Читать книгу Die Lösungsbegabung - Markus Hengstschläger - Страница 10
Sich für das Vorhersehbare und für das Unvorhersehbare rüsten
Оглавление»Es kommt nicht darauf an, die Zukunft vorauszusagen, sondern darauf, auf die Zukunft vorbereitet zu sein.« (Perikles, 5. Jahrhundert vor Christus)
Im Zusammenhang mit der von dem SARS-CoV-2-Virus ausgelösten COVID-19-Pandemie wurden immer wieder Fragen diskutiert wie »War das nicht vorhersehbar?« oder »Konnte man sich auf das nicht besser vorbereiten?«. Immer wieder tauchte dabei der Begriff »Schwarzer Schwan« auf, der für ein Ereignis steht, das selten und höchst unwahrscheinlich ist, unerwartet eintritt, enorme Konsequenzen hat und im Nachhinein oft einfach zu erklären ist. Nassim Nicholas Taleb, auf den dieser Begriff zurückgeht (Taleb: Der Schwarze Schwan: Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse, 2008), hat aber darauf hingewiesen, dass er selbst globale Pandemien als weiße Schwäne bezeichnet hat. Ein weißer Schwan ist ein Ereignis, das mit Gewissheit irgendwann eintritt. Dementsprechend ist es auch nicht entschuldbar, darauf nicht vorbereitet zu sein (Taleb, Spitznagel: »Die Corona-Pandemie ist kein schwarzer Schwan«, 2020). Damit reiht er sich in die lange Liste all jener ein, die das Risiko von Pandemien immer mit kalkuliert haben. Weltweit entsprechend auffällig kommuniziert wurde, dass der Microsoft-Gründer Bill Gates bereits 2015 vor einer solchen gewarnt hat. Aus verschiedensten Gründen wurde Gates in Corona-Zeiten das Ziel von wüsten Verschwörungstheorien und Fake News, inklusive Behauptungen, er plane, die Menschheit durch Mikrochips unter der Haut zu kontrollieren. Solche und viele andere Hoaxes (Falschmeldungen, die weiterverbreitet werden) über Bill Gates gab es etwa auf Twitter und Facebook. Die beliebtesten YouTube-Videos, die Fake News und Verschwörungstheorien zu Gates und Corona verbreiteten, wurden im März und April 2020 mehrere Millionen Male angesehen. Dass Pandemien die Menschheit immer wieder heimgesucht haben und heimsuchen werden, war und bleibt vorhersehbar. Die dritte Pest-Bakterien-Pandemie kostete beispielsweise am Ende des 19. Jahrhunderts weltweit 12 Millionen Menschen das Leben, in den Jahren 1918–1920 fielen vielleicht etwa 50 Millionen Menschen der Spanischen Grippe zum Opfer, seit Anfang der 1980er-Jahre sind etwa 39 Millionen Menschen an dem durch das HI-Virus (HIV) ausgelösten Immunschwächesyndrom (AIDS) gestorben, und seit November 2019 begannen die Übersterblichkeitsraten in verschiedensten Ländern im Zuge der COVID-19-Pandemie zu steigen. Auch wenn man oft nicht genau weiß, wann, wo und mit welchen Konsequenzen, die Tatsache, dass Pandemien zur selten eintretenden, aber vorhersehbaren Zukunft gehören, spiegelt sich seit vielen Jahren in all den entsprechenden Gremien, Sitzungen, Papieren und Konzepten wider, die von den meisten Regierungen dieser Welt zur Vorbereitung darauf initiiert wurden. Wie gut diese Vorbereitungen sind und schließlich im Ernstfall auch umgesetzt werden (können), variiert allerdings international stark.
