlich nur zurück nach Deutschland.

Es war vor allem ein Gedanke, der uns allen schwer zu schaffen machte. Was wäre gewesen, wenn sich der Attentäter zwei Tage früher zu seiner Tat entschieden hätte? Zu dieser Zeit befanden wir uns nämlich sehr lange auf eben jener Einkaufsstraße, auf der 48 Stunden später 13 Menschen starben. Es dauerte einige Tage, bis wir diese emotionalen Eindrücke eingeordnet und entsprechend verarbeitet hatten.


Die mit Abstand prägendste Erfahrung ereignete sich jedoch kurz bevor Jonas Hector im Viertelfinale der EM 2016 den entscheidenden Elfmeter für Deutschland verwandelte. Im Sommer 2016 fuhr ich mit dem Zug nach Paris und besuchte Emma, die ich im Auslandssemester kennengelernt hatte. Das Gastgeberland der Europameisterschaft war im absoluten Fußballfieber und in der Stadt waren mehrere Fanmeilen aufgebaut, auf denen die Spiele live übertragen wurden. Für das Spiel Deutschland gegen Italien fiel unsere Wahl auf die Fanmeile am Eiffelturm. Das für 92.000 Menschen ausgelegte Areal war an diesem Tag schätzungsweise zu 60 Prozent gefüllt, sodass knapp 55.000 Menschen zusammen das Spiel sahen. Wir standen in der Mitte des Geländes und blickten auf die riesige Videoleinwand, hinter der sich der Eiffelturm imposant in die Luft erhob. Das Wahrzeichen der Stadt war aufwendig beleuchtet und in der Dämmerung ergab sich eine einmalige Atmosphäre.

Diese wurde allerdings in der 80. Minute jäh unterbrochen, als auf einmal die gesamte Menschenmasse vor uns – also bis zu 27.000 Fans – panisch auf uns zugelaufen kam. Ohne zu wissen, was passiert war, griff ich nach Emmas Hand und wir sprinteten los. Nach einigen Metern stürzte sie sogar und Menschen stolperten über sie. Zusammen mit einem italienischen Fan konnte ich sie zum Glück sofort wieder auf die Beine bringen und wir schafften es, das Gelände lediglich mit ein paar Kratzern zu verlassen und den Heimweg anzutreten. Auch hier fühlte ich mich unglaublich unsicher in der Stadt. Da unsere einzige Möglichkeit nach Hause die Bahn war, verschwand dieses Gefühl auch erst, als wir zuhause ankamen und die Tür hinter uns verschließen konnten.

Im Vergleich zum Anschlag in Barcelona wurde bei dieser durch eine kleine Prügelei ausgelösten Massenpanik niemand schwerer verletzt und die Berichte schafften es nur vereinzelt bis nach Deutschland. Aber mitten in einer terrorgefährdeten Stadt, die von schwer bewaffnetem Militär beschützt wird, rechnet man für einen kurzen Augenblick mit dem Schlimmsten, wenn auf einer Großveranstaltung tausende Menschen panisch auf einen zugelaufen kommen. Daher sind die Bilder in meinem Kopf auch deutlich intensiver abgespeichert als die Bilder aus Barcelona. Wenn ich mich an den Moment zurückerinnere, ist die Szene in meinem Kopf immer mit einer Musik unterlegt, die bei Computerspielen wie Age of Empire genutzt wurde, um eine Angriffsszene akustisch zu dramatisieren. Ich glaube, allein das verdeutlicht, wie prägend dieses Ereignis für mich war.


Ich bin sehr froh, dass dieser Film trotz allem nicht allzu oft in meinem Kopf abgespielt wird. Auch haben die Erlebnisse nicht dazu geführt, dass ich große Menschenansammlungen außerhalb von Corona nicht mehr besuchen möchte. Dennoch zählt dieser Abend, genau wie Barcelona und New York, zu den prägendsten Ereignissen, die ich bisher erlebt habe und die ich seitdem als Teil meiner eigenen Geschichte mit mir trage. Jede dieser Erfahrungen trug dazu bei, dass ich mich für eine kurze Zeit intensiver mit dem Sinn des Lebens beschäftigte und allmählich begann, Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen. Vor allem nach Paris dachte ich viel darüber nach, was ich im Leben erreichen möchte, bevor es vielleicht irgendwann unerwarteterweise zu spät sein könnte.


