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Vorwort – gegen die Mitmachkrise

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»Es ist nicht wenig Zeit, die wir haben, sondern es ist viel Zeit, die wir nicht nutzen(Seneca)

Große Herausforderungen unserer Zeit wie zum Beispiel der Klimawandel, der Einfluss disruptiver Technologien auf unser Leben im digitalen Wandel, Terrorismus, die Gefahr eines Atomkrieges oder die Flüchtlingskrise erinnern ganz augenscheinlich und täglich daran, wie dringend neue kreative Ideen und innovative Konzepte auf allen Ebenen gebraucht werden. Donald Trump ist wahrlich nicht das einzige, aber ein sehr präsentes Beispiel dafür, welche Gefahren gegenwärtig von politischem Populismus ausgehen. Anlässlich des Todes des Afroamerikaners Georg Floyd empörte sich die Welt vollkommen zu Recht wieder einmal darüber, dass Rassismus den Menschen auf diesem Planeten einfach schon zu lange begleitet. Und schließlich meldete sich noch ein anderer bekannter Begleiter der Menschheit wieder einmal zu Wort – eine Pandemie. Das SARS-CoV-2-Virus machte klar, wie unverzichtbar es ist, globale aktuelle Probleme anzugehen, zeigte aber auch, wie wichtig es plötzlich sein kann, kleine, vielleicht unter anderen Umständen banal wirkende Probleme lösen zu können.

Mit dem Blick auf all die vielen neuen und alten Herausforderungen manifestiert sich das Bewusstsein darüber, dass es nun einmal vorhersehbarere und unvorhersehbarere Anteile der Zukunft – mit allen Übergängen dazwischen – gibt. Die COVID-19-Pandemie ist ein Beispiel dafür, dass das, womit sich der Mensch auseinandersetzen muss, wofür Lösungen gebraucht werden, nicht immer einfach in zwei Zukünfte, eine vorhersehbare und eine unvorhersehbare, unterteilt werden kann. So klar es ist, dass Pandemien immer wieder kommen können, so unvorhersehbar ist es, welcher Erreger wann, wie und mit welchem Ausmaß die Welt heimsuchen wird. Für so manche bereits gut bekannte Herausforderungen der Menschheit ist es schon fünf vor zwölf. Und es kommen aber mit Sicherheit demnächst andere, heute noch gar nicht bekannte Problemstellungen dazu. Konsequenterweise ergibt sich die Frage, ob die Zukunft heute vorhersehbarer ist, als sie das früher einmal war, oder ob sie weniger vorhersehbar geworden ist. Wird die Zukunft in Zeiten digitaler Revolution und Industrie 4.0, durch globale Vernetzung, nahezu uneingeschränkte Daten- und Informationsverfügbarkeit, Big Data, Predictive Analytics, das Auswerten digitaler Fußabdrücke in sozialen Netzwerken, Internet of Things und künstliche Intelligenz immer kalkulierbarer? Oder zeigen uns überraschende Wahlergebnisse, exzentrische Politikerpersönlichkeiten, Finanzkrisen, gesellschaftliche Transformationsprozesse, Fukushima, 9/11, durch Klimawandel ausgelöste, extreme Wetterereignisse oder Virus-Pandemien immer öfter, wie VUKA (volatil, unsicher, komplex und ambivalent) die Welt geworden ist? Die einen argumentieren, dass in unserer heutigen digitalisierten Datenwelt der einzelne Mensch, Kommunen, Staaten und Unternehmen so transparent, durchschaubar und »gläsern« sind wie noch nie in der Geschichte unseres Planeten. Die anderen wiederum sprechen schon immer öfter vom völligen Verlust der Vorhersehbarkeit.

Globale Einigkeit scheint aber darüber zu bestehen, dass Ausmaß und Geschwindigkeit der Veränderung enorm zugenommen haben. Das Ende der Linearität, exponentieller Wandel und permanent zunehmende Beschleunigung scheinen dazu zu führen, dass jeder täglich immer mehr vorhersehbare Dinge zu erledigen hat, aber sich auch immer öfter und immer mehr mit unvorhergesehenen Entwicklungen und Ereignissen konfrontiert sieht. Es scheint fast so, als würden in unserer schnelllebigen Welt sowohl vorhersehbare als auch unbekannte Fragestellungen immer öfter und immer schneller in unserem privaten und beruflichen Alltag aufschlagen. Das schafft für die Zukunft der Gegenwart natürlich Chancen, schürt aber auch Ängste.