»Die Corona-Pandemie erinnert mit viel Nachdruck daran, dass das Morgen nicht einfach in eine vorhersehbare Zukunft und eine unvorhersehbare Zukunft unterteilt werden kann. Allgemein gilt es zu sagen, dass es immer vorhersehbarere und weniger vorhersehbare Anteile der Zukunft gibt. Ein weiterer wichtiger Punkt in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass der Grad der Vorhersehbarkeit eine Frage des Gesichtspunktes beziehungsweise des Betrachters sein kann. Was für den einen eher unberechenbar war, war für den Experten auf diesem Gebiet vielleicht eindeutig vorauszusehen. Es gibt zwei Zukünfte, und es gibt vor allem jede Form von Übergängen zwischen diesen beiden (Hengstschläger: ›Zwei Zukünfte‹, 2018.)«
Aus Individualperspektive kann man eigentlich immer nur von vorhersehbareren und unvorhersehbareren Zukunftsanteilen sprechen. Aber wie sieht das in einer heute so global vernetzten Welt aus? Gibt es nicht immer irgendwo irgendwen, der das kommen gesehen hat? Mit dem nötigen Ernst betrachtet, darf man aber schon die Frage stellen, ob die Zukunft heute allgemein vorhersehbarer geworden ist, als sie es früher einmal war, oder ob sie weniger berechenbar geworden ist. Wir leben in einer vermessenen Welt, mit Menschen, die vermessen werden, manchmal freiwillig, oft aber auch unfreiwillig. Und die weltweite Verfügbarkeit von Daten und Informationen war noch nie so hoch wie heute. Nicht nur aufgrund der globalen Riesenunternehmen aus dem Silicon Valley, die möglicherweise ohnedies schon alles über alles und jeden wissen, oder wegen der allgegenwärtigen Überwachung in China, ganz allgemein hat der digitale Wandel den Menschen und die Welt so gläsern gemacht wie noch nie. Wetterdaten, Klimadaten, Unternehmensdaten, Wirtschaftsdaten, Migrationsdaten, Gesundheitsdaten, Daten betreffend Kaufverhalten oder Kommunikation, Mobilitätsdaten und vieles mehr werden gesammelt, gespeichert, ausgewertet und gehandelt wie noch nie zuvor in der Menschheitsgeschichte. All diese Big Data können heute herangezogen werden (immer mehr auch über künstliche Intelligenz), um in der Gegenwart Voraussagen (Predictive Analytics) über die Zukunft zu machen. Und schon könnte man zu dem Schluss kommen, dass die Zukunft noch nie so kalkulierbar und vorhersehbar war wie heute.
Andererseits verwenden viele den Begriff »volatil«, um die heutige Welt mit ihrer Gegenwart und ihrer Zukunft zu beschreiben. Volatilität steht für Schwankungen und Unbeständigkeiten in relativ kürzeren Zeitspannen, also für instabile, nicht vorhersehbare, unberechenbare Zustände. Das Akronym, das wie kaum ein anderes aktuell zur Beschreibung des Zustandes der Welt verwendet wird, ist VUKA (volatil, unsicher, komplex, ambivalent). Aber auch die Unvorhersehbarkeit der Zukunft hat schon eine gut belegbare Tradition. Die 1895 geäußerte Zukunftsprognose von Gottlieb Daimler für das 1886 von Carl Benz entwickelte Automobil bescheinigte ihm den Bau von höchsten 5000 Stück, weil schließlich nicht mehr Chauffeure existierten, um Autos zu steuern. Zwei Jahre nachdem Konrad Zuse seine Rechenmaschine Z3, den ersten funktionsfähigen Computer, baute, soll 1943 der IBM-Chef Thomas J. Watson angeblich gesagt haben, dass er glaube, es gäbe weltweit Bedarf an vielleicht fünf Computern. Und als Tim Berners-Lee sein 1989 entwickeltes World Wide Web im Jahr 1991 bei einem Kongress in San Antonio vorstellen wollte, hat man seine Präsentation als nicht spannend genug für das Vortragsprogramm eingestuft. »Die Nazi-Diktatur sahen Politiker ebenso wenig voraus wie später das deutsche Wirtschaftswunder. Von der Ölkrise wurden Ökonomen so überrascht wie Politiker von den 68er-Protesten und der Umweltbewegung. Stattdessen rechnete man in den Sechzigern damit, dass man bald Bergwerke auf dem Mond betreiben würde. Und dass es 1989 zur Wiedervereinigung kommen würde, hielten noch wenige Monate zuvor die Experten für ebenso unwahrscheinlich wie im Jahr 2015 die Möglichkeit, dass ein narzisstischer Aufschneider wie Donald Trump je US-Präsident werden könnte«, schreibt Ulrich Schnabel in der Wochenzeitung Die Zeit (Schnabel: »So kommt das Neue in die Welt«, 2019). Und so manche sprechen sogar schon davon, dass wir in einer VUKA-Welt mit einem völligen Verlust der Vorhersehbarkeit leben – die Gegenwart also immer weniger über die Zukunft weiß.