Der erste Schritt

Auch wenn die Ereignisse im Anschluss wieder von meinem Alltag überlagert wurden, verstärkten sie weiter meinen Antrieb, die eigene Einstellung zum Leben zu hinterfragen. Nicht, dass mir meine Zukunftsplanung vorher egal gewesen wäre. Schließlich hatte ich nach meiner Schule ein Bachelorstudium angefangen, um mich für die berufliche Laufbahn vorzubereiten.

Nur überkam mich das Gefühl, dass ich etwas machen wollte, um meine persönliche Entwicklung voranzutreiben. Zu sehr hatte ich die letzten 24 Jahre in der eigenen Komfortzone verbracht. Zwar wohnte ich bereits seit einem Jahr unter der Woche nicht mehr zuhause, doch waren die Eltern und das gewohnte Umfeld immer noch als Absicherung in unmittelbarer Nähe.


Aus diesem Grund traf ich 2017 die finale Entscheidung, meine Zelte im Rheinland abzubrechen und für ein Masterstudium mit Schwerpunkt Marketing & Sales Management und einen neuen Job nach Hamburg zu ziehen. Ich wollte mich einer neuen Herausforderung widmen, die ich außerhalb meines gewohnten Umfeldes angehen und an der ich persönlich wachsen konnte.

Bis die Entscheidung final getroffen war, musste ich mich allerdings meinen Zweifeln und Ängsten stellen. Ich fertigte unzählige Pro-Contra-Listen an und überlegte mir, welche Auswirkungen ein Umzug für mich bedeuten würde. Vor allem der Abschied von meiner Familie und von den Freunden, die teilweise seit über 15 Jahren an meiner Seite waren, ließ mich zögern. Auch der Abschied von der heißgeliebten Domstadt würde große Überwindung erfordern, ebenso wie der Aufbruch ins Ungewisse. Nach reifen Überlegungen kam ich zu dem Schluss, dass es der perfekte Zeitpunkt für einen vorübergehenden Abschied war. Als Single mit Mitte 20 stand ich fest genug im Leben und war gleichzeitig so unabhängig wie unter Umständen in keiner folgenden Phase des Lebens. Also nahm ich all meinen Mut zusammen und zog in den Norden.


Moin Moin aus Hamburg

Es ist schon ein komisches Gefühl, sein altes Umfeld hinter sich zu lassen. Der Abschied fiel mir daher sehr schwer. Dennoch hatte ich mich auch bewusst für die Hansestadt entschieden, um im Zweifel innerhalb von ein paar Stunden wieder zuhause sein zu können. Doch als ich im Februar 2018 in Hamburg ankam, verschwand das Heimweh zu meinem Erstaunen sehr schnell.

Die Hansestadt begeisterte mich mit ihrer maritimen Atmosphäre von Anfang an. Niemals hätte ich daran gedacht, dass mich etwas anderes als Dom, Rhein und Kölsch so glücklich machen könnte. Es schien die perfekte Entscheidung gewesen zu sein. Ich fand eine eigene Wohnung in bester Lage, konnte auf der Arbeit sofort Anschluss finden und hatte einen sehr kollegialen Unikurs. Einige der neuen Kontakte wurden schnell zu guten Freunden, mit denen ich regelmäßig auf der legendären Reeperbahn oder in der Schanze unterwegs war. In meiner Freizeit genoss ich es, mitten in der Großstadt so viele Rückzugsorte zu haben und mich am Wasser oder im Grünen aufhalten zu können. Musste ich doch mal ans Meer, brauchte ich nur eine Stunde bis nach Travemünde. In besonderem Maße genoss ich aber mein unabhängiges Leben. Zum ersten Mal konnte ich komplett frei entscheiden, was ich den Tag über machen wollte und musste auch niemandem Bescheid geben, wann ich wo bin und ob ich zum Essen nach Hause komme.


Natürlich gab es auch einiges, an das ich mich erst gewöhnen musste. Ich wurde zu jeder Tageszeit mit einem freudigen Moin begrüßt, wurde an der Theke nach der gewünschten Sorte gefragt, wenn ich ein Bier bestellte und Gespräche über den Dom drehten sich auf einmal um ein vierteljährig stattfindendes Volksfest. Am 11.11. konnte niemand so wirklich verstehen, warum ich an diesem Tag so gerne in Köln gewesen wäre und das Einzige, was mein Umfeld zum Thema Karneval beitragen konnte, war der Refrain von Viva Colonia. Zusätzlich stand ich vor der Herausforderung, mir ein neues Sozialleben aufzubauen und in einer fremden Stadt Anschluss zu finden. All das sollte meiner Begeisterung für die Hansestadt allerdings nicht schaden.