Wir haben so viel erreicht! Die Welt ist so viel besser geworden! Ja, es gibt noch sehr viele ungelöste Probleme, und es kommen, oft vom Menschen selbst verschuldet, auch stetig neue dazu. Wir müssen also dranbleiben. In Anbetracht der vielen über die Medien permanent zeitgleich in jedes Wohnzimmer transportierten, globalen und lokalen Problemstellungen darf es aber nicht verwundern, dass Menschen sich und ihren Talenten immer öfter die Lösungen dafür nicht mehr zutrauen. Und unweigerlich taucht die Frage auf: »Was würde mein Beitrag schon daran ändern?« Dann nehmen politischer Frust, die Ablehnung jeglicher Andersdenkender, die Flucht in eine ausschließlich anonymisierte Beteiligung, psychische Überbelastungssyndrome und Ängste aller Art logischerweise zu. Und schon steckt man in der Mitmachkrise. Irgendwie scheint die weithin bekannte und kontinuierlich erfahrbare Tatsache, dass das Unergründbare dem Menschen mehr Angst macht als das Vorhersehbare, ja auch nachvollziehbar. Auf vorhersagbare Trends und Ereignisse kann man sich einstellen, man kann sich gerichtet auf die Fragen, die sich dabei ergeben, vorbereiten und dann die daraus abgeleiteten Leitlinien immer wieder bei solchen oder ähnlichen Situationen zum Einsatz bringen. Die Auffassung, das Unvorhersehbare entziehe sich vollkommen der Planbarkeit und man könne sich darauf nicht vorbereiten, hat sich aber ohne großen Widerspruch mehr oder weniger schleichend in die Liste der Begründungen für Untätigkeit eingereiht. Innere Widerstände gegen die Beschäftigung mit der Unvorhersehbarkeit, mit dem Unbekannten, basieren in Wirklichkeit oft auf einer übertriebenen Angst vor Kontrollverlust. Hier gilt es für das an sich vernunftbegabte Wesen Mensch, ein Konzept bereitzustellen, seine genetisch mitbestimmten evolutiv Jahrtausende alten Ängste zu überwinden. Die Vernunft weiß bereits, dass viele dieser instinktiven Ängste in unserer Zeit nicht nur ihren Nutzen verloren haben, sondern uns immer öfter einfach nur im Weg stehen. Aber für das tief verwurzelte, verinnerlichte Gefühl der Angst braucht es genauso wirkungsvolle Gegenmittel wie etwa für das Gefühl der Hilflosigkeit.

Natürlich spielen Gene bei der Entstehung von Gefühlen und dem Verhalten eine Rolle. Aber der Mensch ist bei all diesen Aspekten nicht auf seine Gene reduzierbar. Er ist das Produkt der Wechselwirkung von Genetik und Umwelt. Und die aktuellen Forschungsergebnisse auf dem Gebiet der Epigenetik, die die Brücke zwischen sozialen und biologischen Effekten schlägt, weisen darauf hin, dass der Mensch sein Leben und sein Verhalten, und gewissermaßen auch das seiner Nachkommen, noch mehr als früher angenommen, selbst in der Hand hat. Es ist richtig, dass die wissenschaftlichen Entwicklungen, die technologischen Möglichkeiten zur Veränderung von Genen betreffend, in den letzten Jahren große Schritte gemacht haben. Aber die Utopie, dass sehr bald durch Genoptimierung ein immer glücklicherer und viel leistungsstärkerer Mensch kreiert werden kann, der Lösungen für alle Probleme der Menschheit aus dem Ärmel schütteln wird, entbehrt zum aktuellen Stand der Forschung jeglicher ernsthaften wissenschaftlichen Grundlage. Wir müssen also wirklich dranbleiben. Aber wir können es ja auch.

