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3 Religion und Kultur der Judäer – Das Judentum in der frühen Kaiserzeit

(Differierende Formen)

Das antike Judentum stellte keine Einheit dar, sondern war ausgesprochen vielfältig. Die verschieden ausgerichteten Bezüge auf die Traditionen Israels, die politischen und kulturellen Veränderungen der Zeit sowie die unterschiedlichen Kontexte, in denen sich jüdisches Leben entfaltete, trugen dazu bei, dass differierende Formen von Judentum entstanden. Die folgende Übersicht kann dieser Diversität nur zum Teil gerecht werden, zumal sie auf die ersten beiden Jahrhunderte n. Chr. konzentriert ist.

(Quellen)

Die Quellen für die Formen des Judentums sind vielfältig: Auf Josephus geht die berühmte Darstellung der jüdischen „Parteien“ zurück (ant. 13,171–173; 18,11–25; bell. 2,118–166). Philo von Alexandrien gewährt Einblicke u. a. in das jüdische Leben der hellenistischen Diaspora in Ägypten. Dazu treten zahlreiche Texte aus hellenistisch-römischer Zeit, die auf unterschiedliche Gruppierungen des Judentums zurückgeführt werden. Ebenso sind aber auch Papyri und Inschriften von hohem Stellenwert, da sie oft jenseits der literarischen Zeugnisse Einblicke in die konkreten Zustände gewähren. Dabei sollte unbedingt beachtet werden, dass sich die überwiegende Mehrzahl der Judäer und Judäerinnen selbst keiner konkreten Partei bzw. Schule zuordnete, sondern eine Orientierung an zentralen Grundgedanken und Praktiken als bestimmendes Merkmal der ethnischen und religiösen Identität ansah.

3.1 Elemente judäischer Identität

Trotz der verschiedenen Ausprägungen des Judentums im 1. und 2. Jh. n. Chr. lassen sich einzelne Grundelemente beschreiben, die in unterschiedlicher Gewichtung in allen Bereichen des Judentums – sowohl in Palästina als auch in der Diaspora – zu erkennen sind. Sie spielten auch im entstehenden Christentum eine maßgebliche Rolle.

3.1.1 Monotheismus

(Ein Gott: JHWH)

Die Entwicklung des Glaubens an JHWH, den Gott Israels, führte nach der Zerstörung des 1. Jerusalemer Tempels (597 v. Chr.) in Teilen der israelitischen Prophetie zu einer Veränderung des Gottesbildes. Während man in früheren Phasen der israelitischen religiösen Entwicklung erkennen kann, dass die Verehrung nur des einen Gottes JHWH (Monolatrie) bzw. JHWHs als höchstem Gott (Henotheismus) als Proprium Israels galt, entwickelte sich in der Exilszeit die Ansicht, dass es überhaupt nur einen Gott, nämlich JHWH, gebe (exklusiver Monotheismus). Dieser sei also nicht nur der Gott Israels, sondern der einzige Gott für alle Menschen (vgl. z. B. Jes 43,10f.; 45,14). Im 1. und 2. Jh. n. Chr. gehört diese Überzeugung zum festen Bestand judäischer Identität und wurde auch von Außenstehenden als Charakteristikum des Judentums wahrgenommenen (z. B. Arist. 132; Tacitus, hist. 5,5,4). Die Bedeutung des Monotheismus für das antike Judentum zeigt sich u. a. in der Bedeutung des Sch’ma Israel (Dtn 6,4) für die alltägliche Religiosität. Der ursprünglich als Ermahnung zur Monolatrie intendierte Ruf wurde als Formel zur Beschreibung des Monotheismus verstanden, als Gebet rezitiert und in Form von Amuletten getragen:

„Höre, Israel: JHWH ist unser Gott, JHWH allein!“

(Monotheismus im frühen Christentum)

Auch in der Jesustradition (Mk 12,28f. par), bei Paulus (1Kor 8,6) und in späteren Traditionen (Eph 4,6; 1Tim 2,5; Jak 2,19) spielt diese Formel konstant eine Rolle. Der Monotheismus des antiken Judentums implizierte die Ablehnung aller anderen Götter und entsprechender kultischer Handlungen. Er führte daher an sich schon zu einer mehr oder weniger deutlichen Abgrenzung gegenüber Angehörigen anderer Völker, auch wenn es unter philosophischer Perspektive auch bei Griechen und Römern eine Tendenz zum Monotheismus gab (s. o. S. 49).

3.1.2 Erwählung, Bund und Tora

Der einzige Gott, JHWH, hatte sich Israel – so die heilsgeschichtliche Bezeichnung für das judäische Volk – unter allen Völkern erwählt, mit ihm einen Bund geschlossen und ihm das Gesetz als Bundesordnung gegeben.

(Erwählung)

Die Erwählung Israels durch Gott wird im Alten Testament und in Texten des frühen Judentums immer wieder in den Vordergrund gestellt, steht aber oft auch unausgesprochen im Hintergrund. Laut Dtn 7,6–8 ist Israel ein Gott geheiligtes Volk, ausgewählt aus den Völkern aufgrund der Liebe JHWHs (vgl. auch Jes 43,20f.). So sehr diese Überzeugung immer wieder durch Geschichtsereignisse ins Wanken geriet, blieb der Gedanke der Erwählung doch ein bestimmendes Moment des antiken Judentums. Er wird u. a. in der Apokalyptik deutlich (z. B. 4Esr 5,27), in den Qumrantexten (z. B. 1QS 4,22) oder bei Philo von Alexandrien (z. B. post. 89). Dabei ist allerdings zu beachten, dass der Erwählungsgedanke mehr und mehr auf eine bestimmte Gruppe innerhalb Israels – „die Gerechten“ oder „die Söhne des Lichts“ – eingeschränkt oder, wie bei Philo, zu einer Individualerwählung umgedeutet wurde. Denn die Erwählung des Volkes bedeutet zugleich die Verpflichtung zum Bundesgehorsam, dessen Einhaltung zur Bedingung des Verbleibs im Bund wird. Damit wird aber auch Israel beauftragt, seiner Erwählung im Glauben und Handeln zu entsprechen.

(Bund)

Die Vorstellung eines Bundes Gottes mit Israel, sei es unter Verweis auf den Bundesschluss mit Abraham (Gen 15,18; 17,1–21) oder mit Mose (Ex 19; 24; 34), stellt ebenfalls ein Kontinuum des antiken Judentums dar. Sie kommt u. a. im Sirachbuch (44f.), im Buch der Jubiläen (15,26–29) und in der rabbinischen Literatur (z. B. MekhJ Shirata 10) immer wieder zum Ausdruck. Allerdings zeigt sich in den Qumrantexten, dass es auch möglich war, den Bund – wie die Erwählung – nur einer kleinen Gruppe aus Israel zuzusprechen, dem sogenannten „neuen Bund“ (z. B. CD 6,19; vgl. Jer 31,31). Bei Philo von Alexandrien tritt der Bundesgedanke hingegen zurück: Judäer seien vielmehr Mitglieder der „Bürgerschaft des wahren Lebens“ (virt. 219).

(Tora)

Die Tora (hebr. tôrāh „Weisung“), die im Griechischen als „das Gesetz“ bezeichnet wird (ὁ νόμος/ho nomos) und die fünf Bücher Mose umfasst, war für das antike Judentum dasjenige Textkorpus, in dem die bindenden Traditionen der Vorväter sowie jene Merkmale festgehalten wurden, die die ethnische Identität des Judentums bestimmen sollten. Sie wurde als jene Ordnung verstanden und interpretiert, die Gott durch Mose seinem erwählten Volk gegeben hatte, damit dieses den mit Gott geschlossenen Bund einhalten konnte. Die Tora sollte also nicht primär zu guten Werken anleiten, die vor Gott beim Gericht vorgebracht werden konnten, sondern als Weisung zum Verbleib im Bundesverhältnis. Diese Grundausrichtung kann als „Bundesnomismus“ bezeichnet werden, wenngleich dieser in sehr unterschiedlichen Spielarten gedacht wurde.

(Die Bedeutung des Gesetzes)

Mose galt sowohl als Verfasser der Tora (vgl. Dtn 1,1) als auch als Gesetzgeber (z. B. Josephus, c. Ap. 2,153f.). Ebenso wird immer wieder festgehalten, dass die Tora Gottes Gabe an Israel darstellt (z. B. Ex 24,3). Sie regelt umfassend alle Bereiche der Gesellschaft: Sie ist kultisches Gesetz, wenn sie u. a. die Einzigkeit des Jerusalemer Heiligtums, die Opferhandlungen und die priesterlichen Familien festlegt. Sie ist politische Ordnung, indem sie den Priestern die beherrschende Stellung im Staat zuspricht. Ihre Bestimmungen zu Ehe und Familie, zu Sexualität, zu reinen und unreinen Speisen, zu Wirtschafts- und Fremdenrecht u.v.m. umgreifen alle Lebenskontexte. Josephus gewährt einen Einblick in die Wahrnehmung der Tora durch einen gebildeten Judäer, der griechisch-römischen Lesern plausibel machen will, wodurch sich die Tora im Kontext antiker Gesetzestraditionen unterscheidet (c. Ap. 2,146):

„Unsere Gesetze geben die beste Anleitung zur Gottesfurcht, zur Gemeinschaft miteinander und zur umfassenden Menschenfreundlichkeit, sowie zur Gerechtigkeit, zur Ausdauer in Beschwerden und zur Todesverachtung.“

(Die Tora im frühen Christentum)

Die Bindung an die Tora stellte eine der größten Herausforderungen für die Identitätskonstruktionen des frühen Christentums dar, wie im Laufe der folgenden Darstellung wiederholt deutlich werden wird (s. u. 10 u. 13). Auch die Frage, welche Bedeutung die Erwählung Israels und der Bund Gottes mit seinem Volk angesichts der endzeitlichen Zuwendung Gottes in Jesus Christus haben könnte, wurde gerade angesichts der nur geringen Akzeptanz des Evangeliums unter Judäern virulent (vgl. Röm 9–11). Die heiligen Schriften Israels, in ihrer hebräischen Form oder in der griechischen Übersetzung, waren selbstverständlicher Ausgangspunkt und Maßstab für das Verständnis des Christusereignisses, wenngleich unter einem neuen, veränderten Blickwinkel.