Ob nun berechenbarer oder unergründbarer, die Zukunft wird heute von vielen Menschen mit dem Gefühl eines immer höheren Veränderungsgrades in Verbindung gebracht. Fast jede Technologie, die schon heute, aber morgen noch viel mehr, unser Leben prägt, hat eine digitale Komponente. Exponentielle Entwicklungen sind zum Markenzeichen des digitalen Wandels mit der Universaltechnologie der künstlichen Intelligenz geworden. Eine Besonderheit unserer Gegenwart ist die Tatsache, dass lineare Entwicklungen gegenüber exponentiellen Prozessen immer mehr in den Hintergrund geraten. Sowohl das Ausmaß als auch die Geschwindigkeit der Veränderung scheint stetig zuzunehmen. Der Eindruck, dass wir in immer hektischeren und schnelllebigeren Zeiten leben, hat sich festgesetzt. Der große Wunsch nach Entschleunigung, der Kampf gegen permanentes Multitasking, Achtsamkeitstraining (Mindfulness), Meditation, das gemütliche Hygge als das dänische Geheimnis des Glückes, aktive Auszeiten vom Smartphone, Digital Detox und die Überwindung der Angst, etwas zu verpassen (FOMO – Fear of missing out), sind nur ein paar wenige der populär gewordenen Bemühungen, wieder Geschwindigkeit herauszunehmen. Es scheint zurzeit aber alle Strömungen zu geben. Für viele Menschen, und nicht nur für jene in der Midlife-Crisis, scheint nämlich das alltäglich Erlebte keine Befriedigung zu bieten und Vorhersehbarkeitsgrad und Monotonie wiederum zu hoch zu sein. Für jene können Freizeit und Urlaub nicht aktions- und temporeich genug sein, vollgepackt mit »Abenteuern« wie permanenten Social-Media-Chats in Echtzeit, Wochenendshopping, Tinder-Bekanntschaften oder Partymeilen. Und doch scheint die Mehrheit der Menschen ihre berufliche und private Welt auch ohne all das schon als immer hektischer, stressiger und psychisch belastender zu erleben. Auf viele Menschen kommt die Zukunft zumindest gefühlt einfach zu schnell und mit zu vielen Fragezeichen zu. Auch deshalb nehmen psychische Erkrankungen in unserer Gegenwart stark zu, bis hin zur Berufsunfähigkeit aus psychischen Gründen.
»Ich hatte in meiner Jugend einmal ein kurzfristiges Interesse an Punk (aber auch an anderen Jugendbewegungen), habe manchmal Punk-Musik gehört und mich sogar manchmal entsprechend ge[ver]kleidet. Ein richtiger Punk war ich jedoch nie. Dafür könnte man viele Begründungen aufzählen. Eine, die mir heute im Nachhinein als bedeutend erscheint, ist die Tatsache, dass mir auch der Slogan der Punkbewegung »No Future« nie wirklich zugesagt hat. Selbst wenn man diesen Slogan auch so interpretieren kann, dass, wenn es keine Zukunft gibt, man doch gerade jetzt etwas bewirken kann (Bude: Gesellschaft der Angst, 2020) – ich persönlich war immer ein Fan der Gegenwart mit einem ganz speziellen Hang für die Zukunft. Ich habe immer an die Zukunft geglaubt. Ich wollte im Jetzt meinen Teil beitragen und wollte gleichzeitig immer wissen, was mir die Zukunft bringen wird. Warum aber will der Mensch die Zukunft überhaupt vorhersehen? Eigentlich hatte die Zukunft in der Gegenwart schon immer Hochsaison: das Orakel von Delphi im antiken Griechenland, die Seherin Kassandra aus der griechischen Mythologie, Auguren im alten Rom, die den Götterwillen aus dem Flug und Geschrei der Vögel lasen, die Prophezeiungen des Nostradamus, all die Kartenleger und glas-kugel-affinen Wahrsager bis hin zur Krake Paul, die bei der Weltmeisterschaft 2010 Fußballspielergebnisse voraussagte. Der Mensch will etwas über die Zukunft wissen, weil er gegenwärtige Entscheidungen und Handlungen von dem abhängig machen will, was kommen wird.«