Ein Millennial in der Krise

Gegen Ende 2018 wurde der Zauber der Stadt langsam zur Gewohnheit und meine Gedanken kreisten zunehmend um meine Zukunft. Je mehr ich darüber nachdachte und je mehr ich mein Handeln hinterfragte, umso größer wurde meine Unsicherheit:


 Was mache ich nur nach meinem Masterstudium?

 Will ich eine steile Karriere oder ein erfülltes Leben?

 Sollte ich zurück nach Köln oder hier in Hamburg bleiben?

 Bin ich überhaupt noch auf dem richtigen Weg?

 Kann ich die ganzen Erwartungen erfüllen?

 Warum bin ich aktuell Single?

 Bin ich vielleicht gar nicht gut genug?

 Zweifeln die anderen gerade auch an allem?


Dies ist nur ein Auszug der Fragen, die von nun an meinen Alltag bestimmten. Ich glaubte, beruflich auf der Stelle zu treten, und auch in der weitläufigen Dating-Welt der Großstadt wollte es nicht so recht klappen. Mir fiel es schwer, positive Elemente in meinem Leben ausfindig zu machen, und so fühlte ich mich unglaublich verloren in einer privilegierten Welt. Dazu setzte ich mich immer stärker selbst unter Druck, weil ich gerade einmal 25 Jahre alt war. Ich redete mir ein, dass ein solcher Zustand doch eigentlich etwas für die Midlife-Crisis in fortgeschrittenem Alter war, nicht aber für die unbeschwerte Zeit in den Zwanzigern. Ich hatte das Gefühl, eine Schwäche zu zeigen, die in diesem Alter nicht angebracht war.

Aufgrund dieser Unzufriedenheit begann ich, meine eigene Situation ununterbrochen mit der meines Umfeldes zu vergleichen, wodurch die eigenen Zweifel nochmals verstärkt wurden. Der Firmenwagen und die Gehaltserhöhung des Kommilitonen sorgten bei mir für puren Neid und das Gefühl, unqualifiziert und hinterher zu sein. Als Single mit Freunden über ihre glücklichen Beziehungen oder sogar Hochzeitspläne zu sprechen, kratzte an meinem Selbstbewusstsein. Irgendwie war da wieder dieses Gefühl, als ginge es allen besser und als würde ich etwas falsch machen. Anfang 2019 hatte mich die Sinnkrise schließlich fest im Griff. Bis zum Sommer musste ich mich dazu noch mit zwei schmerzhaften privaten Erfahrungen auseinandersetzen und fügte meinem Auto beim Ausparken einen immensen finanziellen Schaden zu, während das Studium immer einnehmender wurde und ich sehnsüchtig auf meinen nächsten Urlaub wartete.


All das verstärkte meine Krise, war aber nicht der entscheidende Grund. Wie für viele Millennials typisch waren es die eigenen Gedanken, die die Krise auslösten. Nicht die Erfolge meines Umfeldes sorgten für Unzufriedenheit, sondern die Art und Weise, wie ich damit umging.

Ich befand mich damals ebenfalls in einer sehr komfortablen Situation. Ich hatte einen sicheren Job, mit dem ich mein eigenes Geld verdiente, wohnte in einer für mich nahezu perfekten Wohnung in einer lebhaften Großstadt, konnte auf einen sehr engen Freundeskreis in Hamburg und Köln zurückgreifen und war auf dem Weg zu meinem Masterabschluss. Eigentlich gab es keinen Grund, um sich in einer derart tiefen Sinnkrise wiederzufinden. Ich bin mir sicher, viele Menschen auf dieser Welt hätten zu dieser Zeit gerne mit mir getauscht. Doch diese Gedanken kamen mir damals nicht ansatzweise in den Sinn.


Wenn ich also in diesem Buch von einer Krise spreche, meine ich ausschließlich eine Sinnkrise. Mir ist wichtig, dass hier eine klare Unterscheidung vorgenommen wird. Diese Krise ist nicht zu vergleichen mit der von Menschen, die beispielsweise ihren Job verlieren, Schicksalsschläge erleiden, Existenzängste haben oder an enormen gesundheitlichen Problemen leiden. Ich war »nur« ein Mittzwanziger im berufsbegleitenden Masterstudium, der sich trotz all der sichtbaren Privilegien zu sehr von seinem Umfeld blenden ließ und seinen eigenen Wert in Frage stellte.