3.1.3 Jerusalem und der Tempel

(Die religiöse Bedeutung des Tempels)

Die Bedeutung des Jerusalemer Heiligtums wird in den heiligen Schriften Israels sowohl in der Tora (v. a. Dtn 12,13–28) als auch in der sog. Zionstheologie (z. B. Ps 9,12; Am 1,2; Jes 14,32), die den Tempelberg als Gottes Wohnstätte versteht, zum Ausdruck gebracht. Der Tempel wurde als der zentrale Ort angesehen, an dem Gott – bilderlos – verehrt wird. Die Vorstellungen von Gottes Anwesenheit im Tempel und der Heiligkeit seiner Stadt Jerusalem wurden weithin geteilt (vgl. z. B. Mt 23,21; Josephus, bell. 6,300), auch wenn es Gegenstimmen gab (z. B. Jes 66,1f.; Apg 7,48). Der Alexandriner Philo betrachtete Jerusalem als seine Mutterstadt (Flacc. 46), obwohl er sie nur einmal in seinem Leben besucht hatte. Judäer aus Palästina und der Diaspora finanzierten durch die Tempelabgabe den Kult (s. u. S. 76) und pilgerten zu den Festzeiten nach Jerusalem, denn der Tempel war der einzige Ort, an dem die durch die Tora vorgeschriebenen Opfer dargebracht werden konnten. Das Verhältnis Gottes zu Israel, das in Tora, Bund und Erwählung sprachlich zum Ausdruck kam, wurde im Tempel mit seinem Kult konkret erfahrbar.

Das Heiligtum selbst wie auch die gesamte Anlage wurden von Herodes dem Großen seit 20/19 v. Chr. zu einer der prächtigsten Kultstätten des Mittelmeerraums ausgebaut. So nennt etwa Plinius der Ältere Jerusalem „die berühmteste Stadt des Ostens“ (vgl. nat. hist. 5,70). Angeführt vom amtierenden Hohepriester vollzogen Priester und Leviten aus 24 Klassen im Turnus den Kult. Dessen korrekte Durchführung war von so hoher Bedeutung, dass sich wegen Streitigkeiten über den richtigen Ablauf u. a. die Gemeinschaft, auf die die Qumranschriften zurückgehen, vom Jerusalemer Tempel trennte (s. u. 3.2.3). Schon deutlich früher hatten sich die Samaritaner u. a. wegen des Anspruchs Jerusalems, allein die Wohnstätte Gottes zu beherbergen, von Israel getrennt (s. u. 3.3).

(Die wirtschaftliche Bedeutung des Tempels)

Der Tempel war aber nicht nur religiöses Zentrum, sondern auch in wirtschaftlicher Hinsicht ein wichtiger Faktor für die Jerusalemer Bevölkerung. Nicht nur die Pilger sind hier zu nennen, sondern auch die Jahrzehnte dauernden Bauarbeiten, die Funktion des Tempelgeländes als Marktplatz und als durch heiliges Recht geschützte Bank. Die Zerstörung dieses zentralen Elements judäischer Identität im Jahr 70 n. Chr. bedeutete daher einen Einschnitt in der Geschichte des antiken Judentums (s. u. 3.5.1).

(Der Tempel im frühen Christentum)

Die Ereignisse um Jesu Tod und Auferstehung sowie das Entstehen der ersten Gemeinschaften von Christusgläubigen banden die Geschichte des frühen Christentums von Beginn an an die Stadt Jerusalem und den Tempel als ihr religiöses Zentrum. So unterschiedliche Texte wie die Paulusbriefe, die Apostelgeschichte, der Hebräerbrief und die Johannesapokalypse zeigen, dass die Stadt und ihr Heiligtum, wenngleich in einer von der realen Situation losgelösten Weise, weiterhin wichtige Punkte waren, an denen sich frühchristliche Identitätsbildungen orientierten (Gal 4,25f.; Röm 15,19; Apg 1,8; Hebr 12,22; Apk 21,10).

3.1.4 Jüdische Identitäten im Diskurs

(Zugehörigkeit zum judäischen Volk)

Für das antike Judentum war die Zugehörigkeit zum erwählten Volk durch mehrere Faktoren bestimmt, die in der Tora festgelegt waren: die Abstammung von Abraham bzw. Jakob/Israel, die Beschneidung der männlichen Mitglieder des Volkes, die Einhaltung von Bestimmungen zu Reinheit, Speisen, Sabbat und weiteren Festen sowie die Verheiratung innerhalb des Volkes (Endogamie). In der Diaspora war auch die Zugehörigkeit zu einer Synagoge ein wichtiges Element judäischer Identität.

Allerdings ist gegen jede Generalisierung dieser verschiedenen Identitätsmerkmale einzuwenden, dass ihre Gewichtung unterschiedlich ausgeprägt war bzw. nicht alle Faktoren von jedem Judäer und jeder Judäerin für gleich wichtig gehalten wurden. So zeigt der Streit über eine Annäherung an Gesetze und Kultur anderer Völker, wie er in 1Makk 1,11–15 dargestellt wird, dass über die Bedeutung einzelner Identitätsfaktoren heftig gestritten wurde. Das schließt auch ein, dass die Festlegung judäischer Identität jeweils unterschiedlich vorgenommen wurde. Manche Elemente waren zudem aus der Außenperspektive besonders auffällig, während andere lediglich für einzelne Gruppen innerhalb des Judentums von großer Wichtigkeit waren.


Karte 2: Der Jerusalemer Tempel

(Beschneidung / Speiseregeln / Sabbat / Endogamie)

Ein paar Beispiele zeigen eindrücklich die unterschiedliche Gewichtung von Identitätsmerkmalen in verschiedenen Kontexten durch die jeweiligen Handlungsträger: Im Zuge der Hellenisierung im 3. Jh. v. Chr. stand etwa die Beschneidung zur Disposition, die aus griechisch-römischer Perspektive als barbarisch eingeschätzt wurde (vgl. 1Makk 1,48.60; 2,45–48; Philo, migr. 89–94). Ähnliche Diskussionen wurden auch über die Beachtung von Speiseregeln geführt, die in der Praxis am schwierigsten einzuhalten waren (2Makk 6,18; 7,1; Arist. 184; Josephus, c. Ap. 2,173f.; vgl. Tacitus, hist. 5,5,1f.). Die in der Jesustradition überlieferten Streitigkeiten über die Umsetzung des Sabbatgebots spiegeln die unterschiedlichen Perspektiven darauf wider (Mk 2,23–3,6; vgl. Sueton, Aug. 76,2). Die Bedingung, nur Angehörige des eigenen Volkes zu heiraten (Num 25,6–8; vgl. Tacitus, hist. 5,5,5), wurde in persischer Zeit nachdrücklich eingeschärft (vgl. Esr 9f.). Immer wieder wurden solche Verbindungen zwischen Juden und Nicht-Juden scharf verurteilt, sodass wahrscheinlich ist, dass sie – in welcher Häufigkeit, lässt sich nicht sagen – durchaus vorkamen. Das zeigt sich in unterschiedlichen Schriften des frühen Judentums, sowohl bei solchen aus einem griechisch geprägten Kontext (Arist. 139; Philo, spec. leg. 3,29; Josephus, ant. 8,192) als auch bei Schriften radikaler Randgruppen (vgl. Jub 30; 4QMMT [396] Frg. 2 col.ii 4–11). Das bekannteste Paar waren in dieser Hinsicht Drusilla, die Schwester Agrippas II., und der römische Prokurator Felix (Apg 24,24; Josephus, ant. 20,142f.; vgl. Apg 16,1).

(Abstammung)

Die Ansicht, dass ethnische Identität durch Abstammung festgelegt wird, war in der Antike nicht allein maßgeblich. Das wird z. B. daran erkennbar, dass im 1. Makkabäerbuch die griechischen Spartaner aus politischen Gründen zu Verwandten der Judäer gemacht werden (1Makk 12,20–23). Auch die heute im Judentum gültige Ableitung jüdischer Herkunft von der Mutter galt nicht immer, wie die zahlreichen genealogischen Angaben des Alten Testaments (z. B. 1Chron 1–9) oder auch zu Jesus (Mt 1; Lk 3) erkennen lassen, in denen die Väter die Zugehörigkeit zum Volk Israel bestimmen. Erst ab dem 2. Jh. n. Chr. wurde dies, offenbar als Verarbeitung der Versklavungen und Vergewaltigungen im Zusammenhang der judäischen Aufstände, auf die mütterliche Linie geändert (mQid 3,12). Dass die genealogische Herkunft aber nicht als allein entscheidendes Kriterium galt, zeigen auch jene Fälle, in denen entweder Judäer ihre judäische Identität aufgaben – wie z. B. Tiberius Alexander (s. u. S. 74) – oder Nicht-Judäer als Proselyten Teil des Volkes wurden (s. u. 3.8).

(Streit um judäische Identität)

Die gesellschaftliche Abgrenzung zu Nicht-Juden bei Mählern, öffentlichen Spielen oder in Vereinigungen war ein andauernder Diskussionspunkt innerhalb des antiken Judentums. Überliefert sind dazu etwa unterschiedliche Ansichten des Josephus (ant. 15,267–276) und des Philo (ebr. 20–26.177; prob. 26.141; prov. 58). In rabbinischen Texten wurden aktive und passive Teilnahme an Theateraufführungen und Wettkämpfen kritisch gesehen (tAZ 2,5–7; bAZ 18b). Die Bedeutung des Tempels stand bereits bei den Propheten zur Debatte (Am 5,21–23; Jes 1,10–17), die Qumranschriften dokumentieren eine deutliche Distanz zum vorfindlichen Kult (CD 5,6–13; 6,11–19; 1QpHab 12,8f.). Im ägyptischen Leontopolis stand sogar ein eigener JHWH-Tempel, der erst 71 n. Chr. von den Römern geschlossen wurde. Auch die Vorstellung der Vereinbarkeit von judäischer Identität mit anderen Kulten lässt sich an einigen wenigen Zeugnissen erkennen (IJO I Ach45; IJO II 21).