Und das ist natürlich sehr verständlich und auch sehr gut so. Zumindest wenn die Voraussagen auf etabliertem Wissen und bereits gemachten Erfahrungen basieren. Der Ansatz, sich für die Zukunft zu rüsten, mündet zumeist außerdem auch automatisch – manchmal mehr und manchmal weniger – in die Gestaltung derselben. Um in der Gegenwart entsprechende Entscheidungen treffen zu können, muss die Zukunft auch keinesfalls hundertprozentig kalkulierbar sein. Natürlich kann und soll man hier auch mit Wahrscheinlichkeiten arbeiten. Wer das blinkende Licht der Sturmwarnung am Seeufer sieht, weiß, dass die Wettervorhersage (die noch nie so treffsicher war wie heute) eine stürmische Zukunft voraussagt. Wenn man daraufhin mit seinem Segelboot den sicheren Hafen aufsucht, nimmt man enormen Einfluss auf seine Zukunft. Spätestens seit der neolithischen Revolution hat der Wetterblick in die Zukunft eine ganz besondere Bedeutung für den Homo sapiens als Ackerbauer. Wenn man bei einem Gesundheitscheck (auch diese Checks waren noch nie so aussagekräftig wie heute) von einem erhöhten Risiko, in Zukunft an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung oder an Diabetes zu erkranken, erfährt, kann man durch eine entsprechende Adaptierung seiner Lebensgewohnheiten betreffend Rauchen, Alkohol, Ernährung, Fitness oder Stress seine Zukunft gestalten. Und unternehmerische Entscheidungen sind stets von vielen Parametern und Daten (die noch nie in einem solchen Ausmaß zur Verfügung standen und berechnet wurden wie heute) abhängig, anhand derer man versucht, dem Mysterium Zukunft etwas auf die Schliche zu kommen. Das ist quasi das tägliche Geschäft erfolgreichen Unternehmertums. Wer sich in der Gegenwart auf die Zukunft vorbereitet, gestaltet also die Zukunft auch. Es ist nachvollziehbar, ja sogar einzumahnen, dass man sich in der Gegenwart für die Zukunft, die man schon kennt, mit gerichteten, bewährten Strategien rüstet. Und wenn bewährte Konzepte dafür noch nicht existieren, macht es natürlich Sinn, solche ergebnisorientierten Strategien dafür zu entwickeln. Man kann sich aber nicht auf alles vorbereiten, und man kann sich nicht für alles rüsten. Außerdem kann es sein, dass man Abwägungen treffen muss, indem man sich auf das Wahrscheinlichste vorbereitet und dadurch das Unwahrscheinlichere jetzt einmal nicht mitberücksichtigen kann. Aber selbst wenn es nicht so wahrscheinlich ist, absichern will man sich gegen alles, was man schon weiß und was eintreten könnte. Man will sich versichern. Und jene, die uns versichern, wollen ihr Risiko dann auch noch einmal versichern – Rückversicherungen versichern Versicherungen. Wir würden uns am liebsten gegen alles Mögliche absichern. Das alles betrifft den reaktiven Anteil des Sich-Rüstens für die Zukunft. Reaktiv deshalb, weil wir uns in all diesen Fällen auf etwas einstellen, für etwas ab- und versichern und unsere Entscheidungen auf etwas abstimmen, was so oder so ähnlich schon einmal da gewesen ist. Die dabei gemachten Erfahrungen, das in diesem Zusammenhang bestehende Wissen, ermöglicht es uns, die Gegenwart entsprechend darauf abzustimmen und damit die Zukunft mitzugestalten. Und bei vielen Entscheidungen, von denen der Mensch täglich Tausende trifft, spielt Intuition auf der Basis von Erfahrungen eine große Rolle. Wir könnten gar nicht so unzählige, oft auch kleine Entscheidungen in so kurzer Zeit fällen, würden wir in jedem Fall in Ruhe darüber nachdenken müssen.
Es braucht viele neue Ideen, um Lösungen für Fragestellungen entwickeln zu können, von denen man schon weiß, dass sie kommen werden. Aber was, wenn die Zukunft so gut wie nicht beziehungsweise gar nicht bekannt ist? Was, wenn keinerlei Erfahrungen dafür zur Verfügung stehen? Und schon sieht man wieder schwarze Schwäne vor den Augen. John Casti hat in diesem Zusammenhang zum Beispiel den Begriff »X-Event« geprägt. Ein X-Event ist demnach ein von Menschen verursachtes Ereignis, das nicht genau vorhersagbar ist. Die Strategien sind natürlich ganz andere als bei gut vorhersehbaren Ereignissen, aber auch gegen X-Events kann man sich absichern (Casti: Der plötzliche Kollaps von allem, 2012). Eines der wesentlichsten Gestaltungselemente der Gegenwart ist es, etwas Neues, noch nie Dagewesenes zu schaffen, mit dem man einerseits vielleicht einmal Fragen beantworten kann, die man heute noch gar nicht kennt, weil sie erst morgen kommen. Andererseits aber sind Entdeckungen, Erkenntnisse, neues Wissen und innovative Technologien, die in der Gegenwart entwickelt werden, in der Lage, eine Zukunft entstehen zu lassen, die ohne sie nie gekommen wäre.