Einstieg in die Persönlichkeitsentwicklung

Im Mai 2019 überzeugten mich meine Eltern dann davon, ihnen im jährlichen Bornholmurlaub Anfang August einen Besuch abzustatten. Durch mein Studium und aus persönlichen Gründen hatte ich die Insel seit 2013 nicht mehr besucht und doch wusste ich, dass sie mir genau das geben konnte, was ich damals brauchte: unbeschwerte Erholung an einem Wohlfühlort, die mir beim Ausbruch aus der Krise helfen würde. Ich wusste, dass sich etwas ändern musste, und so verspürte ich nach dem Buchen der Fährtickets zum ersten Mal seit Wochen und Monaten wieder ein bisschen Leichtigkeit. Endlich hatte ich einen positiven Fixpunkt, auf den ich hinarbeiten konnte.


Allerdings befand ich mich körperlich und emotional weiterhin in der Hochphase der Krise. So schön die Aussicht auf Urlaub auch war, es fiel mir noch schwer, den Schalter umzulegen und meine Gedanken auf etwas Positives zu lenken. Je näher der Urlaub dann allerdings kam, umso stärker spürte ich die steigende Vorfreude, die mit dem Wunsch einher ging, durch die Reise nach Dänemark neue Reize zu setzen und meinen Alltag wieder unbeschwerter zu gestalten.

Nach einer unerwarteten Inspiration, auf die ich später genauer eingehen werde, entdeckte ich kurz vor meinen freien Tagen noch die Persönlichkeitsentwicklung für mich. Ich war so gefesselt von der Thematik, dass ich dem Urlaub zunehmend eine größere Bedeutung zusprach und ihn als eine Art »Restart« angehen wollte. Wenig später konnte ich genau das in die Wege leiten und damit eine bedeutende Veränderung für mich anstoßen.


Ich glaube daran, dass jeder Mensch rückblickend einen roten Faden in seinem Leben sieht bzw. ein großes Puzzle, das alles zusammenfügt. Nun bin ich hoffentlich noch weit vom Ende meines Lebens entfernt, doch hatte ich bereits im Sommer 2019 das Gefühl, mit dem Bornholmurlaub das letzte Puzzleteil in einer wichtigen Entwicklung gefunden zu haben.

Als ich gestärkt zurück nach Deutschland kam und mich allmählich tiefer in die Persönlichkeitsentwicklung einlas, begegneten mir nach und nach alle anderen Puzzleteile, die ich bisher in meinem Leben gesammelt hatte. Auf einmal realisierte ich, dass mich die Schulzeit, die Rückschläge und Trennungen, die Erlebnisse in Barcelona und Paris und schließlich die Sinnkrise in Hamburg genau an den Punkt gebracht hatten, an dem ich erkannte, dass ich die Verantwortung für ein glückliches Leben wieder selbst in die Hand nehmen musste. Durch den Urlaub konnte ich die nötige Kraft tanken, um mich dieser spannenden Entwicklung anzunehmen. Mittlerweile ist der Sommer 2019 für mich ein ganz wichtiger Meilenstein geworden und ich bin unglaublich froh, dass ich diesen Schritt damals gegangen bin.


Von außen betrachtet hat sich möglicherweise gar nicht so viel verändert. Aber ich habe seitdem eine neue Sichtweise auf meinen Alltag gewonnen, wie ich sie mir vor dem Urlaub 2019 nicht hätte vorstellen können. Ich möchte nochmal betonen, dass ich nicht in allen Belangen ein wunschfreies Leben führe oder zu einem Guru geworden bin. Das ist meiner Meinung nach aber auch nicht das, was es zu erreichen gilt. Vielmehr geht es darum, sein Leben in einer Welt voller Vergleiche und externer Einflüsse zu akzeptieren, einen eigenen Weg zu finden und das Beste aus dem zu machen, was einem gegeben wird. Das ist mir durch meinen Ausflug in die Persönlichkeitsentwicklung gelungen und es würde mich freuen, wenn dich dieses Buch auch ein bisschen dabei unterstützen kann.

Lost in Privilege

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