Die ethnische Identität der Judäer war also nicht fixiert durch ein unumstößliches Set von Identitätsmerkmalen, sondern umstritten und veränderbar. Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass es nicht nur unterschiedliche Formen von Judentum in der Antike gab, sondern dass sich diese auch gegenseitig die judäische Identität absprachen. Dies geschah nicht nur im Hinblick auf christliche Gemeinden, sondern ebenso gegenüber anderen Gruppen. Vor allem in frührabbinischer Zeit wurde dies verstärkt betrieben, wie der Fluch gegen die Minim („Ketzer“) im 18-Bitten-Gebet, dem Schemone Esre, zeigt (s. u. S. 271).

3.2 Gruppen innerhalb des Judentums in Judäa und Galiläa

Vor allem aus den Schriften des Josephus, aber auch aus den Evangelien, von Philo von Alexandrien sowie aus den Texten, die in Qumran gefunden wurden, lassen sich verschiedene Gruppierungen innerhalb des Judentums in Judäa und Galiläa rekonstruieren. Josephus selbst beschreibt sie mehrfach, u. a. in ant. 13,171–173:

„Um diese Zeit gab es bei den Judäern drei Schulen, welche über die menschlichen Verhältnisse verschiedene Lehren aufstellten, und von denen eine die der Pharisäer, die zweite die der Sadduzäer und die dritte die der Essener hieß. Die Pharisäer behaupten, dass manches, aber nicht alles das Werk des Schicksals sei, manches dagegen auch freiwillig geschehe oder unterbleibe. Die Essener hingegen lehren, alles stehe unter der Macht des Schicksals, und es komme bei den Menschen nichts vor, das nicht vom Geschick bestimmt sei. Die Sadduzäer endlich wollen überhaupt nichts vom Schicksal wissen und glauben, es gibt weder ein Schicksal, noch richte sich des Menschen Geschick danach, sondern alles geschehe nur nach unserem Willen, sodass wir ebenso die Urheber unseres Glückes seien, als wir auch unser Unglück uns durch unseren eigenen Unverstand zuzögen.“ (Übersetzung nach H. Clementz, Jüdische Altertümer, Wiesbaden 2004 [1899], 610.)

Zum richtigen Verständnis dieser Gruppierungen ist allerdings zu beachten, dass die meisten Judäer und Judäerinnen nicht zu ihnen gehörten, sondern zu jenem breiten Strom des antiken Judentums, der sich an den zentralen Elementen judäischer Identität (s. o. 3.1) orientierte und versuchte, sein Leben nach diesen auszurichten.

3.2.1 Sadduzäer

(Sadduzäer)

Die Sadduzäer, die sich auf den Priester Zadoq als ihren Ahnherrn (2Sam 8,17; 15,24–29) beriefen, stellten den Großteil der Jerusalemer Eliten (Josephus, bell. 2,166; ant. 13,297). Sie waren konservativ orientiert und hielten den in der Tora festgelegten Willen Gottes für die einzige bindende Vorgabe zu einem Leben im Bund. Die mündliche Überlieferung zur Toraauslegung war für sie daher unbedeutend (ant. 18,16). Die Sadduzäer betonten die Eigenverantwortlichkeit des Menschen (ant. 13,173; bell. 2,164) und den Tun-Ergehen-Zusammenhang der altisraelitischen Weisheitsliteratur: Gott werde dafür sorgen, dass es jenen, die seinen Willen tun, gut gehe, während jene, die diesen nicht tun, sich letztlich selbst schadeten. Die Vorstellung eines Lebens nach dem Tod und die Auferstehungshoffnung lehnten sie daher auch ab (Mk 12,18; Apg 23,8; Josephus, bell. 2,165). Im Neuen Testament begegnen sie in der synoptischen Tradition als Gegner Jesu (Mk 12,18–27 par; Mt 16,1–12; vgl. Mt 3,7) sowie in der Apostelgeschichte als Feinde der Christusgläubigen (Apg 4,1–3; 5,17; 23,6–8).

3.2.2 Pharisäer

(Pharisäer)

Die Pharisäer waren die religiösen und politischen Gegenspieler der Sadduzäer, was vor allem damit zusammenhing, dass sie den engen Konnex von Herrschaft und Kult ablehnten, der sich seit der Herrschaft des Hasmonäer vor allem unter Johannes Hyrkan I. (135–104 v. Chr.) etabliert hatte. Wichtig war ihnen neben der Tora auch die mündliche Auslegung, „die väterlichen Überlieferungen“ (Gal 1,14; Mk 7,3–5; Josephus, ant. 13,297f.), die die Lebbarkeit der Gebote Gottes im Alltag sichern sollte. Die Heiligung Israels durch ursprünglich nur für Priester vorgesehene Reinheits- und Speiseregeln (vgl. Mk 7,3–5) sollte dazu führen, dass das gesamte Land zum Heiligtum Gottes wird (vgl. Ex 19,6). Zudem wird den Pharisäern eine besonders genaue Kenntnis der Tora zugeschrieben (bell. 1,110; ant. 17,41; vita 191). Der Glaube an eine postmortale Existenz (bell. 2,163; Apg 23,8) zeichnete sie ebenso aus wie die Überzeugung, dass das menschliche Geschick zum Teil vorherbestimmt, zum Teil selbst gewählt sei (bell. 2,163; ant. 13,172).

(Pharisäer nach 70 n. Chr.)

Es handelte sich bei den Pharisäern um eine reformerische Laienbewegung, die in Judäa und Galiläa relativ weit verbreitet war und vor allem in städtischen Schichten jenseits der herrschenden Eliten ihre Anhänger hatte. Die Pharisäer hatten allerdings durchaus auch politischen Einfluss. Inwieweit in der Phase der Neuorientierung des Judentums nach der Zerstörung des Tempels (70 n. Chr.) die pharisäische Richtung zur entscheidend prägenden Kraft wurde, ist nicht eindeutig zu bestimmen. Sie spielen in der rabbinischen Literatur eine überraschend geringe Rolle, doch sollte der Einfluss pharisäisch geprägter Traditionen auf die rabbinische Bewegung auch nicht unterschätzt werden. Sowohl mit der Jesusbewegung als auch mit dem frühen Christentum standen Pharisäer in wechselseitigen und polemisch geführten Auseinandersetzungen (vgl. z. B. Mt 23,1–36), die vor allem durch die ideologische Nähe bedingt waren. Aber auch von christusgläubigen Pharisäern ist die Rede (Apg 15,5), und Paulus beschreibt sich selbst als Pharisäer (Phil 3,5).

3.2.3 Essener und die Qumrangemeinschaft

(Essener)

Die Essener werden von Josephus (bell. 2,119–161; ant. 13,171–173; 15,371–379; 18,18–22) und Philo von Alexandrien (prob. 72–87; apol. bei Euseb, praep. ev. 8,11,1–18) als jüdische Gemeinschaft beschrieben, in der hellenistische Ideale vorbildlich umgesetzt waren und jüdisch-hellenistische Philosophie gepflegt wurde (vgl. auch Plinius d. Ä., nat. hist. 5,73). Die strikte Einhaltung der Vorschriften der Tora, Enthaltsamkeit, gemeinschaftiches Leben, Gemeinschaftsbesitz und Distanz zum Tempelkult waren nach diesen Darstellungen u. a. Kennzeichen der Essener. Ihre etwa 4000 Mitglieder sollen in kleinen Vereinigungen über ganz Judäa verteilt gelebt haben. Josephus erwähnt zudem ein Essener-Tor in Jerusalem (bell. 5,145).

(Der Ort Qumran)

Die Mehrheit der Forschung setzt die Essener mit jener Bewegung gleich, die sich aus Texten rekonstruieren lässt, die in elf bzw. zwölf Höhlen in Qumran unweit von Jericho gefunden wurden. Die bauliche Anlage von Qumran, bestehend aus einer Siedlung mit Reinigungsbädern, Versammlungs- und Wirtschaftsräumen sowie Friedhöfen mit über 1100 Gräbern, wurde im Jahr 68 n. Chr. zerstört. Die Interpretation des Ortes als Zentrum einer religiösen Gemeinschaft hängt eng mit den entdeckten Schriften zusammen.

(Texte von Qumran)

Die ca. tausend zumeist fragmentarischen Texte aus den Höhlen von Qumran stammen zum weitaus größeren Teil nicht aus der „essenischen“ Gemeinschaft. Die meisten sind Abschriften von Bibeltexten oder frühjüdischen Büchern. Allerdings lässt sich aus einigen Schriften eine religiöse Gruppe mit einem spezifischen Profil erkennen. Unter den gefundenen Manuskripten finden sich Gemeinderegeln (1QS, 1QSa, 1QSb; vgl. auch CD), exegetische Schriften, die als Pesharim bezeichnet werden, weisheitliche und poetisch-liturgische Texte. Die Gemeinschaft bezeichnete sich selbst als jahad („Vereinigung“) oder „Neuer Bund“.

(Qumran-Judentum)

Die Ansichten des jahad von Qumran orientierten sich an einem dualistischen und deterministischen Weltbild. Die Auferstehungsvorstellung ist hier ebenso zu finden wie die Forderung radikaler Einhaltung der Toravorschriften. Die Gemeinschaft stand mit der zeitgenössischen Tempelführung ebenso in scharfem Konflikt wie mit den Pharisäern. Reinheitsfragen und die Einhaltung des solaren Kalenders waren ihr besonders wichtig. Als der letzte treue Rest Israels erwartete sie für die nächste Zukunft eine entscheidende kriegerische Auseinandersetzung, die Israel zu neuer Größe führen würde, sowie zwei Messiasse, einen priesterlichen und einen königlichen.