»Ich kann, weil ich will, was ich muss(Immanuel Kant)

Ob im Kleinen oder im Großen, für die Lösung eines ganz bestimmten Problems bedarf es zuerst einmal des Erwerbes des dafür entsprechenden Wissens und des Aneignens der dafür spezifisch relevanten Kompetenzen. Das allein führt aber noch nicht zu einer neuen Idee oder einer kreativen Lösung. Dafür muss der wissende Mensch neue Wege beschreiten, motiviert Extra Miles gehen und schließlich auch entsprechend handeln. Die Voraussetzungen dafür entstehen allerdings immer nur dann, wenn das wichtigste angeborene und genetisch mitbestimmte Potenzial des Menschen – seine Lösungsbegabung – entwickelt und laufend abgerufen werden kann. Lösungsbegabung setzt sich aus vielen, auch genetischen Komponenten zusammen, die nichts wert sind, wenn wir sie nicht durch die entsprechende Umwelt zur Entfaltung bringen und im Team anwenden. Der Mensch ist einerseits das wohl lösungsbegabteste Wesen des Planeten und andererseits die alternativlose Chance auf dem Weg in eine erfolgreiche, humane, lebensbejahende Zukunft. Wie kann es also gelingen, bei uns und unseren Kindern das zum Erblühen zu bringen, was die Menschheit im Innersten zusammenhält: das mutige, kreative und kooperative Sich-Einbringen jedes Einzelnen?

Für das uneingeschränkte Erblühen der Lösungsbegabung braucht es in Zukunft eine neue Gegenwart. Es braucht eine neue duale Gegenwartskompetenz mit der Bereitschaft, sich permanent gleichzeitig mit bereits voraussagbaren, aber auch mit noch unvorhersehbaren zukünftigen Fragestellungen zu beschäftigen. Sowohl gerichtete, also fokussierte, orientierte, zielstrebige Strategien als auch ungerichtete, also flexible, ergebnisoffene Strategien sollen dabei laufend parallel zur Anwendung kommen. Das richtige Mischungsverhältnis dieser beiden Vorgehensweisen immerzu an sich ändernden Rahmenbedingungen zu reiben und dadurch zu optimieren, ist eine unverzichtbare Komponente einer von individuellem mutigem Einsatz geprägten, zukunftsorientierten Gegenwart. Erst aus der Umsetzung solch eines dualen Ansatzes entstehen die fünf Fundamente für die Entfaltung der Lösungsbegabung: 1) Mut aus Sicherheit, 2) die gegenseitig beflügelnde Wechselwirkung der Instrumente gerichteter und ungerichteter Strategien, 3) das Fördern von Schnittstellen zwischen verschiedenen Disziplinen und Kulturen, 4) ein gesteigerter Kreativitätsprozess und 5) das Aufrechterhalten der Chancen für Serendipität, also auch etwas finden zu können, was man nicht gesucht hat. Solch ein Konzept soll Einzug halten in der Bildung, im Talent- und Personalmanagement, in Wissenschaft und Forschung, der Politik, der Arbeitswelt und unserem Privatleben. Das Ziel ist, dass jeder Einzelne seine Lösungsbegabung entfalten kann und sich damit kooperativ für Lösungen aktueller Problemstellungen einbringen kann.

1)Es braucht Mut, sich durch gerichtete Konzeptplanung auf zwar vorhersagbare, aber eben noch nicht gelöste Fragen der Zukunft vorzubereiten. Und es braucht noch viel mehr Mut, sich auf das Unbekannte vorzubereiten. Wenn ich weiß, was kommt, bereite ich mich gewissenhaft und zielgerichtet darauf vor, um dadurch eine sehr wahrscheinliche und realistische Chance auf Erfolg zu nutzen. Das schafft Sicherheit und dadurch gleichzeitig die Basis für den Mut und die Risikobereitschaft, auch den bisher bewährten Weg immer wieder einmal in andere Richtungen zu verlassen. Für das Unvorhersehbare muss ich in der Gegenwart durch höchstmögliche Individualität, Flexibilität und Diversität Konzepte und Strategien entwickeln und bereithalten, um auch Antworten auf Fragen zu ermöglichen, die ich heute noch gar nicht kenne. Man kann und soll sich für beides rüsten, um beides zu gestalten. Und das sollte man immer machen und immer jetzt machen.

2)Es gibt kein noch so bewährtes Handeln, das nicht auch noch verbesserbar ist. Es gibt keine noch so sichere Strategie, die nicht noch inkrementell optimierbar ist. Wenn man parallel immer wieder ungerichtete Strategien, vielleicht sogar mit der Hoffnung auf radikale Ansätze, verfolgt, können die dabei entstandenen Erfahrungen, die dabei gefundenen Lösungen und die dabei gemachten Fehler unglaublich befruchtend für den »bisher so erfolgreichen Lebensweg« und »das noch so bewährte Handeln« sein. »Es war schon immer so« und »So hat es immer funktioniert« heißt nicht, dass sich die Zeiten nicht ändern können oder dass es nicht noch besser geht. Umgekehrt bilden all das Wissen, all die Erfahrungen und all das Können aus den Kernbereichen der sicheren bewährten Strategien einen mächtigen Pool an (Human-)Ressourcen, Netzwerken und Handwerkszeug, um die Erfolgswahrscheinlichkeit neuer, vielleicht riskanterer Strategien zu beflügeln.

