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2 Die griechisch-römische Welt: Herrschaft, Gesellschaft, Religion

Für das Verständnis des frühen Christentums sind die historischen und kulturellen Kontexte der griechisch-römischen Welt von unerlässlicher Bedeutung. Dazu gehören ganz unterschiedliche Bereiche, die hier nur knapp angesprochen werden können: die Strukturen von Herrschaft, die kulturellen und sozialen Ausprägungen des Lebens sowie die religiösen Deutungen und Vollzüge.

2.1 Strukturen von Herrschaft

Im Blick auf die Herrschaftsstrukturen sind zwei Dimensionen zu unterscheiden: Der umfassendere Bereich ist jener des römischen Imperiums, zumal dessen geographischer Raum auch jener der Ausbreitung des frühen Christentums war. Unter lokalen Gesichtspunkten sind die Machthaber im Großraum Palästina von Bedeutung, sowohl jene aus dem Herodianischen Geschlecht als auch die römischen Präfekten bzw. Prokuratoren.

2.1.1 Herrschaft über das Imperium Romanum – Die Kaiser

(Augustus / Tiberius / Caligula / Claudius / Nero / Vierkaiserjahr / Vespasian / Titus / Domitian / Nerva / Trajan / Hadrian)

Die Geschichte der römischen Kaiser ist durch ihren steten Bezug auf Augustus (31/27 v. Chr.–14 n. Chr.) geprägt. Die nach dem Bürgerkrieg (44–31 v. Chr.) erreichte Stabilität, zusammengefasst im Schlagwort der Pax Romana („Römischer Friede“), ermöglichte auch die Verbreitung des Christentums im Imperium Romanum. In der Zeit Jesu war mit Tiberius (14–37 n. Chr.) ein verlässlicher und um Stabilität bemühter Politiker Kaiser, der auch in Lk 3,1 erwähnt wird. Ihm folgte mit Gaius Caligula (37–41 n. Chr.) eine schwierige Persönlichkeit. Er verlangte als erster Kaiser göttliche Verehrung, wie der Historiker Sueton berichtet (Cal. 22,3). Auch im Jerusalemer Tempel sollte sein Standbild errichtet werden (Philo, leg. ad Gaium 200–207; Josephus, bell. 2,184–203; ant. 18,261–288). Lediglich sein vorzeitiger Tod verhinderte dies. Caligulas Onkel Claudius (41–54 n. Chr.), unter dem sich ein Großteil des Wirkens des Paulus vollzog, war ein gewiefter Politiker. Die östlichen Provinzen blühten unter seiner Regentschaft auf. Auf die Maßnahmen des Claudius gegen jüdische Christusgläubige in der Stadt Rom wird in Apg 18,2 angespielt (vgl. Sueton, Claud. 25,4; s. u. S. 86). Mit Nero (54–68 n. Chr.) setzten nach der stabilen Phase unsichere Zeiten ein. Nach einem zweifelhaften Bericht des Tacitus mussten Christusgläubige auf Veranlassung Neros als Sündenböcke für den Brand Roms im Jahr 64 n. Chr. herhalten (ann. 15,44,2–5; s. u. 14.2). Unter Neros Regierung begann im Jahr 66 n. Chr. auch der 1. Judäische Aufstand. Nach dem Selbstmord Neros konnte sich zunächst niemand entscheidend etablieren, sodass im Jahr 69 n. Chr. vier Kaiser den Regierungsanspruch erhoben: Galba, Otho, Vitellius und schließlich Vespasian, der sich durchsetzte. Er regierte bis 79 n. Chr. und begründete die Flavische Dynastie. Vespasian war zum Zeitpunkt seiner Machtergreifung gerade mit der Niederschlagung des Aufstandes in Judäa beschäftigt, die sein Sohn und Nachfolger Titus (79–81 n. Chr.) abschloss (s. u. 3.5.1). Beide standen für die Wiederherstellung der inneren und finanziellen Ordnung des Imperiums. Domitian (81–96 n. Chr.), Titus’ Bruder und Nachfolger, setzte einerseits das auf ökonomische und gesellschaftliche Stabilität ausgerichtete Programm fort, galt aber andererseits aufgrund der Spannungen mit dem Senat als grausamer Herrscher (s. u. 14.3). Nach dem besonnen regierenden Nerva (96–98 n. Chr.) kam mit dessen Adoptivsohn Trajan (98–117 n. Chr.) ein Mann an die Macht, der später als der ideale Kaiser galt. In seiner Zeit hatte das römische Reich die größte Ausdehnung, unter ihm kam es u. a. aber auch zum Judäischen Aufstand in der Diaspora (115–117 n. Chr.; s. u. 3.7.3). Darüber hinaus wurden unter Trajan zum ersten Mal Christusgläubige wegen des Vorwurfs des Aberglaubens (superstitio) hingerichtet (s. u. 14.4). Sein Adoptivsohn Hadrian (117–138 n. Chr.), ein großer Freund griechischer Kultur, setzte die Stabilisierung fort und rückte den Kaiserkult noch stärker in den Vordergrund. 132–135 n. Chr. kam es zum zweiten Aufstand in Judäa (Bar-Kochba-Aufstand). Hadrian ließ ihn niederschlagen und an der Stelle des zerstörten Jerusalem die Stadt Aelia Capitolina errichten (s. u. S. 73).