(Qumran und frühes Christentum)

Im Neuen Testament werden die Essener bzw. Qumran nicht erwähnt. Versuche, einzelne Figuren der frühchristlichen Tradition wie Johannes den Täufer, Jesus, Paulus oder Jakobus mit dieser Gruppe zu verbinden, haben sich nicht bewährt. Das Schweigen frühchristlicher Texte bedeutet allerdings nicht, dass nicht in einzelnen theologischen Perspektiven sowie religiösen Praktiken eine Nähe zu dieser besonderen Form des Judentums bestand. Erwogen wird dies u. a. für das Johannesevangelium, einzelne Paulustraditionen oder auch für Teile der synoptischen Überlieferung.

3.2.4 Apokalyptische Bewegungen

(Apokalyptik)

Im Judentum entwickelten sich ab dem 3. Jh. v. Chr. eine Reihe von unterschiedlichen apokalyptischen Erwartungen, die in einer großen Zahl von Schriften festgehalten wurden, deren Verfasser sowie Trägergruppen sich allerdings nicht genau bestimmen lassen. Die moderne Bezeichnung „Apokalyptik“ geht auf Apk 1,1 zurück, wo die Enthüllung der Endzeit als άποκάλυψις/apokalypsis bezeichnet wird. Zumeist wollen apokalyptische Schriften allerdings Einblicke vermitteln, die sich nicht nur auf die Zukunft, sondern auch auf Vergangenheit und Gegenwart beziehen.

(Apokalyptische Ansichten)

Es handelt sich grundsätzlich um Literatur, die der Lebensbewältigung dienen will: Da die bedrängenden Umstände – soziale Probleme, die Bedrückung durch fremde Mächte oder auch Naturkatastrophen – nicht selbst umgestaltet oder verhindert werden können, wird auf das nahe Eingreifen Gottes verwiesen, mit dem die Verhältnisse endgültig zum Positiven geändert werden. Das Ziel der apokalyptischen Botschaft ist die Bewältigung dieser unheilvollen Gegenwart bei Beibehaltung des Glaubens an einen gerechten und geschichtsmächtigen Gott. Dessen früheres und gegenwärtiges Handeln in der Welt zu enthüllen, vor allem aber Gottes Pläne zu offenbaren, ist Anliegen des Apokalyptikers. Ein konstantes Element ist darin das universale Strafgericht durch Gott oder einen Bevollmächtigten, das sowohl die Völker als auch die Untreuen aus dem Volk Israel erfasst, Lebende wie Verstorbene. Den Glaubenden wird ewiges Leben in Aussicht gestellt, wenn sie trotz der gegenwärtigen Schwierigkeiten am Bekenntnis zu JHWH und der Tora festhalten. Oftmals ist dies auch verbunden mit der Hoffnung auf eine Wiedererrichtung Israels zu umfassender Größe. Einige apokalyptische Texte enthalten auch Darstellungen einer bereits gegenwärtig in der himmlischen Transzendenz bestehenden Heilswelt.

(Apokalyptik und frühes Christentum)

Wichtige apokalyptische Schriften des antiken Judentums, deren Inhalte u. a. auch für Johannes den Täufer, Jesus von Nazareth bzw. das entstehende Christentum von hoher Bedeutung waren, sind das Danielbuch, das äthiopische Henochbuch, die jüdischen Sibyllinen, das Jubiläenbuch, das syrische Baruchbuch und das 4. Buch Esra.

3.2.5 Schriftgelehrte

(Schriftgelehrte)

Vor allem in der Jesusüberlieferung treten die Schriftgelehrten deutlich als religiöse Gruppe hervor. Grundsätzlich handelte es sich bei ihnen um Schreiber, die in Dörfern und Städten Verwaltungsaufgaben erledigten und die Korrespondenz der Einwohner übernahmen. Offenbar waren sie aber auch für die Interpretation der Tora als verbindlichem Rechtstext verantwortlich. Dies ging bereits auf hellenistische Zeit zurück (vgl. Sir 38,24–39,11; 1Makk 7,12; 2Makk 6,18), vielleicht sogar schon auf die Zeit Esras. Schriftgelehrte hatten keine eigene religiöse Ausrichtung, was sich u. a. daran zeigt, dass es auch unter den Pharisäern Schriftgelehrte gab (Mk 2,16; Apg 23,9). Sie begegnen in den Evangelien als Gegner Jesu (Mk 2,6 u. ö.), aber auch als Christusgläubige (Mt 8,19; 13,52).

Als Schriftgelehrte im Sinne von Lehrern der Schrift werden vor allem in rabbinischen Texten einige legendäre Gestalten genannt, wobei die Überlieferungslage sehr schwierig ist. Zu nennen sind hier Hillel, dem eine milde Auslegung von Torabestimmungen zugeschrieben wird, dessen Gegner Schammai, der eine strenge Richtung vertrat, sowie Gamaliel I., von dem auch Paulus unterrichtet worden sein soll (Apg 22,3).

3.2.6 Herodianer

(Herodianer)

Ausschließlich im Neuen Testament wird mit den Herodianern (griech. Ήρῳδιανοί/Herodianoi) eine politische Gruppierung, die keine eigenen religiösen Interessen hatte, bei zwei Gelegenheiten erwähnt: beim Beschluss, gegen Jesus gewaltsam vorzugehen (Mk 3,6), sowie bei der Frage, ob man dem Kaiser Steuer zahlen sollte (Mk 12,13). Es handelte sich bei den Herodianern um Unterstützer und Klienten des herodianischen Königshauses, zu denen mit Manaën später auch ein Christusgläubiger gehörte (Apg 13,1).

3.3 Samaritaner

(Geschichte der Samaritaner)

Die Anfänge der samaritanischen Form des Judentums liegen im Dunkeln, lassen sich aber in das 3. Jh. v. Chr. zurückverfolgen. In dieser Zeit etablierte sich in Sichem und auf dem nahe gelegenen Berg Garizim ein JHWH-Heiligtum, dem sich die autochthone Bevölkerung weitgehend anschloss. Ende des 2. Jh. v. Chr. wurde das Heiligtum durch Hyrkan I. zerstört, ohne allerdings die samaritanische Form der JHWH-Verehrung damit beenden zu können. Bereits seit dem 2. Jh. v. Chr. gab es Samaritaner auch in der Diaspora, u. a. in Ägypten (Josephus, ant. 13,74–79) und auf der Ägäisinsel Delos (SEG 32,809). Die Samaritaner beteiligten sich auch am ersten Aufstand gegen die Römer (bell. 3,307–315; s. u. 3.5).

(Samaritanische Theologie)

In religiöser Hinsicht stand bei den Samaritanern der Pentateuch, der in einer spezifischen samaritanischen Form tradiert wurde, als alleinige normative Schrift in besonders hohem Ansehen. Religiöses Zentrum war der Berg Garizim, analog zum Zion in Jerusalem. Allerdings bestritten die Samaritaner die heilsgeschichtliche Bedeutung Jerusalems, da die Stadt im Pentateuch nicht erwähnt wird. Von besonders hoher Bedeutung war Mose, dessen Figur auch für die eschatologische Erwartung eines „Propheten wie Mose“ (vgl. Dtn 18,15.18) prägend war. Das Verhältnis zwischen Judäern und Samaritanern war von Polemik gekennzeichnet (vgl. 2Kön 17,24–41), obwohl sie sich in weiten Bereichen von Theologie und gelebter Religion kaum unterschieden. Diese Feindschaft kommt auch im Neuen Testament zum Ausdruck (Mt 10,5f.; Joh 8,48), zugleich zeigen sich aber auch Annäherungen (Joh 4; Lk 10,25–37; 17,11–19).

(Nicht-Juden in Samaria)

Im Gebiet Samarias wohnten auch zahlreiche Nicht-Juden, vor allem in der größten Stadt Samaria/Sebaste, die 27 v. Chr. von Herodes dem Großen neu gegründet wurde und vollständig hellenisiert war. Die Bewohner dieser Stadt standen im 1. Judäischen Aufstand aufseiten der Römer (vgl. Josephus, bell. 2,460).

3.4 Propheten und Aufstandsbewegungen vor 66 n. Chr.

Nach der Übernahme der Verwaltung durch die Römer in Judäa und Samaria im Jahr 6 n. Chr. bzw. nach dem Tod Agrippas I. (44 n. Chr.) kam es in ganz Palästina wiederholt zu Versuchen, die römische Herrschaft abzuschütteln, sowie zum Auftreten einzelner prophetisch inspirierter Personen. Josephus berichtet über eine Reihe von entsprechenden Ereignissen, doch sind seine Darstellungen aufgrund seiner Verbindung zu den Römern zumeist deutlich negativ gefärbt.

(Judas der Galiläer)

Im Jahr 6/7 n. Chr. trat Judas der Galiläer auf (Josephus, bell. 2,118; ant. 18,1.4.9.23; vgl. Apg 5,37). Sein Widerstand begann, als der Statthalter von Syrien, Quirinius, anlässlich des Übergangs der Herrschaft von Herodes Archelaos auf den ersten römischen Präfekten eine Volkszählung ansetzte, die der Steuerberechnung diente. Hiergegen protestierte Judas der Galiläer öffentlich, doch schon 7 n. Chr. starb er eines gewaltsamen Todes. Seine Söhne, die den Kampf weiterführten, kamen zwischen 46 und 48 n. Chr. ebenfalls ums Leben (bell. 2,433; 7,253; ant. 20,1.102).

(Die Zeloten)

Auf Judas bzw. einen ansonsten unbekannten Pharisäer namens Zadok ging auch die Gruppe der Zeloten zurück, die während des 1. Jh. n. Chr. einen wichtigen Teil der Aufstandsbewegung in Palästina bildete. Der Begriff „Zeloten“ verweist auf das griech. Wort ζῆλος/zēlos („Eifer“). Die Zeloten verstanden sich als Eiferer für Gott und betrachteten die biblische Figur des Pinchas, der die ethnische und kultische Reinheit des Volkes Israel blutig eingefordert hatte (Num 25), als ihr Vorbild. Sie setzten sich für die Alleinherrschaft Gottes ein und hatten messianische Ambitionen. Auch unter den Jüngern Jesu war mit Judas ein ehemaliger Zelot (Lk 6,15; Apg 1,13).