3)Die der menschlichen Natur grundsätzlich innewohnende Neugier auf andere Disziplinen beziehungsweise Kulturen soll stimuliert werden. Berührungsängste gegenüber anderen gilt es zu schmälern. Auch hierbei müssen dem wissenden Menschen unbedingt entsprechende Erfahrungen als Basis für sein zukünftiges Handeln ermöglicht werden. Schließlich bergen Ideen, die an den Schnittstellen zwischen verschiedenen Fachgebieten und Kulturen geboren werden, höchstes Potenzial dafür, neue Lösungen und Innovationen zu initiieren. Genau solche Ideen entstehen gern dann, wenn man in seiner eigenen Disziplin mutig gerichtet und ungerichtet gestaltet und sich gleichzeitig auch mit anderen Fachbereichen, Ansichten und Herangehensweisen beschäftigt, um zu lernen und um sich zu rüsten.

4)Auch ein kreativer Prozess entspringt der Wechselwirkung zwischen Genen und Umwelt. Er ist die Quelle für neue Problemlösungsansätze mit bisher nicht bedachten Mitteln. Um etwas Neues zu erschaffen, muss unterschiedliches Wissen miteinander verknüpft werden, beziehungsweise müssen bereits bestehende Lösungsansätze in anderen Zusammenhängen gedacht und schließlich angewendet werden. Das Erarbeiten solcher Neukombinationen beziehungsweise bisher noch nicht erkannter Verflechtungen setzt einerseits den Zugang zu verschiedenen Eindrücken, Informationen, Erfahrungsschätzen und Lösungskonzepten voraus und baut andererseits auf der Bereitschaft, der Motivation, der Flexibilität und auch dem Mut auf, solche neuen Zusammenhänge zu denken. Kreative Ansätze folgen einem dialektischen Prinzip, das im Wechselspiel zwischen Bekanntem und Unbekanntem, zwischen Wissen und Fantasieren, zwischen diszipliniertem Denken und Experimentierfreude, zwischen Struktur und Freiraum, zwischen der eigenen Kernkompetenz und einem Out-of-the-box-Denken erblüht. Das Hin- und Hergehen zwischen gerichteten und ungerichteten Strategien macht aus den Menschen Querdenker, steigert die Möglichkeiten für Inspirationen und fördert kreative Prozesse.

5)Um sich immer wieder einzubringen, bedarf es lebenslanger kontinuierlicher Bereitschaft, dazuzulernen und auszuprobieren. Das Erschaffen von neuen Lösungsansätzen ist kein einmaliges Ereignis, sondern eine immerzu fortlaufende Entwicklung. Gegenwart ist kein Event, sondern ein Prozess. Dafür muss sich jeder Einzelne auf den Weg machen, immer weitergehen und mit offenen Augen und Ohren wachsam bleiben, um Chancen und neue Lösungen erkennen zu können, wenn sie sich bieten. Wer im Heute konsequent in Bewegung ist, kann in Zukunft Dinge finden, die er nie gesucht hat.

Der 2017 verstorbene Gesundheitsstatistiker Hans Rosling bezeichnet in seinem letzten Buch Factfulness: Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist mit Possibilisten Menschen, die weder unbegründeten Hoffnungen anhängen noch sich durch unbegründete Befürchtungen ängstigen lassen, Menschen also, die sich konstant der überdramatischen Weltsicht widersetzen. Hans Rosling sagte über sich selbst: »I’m a very serious ›possibilist‹«. Machen wir doch uns und den nächsten Generationen das Angebot, Ermöglicher zu werden durch die Förderung des gegenwartskompetenten Einsatzes des wichtigsten Potenzials des Menschen – der Lösungsbegabung. Nach einem Vortrag kam einmal eine Zuhörerin zu mir und sagte: »Der Mensch hat doch eigentlich gar keine Ausreden – er muss für die Probleme unserer Zeit einfach Lösungen entwickeln!« Ich habe nicht widersprochen.

Markus Hengstschläger, Hinterbrühl, Kitzbühel, 2020

Die Lösungsbegabung

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