Kaiserdaten von Augustus bis Hadrian

Imperator Caesar Divi Filius Augustus 27 v. Chr.–14 n. Chr.

Tiberius Caesar Augustus 14–37 n. Chr.

Gaius Caesar Augustus Germanicus Caligula 37–41 n. Chr.

Tiberius Claudius Caesar Augustus Nero Germanicus 41–54 n. Chr.

Nero Claudius Caesar Augustus Germanicus 54–68 n. Chr.

Servius Galba Imperator Caesar Augustus 68–69 n. Chr.

Imperator Marcus Otho Caesar Augustus 69 n. Chr.

Aulus Vitellius Germanicus Imperator Augustus 69 n. Chr.

Imperator Titus Flavius Vespasianus Caesar 69–79 n. Chr.

Imperator Titus Caesar Vespasianus Augustus 79–81 n. Chr.

Imperator Caesar Domitianus Augustus 81–96 n. Chr.

Imperator Nerva Caesar Augustus 96–98 n. Chr.

Imperator Caesar Nerva Traianus Augustus 98–117 n. Chr.

Imperator Caesar Traianus Hadrianus Augustus 117–138 n. Chr.

2.1.2 Die römische Verwaltung

Die römische Verwaltung der frühen Kaiserzeit setzte auf ein System von Ausbildung und Beamtenlaufbahn, klaren Kompetenzen und gesetzlichen Richtlinien. Sie schloss die Ausübung und Repräsentation der römischen Machtstellung ein, wobei hinter dieser Praxis autorisierend und in vielen Bereichen auch entscheidend der römische Kaiser als oberstes Organ stand.

(Provinzverwaltung)

Das Imperium Romanum bestand aus Provinzen und Klientelfürstentümern. Provinzverwaltungen wurden seit 27 v. Chr. zum Teil vom Kaiser, zum Teil vom Senat besetzt. Kaiserliche Provinzen waren etwa Ägypten oder Syrien, die durch Präfekten bzw. Legaten für 2–3 Jahre verwaltet wurden. Zu diesen Legaten für die Provinz Syrien gehörte u. a. P. Sulpicius Quirinius, der im Jahr 6 n. Chr. in dem Verwaltungsgebiet von Judäa eine Volkszählung durchführen ließ (vgl. Lk 2,1f.). Unter anderem unter Tiberius gab es durchaus auch längere Amtszeiten von römischen Funktionsträgern, wie z. B. die zehn Jahre des Pontius Pilatus (Josephus, ant. 18,89). Die zehn senatorischen Provinzen, wie z. B. Asia oder Zypern, wurden vom römischen Senat mit ehemaligen Konsuln bzw. Praetoren für ein Jahr besetzt. Neben den Provinzen gab es Verwaltungsgebiete wie Judäa, deren Leiter Statthaltern untergeordnet waren, die aber keine eigenständigen Provinzen waren (s. u. 2.1.3).

(Statthalter)

Die Statthalter waren vor allem für die Gerichtsbarkeit und die Eintreibung von Steuern und Abgaben verantwortlich. Auch die Durchführung kultischer Verrichtungen für das Heil Roms und des Kaisers sowie für lokale Gottheiten lagen in ihrem Aufgabenbereich. In seiner Amtsführung war ein Statthalter mehr oder weniger frei, sodass Grausamkeit und Ausbeutung ebenso möglich waren wie verständnisvolles Eingehen auf die jeweiligen lokalen Gegebenheiten.