(Sikarier)

Von der Gruppe der Zeloten nicht immer ganz eindeutig zu unterscheiden ist jene der Sikarier. Auch sie gehen auf die Zeit von Judas Galilaios zurück. Ihre Bezeichnung leitet sich von dem lat. Terminus sica für „Dolch“ ab, da sie im Schutze größerer Volksansammlungen ihnen missliebige Personen erstachen. Dieses Vorgehen richtete sich vor allem gegen Judäer, die mit den Römern sympathisierten.

(Der Samaritaner)

Neben diesen länger bestehenden Gruppen von Aufständischen erfahren wir vor allem durch Josephus auch von Einzelfiguren, die größere oder kleinere Anhängerschaften versammelten. So trat während der Verwaltungszeit des Pontius Pilatus (26–36 n. Chr.) ein namentlich nicht bekannter Samaritaner auf, der ankündigte, er werde die von Mose auf dem Berg Garizim versteckten heiligen Gefäße wiederfinden. Möglicherweise stand hinter dieser Ankündigung die Erwartung einer Wiederkehr des Mose. Nach Josephus (ant. 18,85–87) griffen viele Samaritaner, die dies als Anbruch der Heilszeit verstanden, zu den Waffen, doch wurden sie vernichtend geschlagen. Infolge der Brutalität seines Vorgehens wurde Pilatus von seinem Posten in Judäa und Samaria abberufen.

(Theudas)

Während der Statthalterschaft des Cuspius Fadus (44–46 n. Chr.) versuchte ein gewisser Theudas die Rückeroberung Israels (Josephus, ant. 20,97–99; vgl. Apg 5,36). Mit einer großen Zahl von Menschen ging er an das jenseitige Jordanufer, um von dort aus wie Josua das Land neu einzunehmen. Die Bewegung wurde gewaltsam niedergeschlagen.

(Der Ägypter)

Unter der Prokuratur des Antonius Felix (52–59 n. Chr.) mobilisierte ein nicht namentlich bekannter Diasporajude aus Ägypten eine Volksbewegung gegen die Römer. Josephus berichtet (ant. 20,169–172; bell. 2,261–263), dass unter seiner Führung 30.000 Menschen zunächst in die Wüste und anschließend auf den Ölberg gingen. Dort habe der Prophet angekündigt, dass auf sein Geheiß die Mauern einstürzen würden (ant. 20,170). Seine bewaffneten Anhänger könnten so die Stadt erobern und er selbst zum Herrscher werden. Tatsächlich töteten die Römer unter Mithilfe der Jerusalemer viele der Aufständischen, der Ägypter entkam aber. In Apg 21,38 wird Paulus daher von einem römischen Tribun gefragt, ob er jener Ägypter sei.

3.5 Die beiden Aufstände in Palästina

(Aufstände im Römischen Reich)

Die Aufstände der Judäer in Palästina (66–70 bzw. 132–135 n. Chr.) und in der Diaspora (115–117 n. Chr.; s. u. 3.7.3) waren nicht die einzigen Revolten von Völkern bzw. Stämmen gegen die römische Herrschaft. So hatte Tiberius in den Jahren 6–9 n. Chr. eine Erhebung in Pannonien und Dalmatien niedergeschlagen. Während seiner Regierungszeit als Kaiser wurde auch ein Aufstand gallischer Stämme beendet (21 n. Chr.). In der Zeit Neros erhoben sich die Britannier unter der Führung ihrer Königin Boudicca (60/61 n. Chr.) und im Vier-Kaiser-Jahr 69 n. Chr. die Bataver in Niedergermanien. Es ist allerdings bemerkenswert, dass kein anderes Volk die Herrschaft der Römer so nachdrücklich ablehnte wie die Judäer.

3.5.1 Der erste Aufstand (66–70 n. Chr.)

Die verschiedenen früheren Versuche, die Herrschaft der Römer abzuschütteln, die sich verschärfende soziale Situation sowie die gesteigerte Aggressivität der römischen Beamten führten dazu, dass die Lage in Palästina Mitte der 60er Jahre des 1. Jh. n. Chr. hoch angespannt war. Dies zeigte sich außer in den Gewalttaten durch Zeloten und Sikarier und den Aufstandsversuchen auch an dem Propheten Jesus ben Ananias, der das Ende Jerusalems prophezeite (s. u. S. 120).

(Auslöser des Aufstands)

Zwei Ereignisse führten im Jahr 66 n. Chr. schließlich zum Aufstand: Erstens hatte der Prokurator Gessius Florus (64–66 n. Chr.) einen Teil des Tempelschatzes entnommen und damit sowohl die religiösen Gefühle der Judäer als auch die ökonomische Kraft des Tempels, der auch als Bank fungierte (Josephus, bell. 2,293), verletzt. Zweitens hatte Gessius Florus blutige Unruhen nicht unterbunden, die in Caesarea Maritima zwischen Juden und Nicht-Juden aus Streit über das Bürgerrecht ausgebrochen waren (bell. 2,284–292). Agrippa II. versuchte noch zu vermitteln (bell. 2,233–405), blieb aber erfolglos. Der eigentliche Aufstand begann im Frühjahr 66 n. Chr. (bell. 2,409f.), nachdem die Priester, angestachelt durch einen gewissen Eleazar, sich weigerten, weiterhin Opfer für das Wohlergehen des Kaisers im Jerusalemer Tempel darzubringen.

(Erste Erfolge)

Jerusalem wurde von den Aufständischen rasch erobert, die römischen Soldaten getötet und der amtierende Hohepriester Ananias, der eine friedliche Lösung wollte, ermordet. Das erste Eingreifen der Römer unter Cestius Gallus von Syrien aus wurde zum militärischen Desaster, sodass die Begeisterung unter den Judäern für den Aufstand stark zunahm. Es entzündete sich daraufhin überall der Zorn der Bevölkerung gegen die Besatzung, auch in Samaria. Dabei hatten vor allem die Zeloten eine Leitfunktion. Sehr früh kam es aber auch zu Auseinandersetzungen unter den Aufständischen. Dennoch gelang es zunächst, die römischen Truppen in die Defensive zu drängen.

(Der Beginn der Niederschlagung / Josephus und Vespasian)

67 n. Chr. wurde Vespasian von Nero zum Befehlshaber bestellt. Die römische Streitmacht wurde auf ca. 60.000 Mann erhöht, sodass nun mit aller militärischen Macht gegen den Aufstand vorgegangen werden konnte. Die hellenistisch geprägte Stadt Sepphoris in Galiläa distanzierte sich daraufhin ganz von der Rebellion, und auch die lokalen Eliten anderer Städte Galiläas rieten zur Aufgabe. In den ländlich geprägten Regionen wurde allerdings – u. a. auch mit religiöser Begründung – der Kampf geführt (vgl. Josephus, Vita 134f.). Die römischen Truppen eroberten bis Ende 67 n. Chr. alle Städte und Festungen Galiläas, zuletzt Gischala im Norden. Bereits zu Beginn war in Jotapata auch der lokale Kommandant Josephus gefangen genommen worden. Er wurde nach dem Krieg in den Haushalt des späteren Kaisers Vespasian aufgenommen – daher der Name Flavius Josephus – und verfasste ausführliche Berichte über den Verlauf des ersten Aufstands.

(Streit unter den Aufständischen)

In den Jahren 68/69 n. Chr. erfolgte von römischer Seite eine Kampfpause, da die Nachfolge auf dem Kaiserthron abgewartet wurde. In dieser Zeit brach aber unter den judäischen Gruppierungen ein Bürgerkrieg aus, in dem radikale Kräfte um Johannes von Gischala die Gemäßigten aus den Kreisen der Hohepriester und Pharisäer vernichteten. Später trat mit Simon bar Giora ein weiterer Zelotenführer in diese Auseinandersetzung ein. Messianische Ambitionen und soziale Umbrüche gingen damit jeweils einher.

(Die Zerstörung Jerusalems und des Tempels)

Vespasian zog im Jahr 69 n. Chr. erneut los und eroberte rasch den Rest Judäas mit Ausnahme Jerusalems und der herodianischen Festungen Herodeion, Masada und Machairus. Verzweifelte Appelle an die Vernunft der Aufständischen durch Agrippa II. oder auch Josephus, der zu den Römern übergelaufen war, wurden nicht beachtet. Als Vespasian Kaiser wurde, übernahm sein Sohn Titus das Kommando und konnte Jerusalem nach fünf Monaten Belagerung Ende August/Anfang September 70 n. Chr. einnehmen. Mit der Stadt Jerusalem wurde auch der Tempel, das religiöse Zentrum des Judentums, zerstört. Die Einwohner wurden zum Großteil getötet oder versklavt. Mit Masada fiel im Jahr 73/74 n. Chr. die letzte Festung der Zeloten.

3.5.2 Die Zeit zwischen den Aufständen (70–132 n. Chr.)

(Folgen des Aufstands)

Die Zerstörung Jerusalems und des Tempels, die Tötung bzw. Versklavung von bis zu einem Drittel der Bevölkerung sowie die Verwüstung weiter Landstriche Judäas, Samarias und Galiläas führten zu einer angespannten wirtschaftlichen und sozialen Lage unter den Verbliebenen. Teile des Grundbesitzes fielen an den römischen Kaiser, der diese weiterverpachtete, sodass die Landbevölkerung weitgehend unselbstständig wurde. Mit der Versklavung und durch die Fluchtbewegungen während des Aufstands wuchs auch die judäische Diaspora zahlenmäßig deutlich an. Die Eliten des Volkes hatten jede Macht verloren, was u. a. auch zum Verschwinden der sadduzäischen Partei führte.

(Neuorientierung an der Tora)

Der Verlust des Jerusalemer Tempels als Kultzentrum wurde vor allem von jenen Gruppierungen innerhalb des Judentums bewältigt, die schon zuvor die über den Tempelkult hinausgehende Orientierung an der Tora in das Zentrum der jüdischen religiösen Existenz gestellt hatten. Dies begünstigte vor allem die Pharisäer, aus denen sich Teile der frührabbinischen Bewegung entwickelten (s. u. 3.6). Texte wie das 4. Makkabäerbuch versuchen hingegen, die Vereinbarkeit des Gesetzes, das als Grundlage der „Philosophie des Judentums“ gedeutet wird, mit griechisch-römischen Tugendethik aufzuzeigen.

(Neuorientierung in der Apokalyptik)

Auch die apokalyptischen Bewegungen des Judentums, für die die Zerstörung des Tempels einen herben Rückschlag ihrer Heilserwartungen bedeutete, mussten sich neu orientieren. So wurde im syrischen Baruchbuch am Ende des 1. Jh. n. Chr. der Versuch unternommen, die Tempelzerstörung als Teil von Gottes Heilsplan zu verstehen (6f.). Dieser werde mit dem Kommen des Messias, dem Gericht und der Wiederherstellung Israels vollendet (72–74). Die Bücher 4 und 5 der jüdischen Sibyllinen, die in Ägypten im 1. und 2. Jh. n. Chr. entstanden, sind ganz darauf ausgerichtet, das vernichtende Gericht über die Feinde, also das Imperium Romanum, zu erwarten, dessen Vorzeichen in Kriegen, Hungersnöten und Naturkatastrophen jetzt schon erlebt würden. Zugleich wurde aber auch das Ende blutiger Opfer begrüßt (4,24–30).

In Palästina entstand an der Wende vom 1. zum 2. Jh. n. Chr. das 4. Buch Esra, das einen anderen Weg zur Bewältigung der Katastrophe einschlug: Die Zerstörung des Tempels wird hier in die grundsätzliche Verstricktheit des Menschen in die Schuld eingeordnet, die ein Grundelement des gegenwärtigen Zeitalters (Äons) sei. Dagegen stehe die Forderung nach Einhaltung der Gebote Gottes, die dem Einzelnen die Möglichkeit eröffne, das zu erreichen, was Gott in seinem erwählenden Handeln versprochen habe, nämlich das endzeitliche Heil. Der Fokus auf die individuelle Erlösung sowohl durch Gottes Gnadenhandeln als auch durch Einhaltung der Tora wurde über diese Schrift hinaus zu einem wichtigen Element des jüdischen Glaubens nach der Tempelzerstörung.

(Das Imperium und das judäische Volk / Fiscus Iudaicus)

In der Stadt Jerusalem wurde währenddessen die Legio X Fretensis stationiert und Judäa zu einer eigenständigen Provinz unter der Leitung des Legionskommandanten gemacht. Der römische Kaiser Vespasian sowie sein Sohn und Nachfolger Titus propagierten den Sieg über die Judäer durch eigene Münzprägungen, die u. a. dazu dienen sollten, andere Völker von Aufständen abzuschrecken. Auch der Triumphzug des Titus, der auf dem Titusbogen in Rom dargestellt ist, rückte die Unterwerfung der Judäer in die Mitte des öffentlichen Bewusstseins. Die Judäer wurden vonseiten des römischen Staates nun als Gesamtheit für den Aufstand verantwortlich gemacht, obwohl sich die Diaspora nicht daran beteiligt hatte. Es wurde eine Sonderabgabe, die ausschließlich Angehörige des judäischen Volkes zu zahlen hatten, der fiscus Iudaicus eingeführt (s. u. 3.7.2). Auch der JHWH-Tempel im ägyptischen Leontopolis wurde 71 n. Chr. geschlossen (Josephus, bell. 7,433–436).

3.5.3 Der zweite Aufstand (132–135 n. Chr.)

(Simon bar Kochba / Aelia Capitolina)

Der nach dem Anführer der Judäer benannte Bar-Kochba-Aufstand setzte im Jahr 132 n. Chr. ein. Als Anlass ist die Neugründung Jerusalems durch Kaiser Hadrian als Aelia Capitolina anzusehen. Diese war außerdem mit dem Bau eines Jupitertempels verbunden (Cassius Dio, hist. 69,12). Simon bar Kochba wurde zum Anführer des Aufstandes. Er wurde als Messias angesehen (yTaan 4,8 fol. 68d) und bezeichnete sich selbst als Fürst Israels (nasi). Über den Verlauf des Aufstands ist nicht viel bekannt. So ist unklar, ob die Aufständischen Jerusalem eroberten, den Tempelkult wieder begannen oder auch in Galiläa kämpften. Nach knapp vier Jahren wurde die Rebellion aber blutig niedergeschlagen. Die Bevölkerung wurde versklavt, die Städte der Region zerstört. Jerusalem wurde zur römischen Colonia Aelia Capitolina, Judäern das Betreten der Stadt verboten.

3.6 Das frühe rabbinische Judentum

(Rabbi)

Nach der Zerstörung Jerusalems und des Tempels im Jahr 70 n. Chr. sowie der Tötung bzw. Versklavung großer Teile der Bevölkerung musste sich das Judentum neu konstituieren. Nicht nur die letzten Reste politischer Selbstständigkeit, die bis zum ersten Aufstand durch das Synhedrion verwaltet worden waren, sondern vor allem die Orientierung am Jerusalemer Heiligtum mit seinem Kult war verloren gegangen. In den folgenden Jahrzehnten entwickelte sich daher u. a. aus der pharisäischen Gruppierung und den Schriftgelehrten eine neue Richtung innerhalb des Judentums, die nach den Titeln ihrer Lehrer („Rabbi“) als rabbinische Bewegung bezeichnet wird. Sie rückte statt des verlorenen Tempelkults die Tora in das Zentrum der jüdischen religiösen Identität. Deren Auslegung und Anwendung, vor allem hinsichtlich der Reinheits- und Speisevorschriften, sollte Israel zum heiligen Volk werden lassen.

(Die Rabbinerbewegung)

Obwohl die Überlieferungen in den rabbinischen Schriften (Mischna, Talmud, Tosefta, Midraschim) einen anderen Eindruck erwecken, war die rabbinische Bewegung nicht von Beginn an dominierend. Allerdings waren die Rabbinen dort, wo Fragen um judäische Identität und Grenzziehung zu anderen Formen des Judentums diskutiert wurden, offenbar von großem Einfluss. Hinter der polemischen Darstellung der Pharisäer und Schriftgelehrten in den Evangelien (v. a. Mt 23) lässt sich diese Konfrontation noch erahnen. Prägende Gestalten der frühen „formativen“ Phase der rabbinischen Bewegung waren Jochanan ben Zakkai, Gamaliel II., Aqiva und Jischmael. Das erste Zentrum war in Javne/Iamnia an der Mittelmeerküste, nach 135 n. Chr. im galiläischen Usha.

3.7 Das Diasporajudentum

Der weitaus größere Teil des judäischen Volkes lebte nicht in Palästina, sondern in der Diaspora („Zerstreuung“). Seit dem babylonischen Exil waren Judäer und Judäerinnen im Zweistromland präsent, mit der Hellenisierung sowie nach der römischen Eroberung Judäas durch Pompeius (63 v. Chr.) verbreitete sich das judäische Volk in weiten Bereichen des Mittelmeerraums. Dies setzte sich nach den beiden Aufständen weiter fort.

(Juden und Nicht-Juden)

Die Verhältnisbestimmung zur nicht-jüdischen Umgebung reichte von strengster Abgrenzung (Antagonismus) über die verbindende Aufnahme hellenistisch-römischer Kultur (Akkulturation) bis zur vollständigen Aufgabe judäischer Identität (Assimilation). Die Orientierung an Identitätsmerkmalen des Judentums wurde anhand unterschiedlich gewichteter Kriterien gestaltet. Dazu gehörten die Einhaltung des Sabbats und der Speise- bzw. Reinheitsgebote, die Beschneidung, die Beschränkung von Heirat auf Judäer und Judäerinnen (Endogamie), die Mitgliedschaft in lokalen Synagogen und die bilderlose Verehrung des einen Gottes (s. o. 3.1.4).

(Assimilation / Akkulturation / Antagonismus)

Ein Beispiel für vollständige Assimilation ist Tiberius Julius Alexander, ein Neffe Philos von Alexandrien. Er machte innerhalb des römischen Heeres Karriere und war u. a. Prokurator von Judäa (46–48 n. Chr.), Statthalter von Ägypten (66–69 n. Chr.) und an der Belagerung Jerusalems (70 n. Chr.) beteiligt. Sein Onkel Philo hingegen repräsentiert mit seiner philosophischen Durchdringung jüdischer Kultur sowie seinem politischen Kampf um eine Integration des Judentums in das griechische Bürgertum Alexandriens den Versuch, bei entschiedener Bewahrung judäischer Identität diese mit hellenistischer Bildung und Kultur zu verbinden (vgl. auch 4Makk). Die strenge Abgrenzung zur nicht-jüdischen Umgebung schließlich zeigte sich u. a. in sozialen Bereichen, etwa durch die Trennung von Nicht-Juden bei Mählern oder durch Endogamie. In Texten aus der Diaspora wie der Weisheit Salomos (Sapientia Salomonis), dem 3. Makkabäerbuch, den jüdischen Bestandteilen der sibyllinischen Orakel oder dem Bekehrungsroman „Joseph und Aseneth“ wurde dies literarisch ausgearbeitet, teils mit schärfster Polemik gegen andere Völker.