(Lokale Verwaltung)

Erste Verwaltungsinstanz war in der Regel aber keine römische Institution, sondern die lokale Administration. Obwohl die Oberhoheit bei römischen Statthaltern lag, überließen diese viele Bereiche einheimischen Einrichtungen. Vor allem die Ebene der Stadt (πόλις/polis, lat. municipium, civitas) war dabei zentral. Ihre Leitung rekrutierte sich durch Wahl aus den führenden Geschlechtern der Stadt, die in der Lage waren, die finanziellen Belastungen eines Amtes, das unentgeltlich war, zu tragen. Die konkrete Ausgestaltung von Ämtern war aber je nach Stadt und deren Status unterschiedlich. Das entscheidende Gremium war der Rat (βουλή/boulē; lat. curia), dem gegenüber das Volk (δῆμος/dēmos; lat. populus) in römischer Zeit nur noch geringe Bedeutung hatte. Den beiden Gremien zugeordnet war Hilfspersonal wie Schreiber oder Aufsichtsorgane. Auch private Unternehmer erledigten Verwaltungsaufgaben, wie z. B. die Zöllner (τελῶναι/telōnai; lat. publicani), die Steuern und Abgaben erhoben.

2.1.3 Herrschaft in Palästina

Der Großraum Palästina umfasste in der Antike die Gebiete Paneas, Gaulanitis, Trachonitis, Batanäa, Auranitis, Galiläa, Dekapolis, Peräa, Samaria, Judäa, Idumäa sowie einige Küstenstädte wie Askalon/Gaza, Jamneia, Caesarea Maritima, Joppe, Apollonia und Ptolemais. Die Bezeichnung dieses geographischen Bereichs als Palaestina geht auf die Zeit Hadrians nach der Niederschlagung des Bar-Kochba-Aufstands zurück (135 n. Chr.; s. u. 3.5.3). Da er sich in der modernen Altertumswissenschaft als Oberbegriff durchgesetzt hat, wird „Palästina“ hier zur Beschreibung des Großraumes, den in unterschiedlichen Konstellationen Mitglieder der herodianischen Dynastie als Klientelfürsten sowie römische Verwaltungsbeauftragte beherrschten, verwendet.

(Herodes der Große)

An erster Stelle unter den Herrschern Palästinas ist Herodes zu nennen (37–4 v. Chr.), Begründer seiner Dynastie und König von Judäa, Samaria, Galiläa und Batanäa, der daher auch als Herodes der Große bezeichnet wird. Als Idumäer war er eigentlich kein Judäer, achtete aber die Bestimmungen der Tora. Er war als Klientelkönig ein enger Verbündeter des Augustus bzw. Tiberius und trieb die Hellenisierung Palästinas voran. Herodes baute Samaria wieder auf und gründete Caesarea Maritima als Hafenstadt. Er ließ die Paläste von Massada und Herodeion errichten und den Jerusalemer Tempel zu einer großartigen Anlage nach hellenistischem Vorbild umbauen. Hohepriester und Synhedrion, die innerjüdische Leitung, verloren unter ihm ihre traditionelle Macht. Widerstand, auch aus der eigenen Familie, wurde brutal gebrochen, was sich auch in der Erzählung vom Knabenmord in Bethlehem niederschlug (Mt 2,1–19). Herodes teilte sein Reich testamentarisch unter seine Söhne Archelaos, Herodes Antipas und Philippus auf.

(Archelaos / Präfekten)

Archelaos (4 v. Chr.–6 n. Chr.; vgl. Mt 2,22) wurde wegen Unfähigkeit, über die sich die Elite Judäas beschwerte, durch römische Beamte ersetzt. Diese trugen den Titel praefectus/Präfekt, waren ritterlicher Herkunft und untergeordnete Beamte des Legaten von Syrien für das Gebiet von Judäa, Samaria und Idumäa. Sie waren daher auch nicht im eigentlichen Sinn Statthalter. Zu dieser Riege gehörte u. a. Pontius Pilatus (26–36 n. Chr.), unter dem Jesus hingerichtet wurde.

(Herodes Antipas / Philippus)

Das Gebiet von Galiläa und Peräa regierte von 4 v. Chr.–39 n. Chr. Herodes Antipas als Tetrarch. Er war der Landesherr von Johannes dem Täufer und Jesus (Mk 6,14–29; Lk 3,1; 13,31f.; 23,7–12). Philippus erhielt Gebiete im Nordosten Palästinas und regierte von 4 v. Chr.– 33 n. Chr.

(Herodes Agrippa I.)

Von 37–44 n. Chr. gelang es Herodes Agrippa I., einem Freund des Kaisers Claudius, noch einmal, das Großreich seines Großvaters, Herodes dem Großen, wiederherzustellen, allerdings kam er erst im Jahr 41 n. Chr. tatsächlich nach Jerusalem. Unter seiner Regentschaft wurde der Jünger Jakobus, Sohn des Zebedäus, hingerichtet (Apg 12,1f.).

Herrscher aus dem Haus des Herodes

37–4 v. Chr. Herodes der Große
4 v. Chr.–6 n. Chr. Archelaos
4 v. Chr.–39 n. Chr. Herodes Antipas
4 v. Chr.–33 n. Chr. Philippus
37/41–44 n. Chr. Herodes Agrippa I.
48/49–92/93 n. Chr. Herodes Agrippa II.