3.7.1 Lokale Entwicklungen in der Diaspora

(Judentum in Ägypten)

Geographisch lassen sich einige Regionen hervorheben, in denen judäische Minderheiten besonders stark vertreten waren: In Ägypten stellte das judäische Ethnos schon seit dem 6./5. Jh. v. Chr. eine auch zahlenmäßig bedeutende Bevölkerungsgruppe dar, die in der frühen Kaiserzeit trotz ihrer Größe – Philo spricht von einer Million Judäern in Ägypten (Flacc. 43) – eine komplizierte gesellschaftliche Stellung innehatte. Seit den Ptolemäern waren die Judäer in sog. Politeuma organisiert, also in ethnisch strukturierten Einheiten mit begrenzter Selbstverwaltung, und galten als Bürger. In römischer Zeit verschlechterte sich diese soziale Stellung, da die Judäer zwischen der autochthonen Bevölkerung, den eigentlichen Ägyptern, und den Griechen und Römern standen. Die Spannungen führten zu Pogromen (38 n. Chr.) und zum Diasporaaufstand (115–117 n. Chr.; s. u. 3.7.3). In der Kyrenaika (Nordafrika) bestand ein weiteres Zentrum des Diasporajudentums mit ähnlichen Bedingungen wie in Ägypten.

(Judentum in Syrien)

In Syrien mit seiner Hauptstadt Antiochien blieben Judäer seit frühhellenistischer Zeit weitgehend unbehelligt. Josephus berichtet sogar von einer besonderen Attraktivität des Judentums in dieser Region (bell. 7,45). Diese ruhige Lage wurde durch den ersten Aufstand in Judäa kurzzeitig unterbrochen (bell. 7,46–62), konnte aber anschließend wiederhergestellt werden.

(Judentum in Kleinasien und Griechenland)

In Kleinasien und Griechenland galt dies noch viel mehr: Das Verhältnis zwischen den judäischen Minderheiten und der nicht-jüdischen Mehrheitsbevölkerung war, abgesehen von kleineren Unstimmigkeiten über die Tempelabgaben, unproblematisch. Es wurde zusätzlich durch rechtliche Regelungen der Römer abgesichert (ant. 14,185–267; 16,160–178). Das ökonomische Aufblühen Kleinasiens durch die Pax Romana trug dazu bei, etwaige Spannungen abflauen zu lassen. Weder die beiden Aufstände in Judäa noch jener in Ägypten, der Kyrenaika und auf Zypern wurde von den judäischen Gemeinden Syriens, Kleinasiens oder Griechenlands unterstützt.

(Judentum in Rom)

Wie alle anderen Völker des Mittelmeerraums stellten auch die Judäer eine Minderheit in der Bevölkerung der Stadt Rom. Spätestens im 1. Jh. v. Chr. konnten die Judäer politisch nicht mehr vernachlässigt werden (vgl. Cicero, Flacc. 66–69). Die Zahl der Judäer in Rom steigerte sich nach der Eroberung Judäas (69 v. Chr.) auf 20.000–30.000 Personen. Ihre Vereinigungen (collegia) waren ausdrücklich erlaubt (Josephus, ant. 14,213–216). Aus Inschriften lassen sich wenigstens elf Synagogen belegen. Durch römische Schriftsteller wie Ovid, Horaz, Petronius, Juvenal oder Tacitus wird deutlich, dass die Besonderheit judäischer Identität in Rom auffiel. Die Arbeitsruhe am Sabbat, die Beschneidung und die Speisegesetze, vor allem die Vermeidung von Schweinefleisch, wurden verspottet. Zugleich wurde die Übernahme judäischer Kultur und Religion durch Nicht-Juden als Verrat am Vaterland gewertet (Tacitus, hist. 5,5; Juvenal, Satiren 14,96–104). In der Zeit nach Augustus, der aufgrund seiner Verbindung mit Herodes auch die Judäer in Rom geschützt hatte, kam es deshalb zu Vertreibungen von Judäern: 19 n. Chr. durch Tiberius (Josephus, ant. 18,65–84; Tacitus, ann. 2,85) und 49 n. Chr. durch Claudius (Apg 18,2; Sueton, Claud. 25,4; s. u. S. 86). Deren Wirkung dauerte allerdings nicht lange an. Der erste Aufstand hatte abgesehen von der Abgabenverpflichtung (fiscus Iudaicus; s. u. 3.7.2) keine besonderen Folgen für die Judäer in Rom, vielmehr blieben sie auch in den folgenden Jahrhunderten unbehelligt.

(Keine erlaubte Religion)

Eine reichsweite rechtliche Anerkennung des Judentums durch die Römer als religio licita („erlaubte Religion“) ist allerdings eine wissenschaftliche Fiktion. Sie basiert auf einer Formulierung des Kirchenvaters Tertullian (apol. 21,1), hat aber keinerlei Basis im römischen Recht. Vielmehr zeigen Josephus und andere Autoren, dass lediglich aufgrund von einzelnen Vorkommnissen bzw. Beschwerden die Stellung von judäischen Minderheiten in bestimmten Gebieten zeitweise von den römischen Kaisern abgesichert wurde. Dies basierte allerdings auf der grundsätzlich permissiven römischen Einstellung gegenüber fremden Kulten: Solange diese die römischen Traditionen nicht in Frage stellten oder zu Unruhen führten, konnten die Völker des Imperium Romanum ihre althergebrachten religiösen Formen selbstverständlich beibehalten. Eine formale Anerkennung oder gar Erlaubnis des Judentums als Religion gab es hingegen nicht.

3.7.2 Tempelabgabe und fiscus Iudaicus

(Tempelabgabe vor 70 n. Chr.)

Jeder männliche Judäer zwischen 20 und 50 Jahren war seit späthellenistischer Zeit durch die Tora dazu verpflichtet, eine Abgabe von zwei Denaren pro Jahr an den Jerusalemer Tempel zu leisten (vgl. Ex 30,11–16; Philo, spec. leg. 1,76–78). Diese Abgabe wurde von den lokalen Synagogen eingesammelt und nach Jerusalem gebracht (vgl. Cicero, Flacc. 28,67–69; Josephus, ant. 16,28). Sie diente u. a. dazu, das tägliche Opfer zugunsten des Kaisers zu finanzieren, war also ein Akt der Loyalität gegenüber der römischen Herrschaft und Ersatz für den Kaiserkult. Auch darüber hinaus war die Tempelabgabe eine wesentliche Einkunftsquelle für den Tempel und Jerusalem.

(Fiscus Iudaicus)

Nach dem Ende des ersten Aufstandes in Judäa und der Zerstörung des Tempels (70 n. Chr.) verpflichtete Kaiser Vespasian alle Angehörigen des judäischen Volkes, auch Frauen und Kinder sowie Sklaven und Sklavinnen, zu einer Kopfsteuer (Josephus, bell. 7,218). Sie war dem Wiederaufbau des Jupitertempels am Kapitol in Rom gewidmet. Domitian verschärfte die Eintreibung der Steuer (Sueton, Dom. 12,2), während sein Nachfolger Nerva Missstände beendete (Cassius Dio, hist. 68,1,2). Die Abgabe wurde aber bis in das 3. Jh. n. Chr. weiter erhoben. Für die Identitätsbildung des antiken Judentums war der fiscus Iudaicus trotz der Belastung ein wichtiger Faktor. Die Zugehörigkeit zum Judentum war damit nämlich auch zu einer staatlichen Angelegenheit geworden, die in zweifelhaften Fällen eine Entscheidung verlangte. Dies betraf Proselyten, Gottesfürchtige und jüdische Christusgläubige gleichermaßen (s. u. S. 290).

3.7.3 Die Aufstände in der Diaspora (115–117 n. Chr.)

(Diasporaaufstände)

Trajans Vordringen nach Osten bis an den Persischen Golf, während dem die Parther 115/116 n. Chr. besiegt wurden, bot Diasporajudäern in Ägypten und der Kyrenaika und in der weiteren Folge auch auf Zypern und in Mesopotamien die Gelegenheit, Aufstände gegen die griechisch-römische Bevölkerung zu beginnen (vgl. Cassius Dio, hist. 68,32,1–3; Euseb, h. e. 4,2,1–5). Cassius berichtet von Massenmorden durch Judäer, die nach der Niederschlagung der Aufstände durch römische Truppen zu blutiger Rache führten. Das Diasporajudentum in Ägypten, der Kyrenaika und auf Zypern wurde 117 n. Chr. so gut wie ausgelöscht. Das hatte sicherlich auch Folgen für Christusgläubige, die entweder selbst judäischer Herkunft waren oder als Judäer betrachtet wurden. Unser mangelndes Wissen über die frühe Entstehung des Christentums in Nordafrika ist vor allem auf diesen radikalen Schnitt zurückzuführen.

3.7.4 Die Septuaginta

(Septuaginta)

Zwischen 250 und 100 v. Chr. entstand vor allem in Ägypten die Septuaginta (LXX), die griechische Übersetzung des Alten Testaments. Der Aristeasbrief beschreibt dies als Unternehmen des Königs Ptolemaios II., was bezweifelt werden kann. An der LXX lässt sich exemplarisch erkennen, wie wichtig griechische Kultur und Bildung für die in Alexandria und anderen Städten des hellenistischen Kulturraums wohnhaften Judäer war. Die heiligen Schriften wurden in der Diaspora nur noch in dieser Form gelesen und ausgelegt. So sind von dem hellenistisch-jüdischen Philosophen Philo von Alexandrien (ca. 15 v. Chr.–50 n. Chr.) zahlreiche exegetische Werke erhalten, in denen er die LXX mit den Methoden der sog. alexandrinischen Schule auslegte. Aber auch Flavius Josephus und den neutestamentlichen Autoren galt die LXX als die Heilige Schrift.

3.7.5 Synagogen

(Die Bezeichnung Synagoge / Die Bezeichnung Proseuche / Die religiöse Funktion der Diasporasynagogen)

Zu den wesentlichen Errungenschaften des Diasporajudentums gehörte die Entwicklung der Synagoge als landsmannschaftlicher Vereinigung ab dem 3. Jh. v. Chr. (s. o. 2.2.3.3). Die Bezeichnung συναγωγή/synagōgē („Zusammenkunft“), die auch von nicht-jüdischen Gruppierungen verwendet wurde, konnte sowohl für die Personengemeinschaft als auch für deren Versammlungsgebäude verwendet werden. Die Synagoge, die auch als προσευχή/proseuchē („Gebetsstätte“; vgl. Apg 16,13) bezeichnet wurde, versammelte Mitglieder der judäischen Diaspora einer Stadt, wobei bei einer größeren Zahl an Judäern auch mehrere Synagogen an einem Ort möglich waren, z. B. in Damaskus (Apg 9,2), Salamis (Apg 13,5) oder Rom (s. o. S. 75). Die Treffen am Sabbat oder zu Festzeiten, deren genaue Rekonstruktion für das 1. Jh. n. Chr. unsicher bleiben muss, waren neben den Feiern in den Haushalten wesentliche Elemente des religiösen Lebens in der Diaspora. Zu ihnen gehörten die Lesung und Auslegung der Schrift, Gebete und Psalmen, Räucheropfer sowie gemeinsame Mahlzeiten (vgl. nur Lk 4,16; Apg 13,15; 15,21). Frauen nahmen an diesen Feiern ebenfalls teil (Lk 13,10–17; Apg 16,13; Josephus, ant. 14,260). Je nach ihrem lokalen Status waren Synagogen bzw. Politeuma (s. o. S. 75) auch berechtigt, interne Rechtsfragen zu entscheiden und Strafen zu vollziehen (2Kor 11,24). Die Leitung der Synagogen durch Vorsteher (άρχισυνάγωγος/archisynagōgos) sowie die Mitwirkung von Ältesten (πρεσβύτερος/presbyteros) und anderen Funktionären geschah analog zu paganen Vereinigungen. Auch Frauen trugen diese Titel.

(Synagogen in Palästina)

Auch in Palästina entstanden ab dem 1. Jh. v. Chr. Synagogen, deren Funktion allerdings deutlich weiter zu denken ist. Sie waren nicht nur Orte religiöser Feiern, sondern darüber hinaus Versammlungsräume der Bevölkerung. In Jerusalem bestanden zur Zeit des Zweiten Tempels keine Synagogen, mit Ausnahme jener, die von Diasporajudäern betrieben wurden (Apg 6,9), wie die Synagoge des Theodotos (CIJ II 1404).

3.8 Proselyten und Gottesfürchtige

Das antike Judentum, zum Teil in Palästina, vor allem aber in der Diaspora, hatte für einzelne Nicht-Juden eine gewisse Attraktivität. Die teilweise oder vollständige Übernahme jüdischer Religion und Kultur, das wird aus literarischen und inschriftlichen Quellen deutlich, war offenbar vor allem für gebildete Mitglieder der Eliten interessant. Dabei ist zu unterscheiden zwischen dem seltenen Fall des vollen Übertritts und anderen Formen der Annäherung.

(Proselyten)

Als Proselyten werden in der LXX Fremde bezeichnet, die im Land Israel wohnen (hebr. gēr; z. B. Ex 20,10; Lev 17; Num 15,14–16; Dtn 31,12). Während im hebr. Sprachgebrauch keine religiöse Bedeutung im eigentlichen Sinn zu erkennen ist, ist das in der LXX bereits verändert, da sich in der Diaspora auch Nicht-Juden dem Volk Israel anschlossen. Zahlreiche Texte, wie der Roman „Joseph und Aseneth“ oder Ausführungen bei Philo und Josephus, beschreiben solche Konversionen. Proselyten unterwarfen sich der Tora, verehrten ausschließlich den Gott Israels und wurden Mitglieder der Synagoge (vgl. Jdt 14,10; Tacitus, hist. 5,5,2). Für Männer schloss dies die Beschneidung ein. Obwohl Proselyten nach Rechten und Pflichten als Teil des judäischen Volkes galten, war ihr Status nicht dem geborener Judäer gleich. In Qumran galten sie als die geringste Gruppe der Israeliten (CD 14,3–6). Auch Philo konnte trotz allen Lobes für den Mut zur Konversion (virt. 216–219) auch distanzierende Töne anschlagen (vit. Mos. 1,147), und die rabbinischen Texte zeigen eine hochambivalente Haltung.

(Helena und Izates von Adiabene)

Von einem illustrativen Beispiel zwischen Sympathie und Konversion berichtet Josephus (ant. 20,17–53): Königin Helena von Adiabene am Tigris und ihr Sohn Izates waren so sehr dem Judentum zugeneigt, dass sich Izates eigentlich beschneiden lassen wollte. Das sei aber zunächst unterlassen worden, und sogar sein judäischer Lehrer Ananias habe dies befürwortet (20,38–42). Man könne Gott, so formuliert Josephus die Worte des Ananias, „auch ohne Beschneidung verehren“ (20,42). Später habe sich Izates allerdings doch noch beschneiden lassen, nachdem ihn nämlich ein anderer Judäer darüber belehrt habe, dass nur derjenige Gott wirklich verehre, der das ganze Gesetz einhalte. Dazu gehöre eben auch das Gebot der Beschneidung (20,43–48). Diese Geschichte, auch wenn sie von Josephus stilisiert erzählt wird, zeigt recht deutlich, dass die Frage nach dem Heil für Nicht-Juden im Judentum unterschiedlich beantwortet wurde.

(Sympathisanten des Judentums)

In der Apostelgeschichte verwendet Lukas für die Sympathisanten und Sympathisantinnen die Bezeichnungen „Gottesfürchtige“ (φοβούμενοι τὸν θεόν/phoboumenoi ton theon: Apg 10,2.22; 13,16.26) bzw. „Gottesverehrer“ (σεβόμενοι τὸν θεόν/sebomenoi ton theon: Apg 16,14; 18,7). Sie begegnen auch in späterer Zeit für Personen, die in einer mehr oder weniger ausgeprägten Art und Weise die Kultur der Judäer bzw. das Judentum schätzen (s. u.). Für sie war die intellektuelle und wortzentrierte Verehrung eines einzigen Gottes ein attraktives Gegenstück zu den paganen Kulten und dem damit verbundenen praktizierten Polytheismus. Hinzu kamen Lebensregeln wie die Zehn Gebote, die antiken Tugenden durchaus entsprachen. Und schließlich sind die – im Vergleich zu paganen Opferkulten – geradezu asketischen Feste der jüdischen Synagogen zu nennen, die auf Nicht-Juden einen gesitteten Eindruck machten.

(Formen der Sympathie für das Judentum)

Eine geringere Nähe, aber doch Sympathie oder Unterstützung wird vor allem durch Inschriften deutlich, die zeigen, dass auch Nicht-Juden die Interessen einer lokalen Synagoge förderten. Wie sehr dahinter eine inhaltliche Begeisterung für judäische Religion und Kultur stand, lässt sich selten bestimmen. So ehrten ein judäisches Politeuma in der Kyrenaika in Nordafrika einen Förderer namens M. Tittius (ca. 24 n. Chr.; CJZC 71) und möglicherweise eine Synagoge in Phrygien die Priesterin des Kaiserkults Julia Severa für die Stiftung eines Gebäudes (um 100 n. Chr.; IJO II 168). Aus dem 4. Jh. n. Chr. stammt eine Inschrift, die 54 Gottesfürchtige nennt, zusammen mit 68 Judäern und 3 Proselyten (Aphrodisias, IJO II 14). Nach Lk 7,5 erbaute der Hauptmann von Kapernaum aus Liebe zum judäischen Volk die lokale Synagoge. Bei Josephus finden sich einige Belege für diese Faszination an judäischer Kultur und Religion im syrischen Raum: So hätten sich in Damaskus fast alle Frauen dem Judentum angeschlossen (bell. 2,560), und in Antiochien seien zahlreiche Griechen so etwas wie ein Teil der Synagoge geworden (bell. 7,45). Josephus bezeichnet auch Poppaea Sabina, die Ehefrau von Kaiser Nero, als eine Frau, die Gott verehrte (ant. 20,195; vgl. 20,252).

(keine jüdische Mission)

Im Hintergrund dieser verschiedenen Formen von Unterstützung, teilweiser Übernahme judäischer Kultur oder Konversion stand jedoch kein aktives Werben des Judentums um Konvertiten. Ein missionarisches Bemühen, das als Analogie zur frühchristlichen Verkündigung des Evangeliums verstanden werden könnte, gab es nicht. Allerdings war das Judentum auch keine Mysterienreligion. Judäer legten in unterschiedlichem Ausmaß ihre Traditionen offen, oft zur Abgrenzung, aber auch im Bemühen um Verständnis. Die Aussage in Mt 23,15, wonach Pharisäer und Schriftgelehrte über Land und Meer gingen, um einen Proselyten zu gewinnen, nimmt dies polemisch auf. Es handelte sich aber mehr um Werbung durch gelebten Glauben, der in der frühen Kaiserzeit durchaus anschlussfähig war.

Literatur

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John Barclay, Jews in the Mediterranean Diaspora. From Alexander to Trajan (323 BCE–117 CE), Edinburgh 1996.

Shaye J. D. Cohen, Crossing the Boundary and Becoming a Jew, HThR 82, 1989, 13–33.

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Marius Heemstra, The Fiscus Judaicus and the Parting of the Ways, WUNT 2. Reihe 277, Tübingen 2010.

Martin Hengel/Anna Maria Schwemer, Jesus und das Judentum, Tübingen 2007.

William Horbury/W. D. Davies, Hgg., The Cambridge History of Judaism. 3: The Early Roman Period, Cambridge 1999.

Steve Mason, A History of the Jewish War A. D. 66–74, Cambridge 2016.

Peter Schäfer, Geschichte der Juden in der Antike, Tübingen 22010.

Günter Stemberger, Pharisäer, Sadduzäer, Essener. Fragen, Fakten, Hintergründe, Stuttgart 2013.

Daniel Stökl Ben Ezra, Qumran. Die Texte vom Toten Meer und das antike Judentum, UTB Jüdische Studien 4681/3, Tübingen 2016.

Michael Tilly, Apokalyptik, Tübingen 2012.

Markus Tiwald, Das Frühjudentum und die Anfänge des Christentums. Ein Studienbuch, Stuttgart 2016.

Margaret H. Williams, Jews in a Graeco-Roman Environment, WUNT 312, Tübingen 2013.

Geschichte des frühen Christentums

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