(Prokuratoren)

Nach dem Tod Agrippas I. übernahmen ab 44 n. Chr. die Römer wieder direkt die Leitung. Die vom Kaiser mit der Verwaltung Beauftragten hatten nun den Rang von Prokuratoren, was ihnen mehr eigenen Handlungsspielraum gab als den früheren Präfekten. Zu nennen sind hier u. a. Cuspius Fadus (44–46 n. Chr.), unter dem es zum Aufstand des Theudas kam (vgl. Apg 5,36), und der romanisierte Judäer Tiberius Iulius Alexander (46–48 n. Chr.). Antonius Felix (52–59 n. Chr.) und Porcius Festus (59–62 n. Chr.) hielten Paulus in Gefangenschaft. Herodes Agrippa II., Sohn von Agrippa I., erhielt ab 48/49 n. Chr. Gebiete im Norden Palästinas, u. a. Galiläa, und herrschte bis 92/93 n. Chr. Nach Apg 25,13–26,32 begegnete Agrippa II. in Caesarea Maritima gemeinsam mit seiner Schwester Berenike dem gefangenen Paulus. Die Rolle der Hohepriester und des Synhedrions war unter diesen Bedingungen die des Vermittlers zwischen römischer Herrschaft und dem Volk vor Ort. Sie bemühten sich um Frieden und die Weiterführung des Kultes, verloren aber zunehmend die Anerkennung ihrer religiösen Legitimation.

(Nach 70 n. Chr.)

Nach dem Ende des ersten Aufstandes der Judäer im Jahr 70 n. Chr. übernahm zunächst der Kommandant der in Jerusalem stationierten Legio X Fretensis auch das Amt des Prokurators. Die nun von Syrien unabhängige senatorische Provinz Judäa, in der um 110 n. Chr. eine zweite römische Legion stationiert wurde, bestand bis zum Ende des zweiten Aufstandes (132–135 n. Chr.). Nach dessen Niederschlagung wurde Judäa in Syria-Palästina umbenannt.

Römische Beauftragte in Palästina 6–66 n. Chr.

Präfekten

6–9 Coponius
9–12 Marcus Ambibulus
12–15 Annius Rufus
15–26 Valerius Gratus
26–36 Pontius Pilatus
36–37 Marcellus
37–41 Marullus

(37/41–44 Agrippa I.)

Prokuratoren

44–46 Cuspius Fadus
46–48 Tiberius Iulius Alexander
48–52 Ventidius Cumanus
52–59 Antonius Felix
59–62 Porcius Festus
62–64 Albinus
64–66 Gessius Florus

2.2 Gesellschaft und Kultur

2.2.1 Der mediterrane Raum

(Verbreitungsgebiete des Christentums)

Vom Großraum Palästina mit seinen zahlreichen Landschaften ausgehend kam der Christusglaube bis 135 n. Chr. in weite Bereiche des römischen Imperiums. Belegt ist dies vor allem für Syrien, Kleinasien, Griechenland und das südliche Italien, doch ist auch eine frühe Verbreitung nach Ägypten und Nordafrika, nach Norditalien, auf den Balkan und vielleicht auch nach Spanien sehr wahrscheinlich. In dieser Welt entstand das frühe Christentum. Es ist daher von größter Bedeutung, die verschiedenen Kontexte, aus denen die ersten Christusgläubigen stammten und in denen sie selbstverständlich lebten, genauer zu betrachten.

2.2.1.1 Der einheitliche Kulturraum

(Hellenisierung)

Von größter Bedeutung für die Entstehung und Ausbreitung der Christusbotschaft war der durch die Hellenisierung seit Alexander dem Großen (356–323 v. Chr.) entstandene einheitliche Kulturraum. Griechische Kultur war vor allem in der östlichen Hälfte des Imperiums das bestimmende Moment, das sich in allen Lebensbereichen durchsetzte. Städte wurden nach griechischem Vorbild gebaut und gesellschaftlich strukturiert. Gymnasien, Bäder, Theater und Tempel wurden an allen Orten zu Kennzeichen griechischer Lebenskultur. Die Verehrung der olympischen Götter war überall verbreitet, und die jeweiligen autochthonen Kulte wurden mithilfe einer interpretatio Graeca integriert. Auch griechische Philosophie verbreitete sich weit über Griechenland hinaus, sodass sie in der Kaiserzeit ihre Zentren in Alexandria oder Rom hatte. Da sich auch die römische Welt in weiten Bereichen der Hellenisierung anschloss, kann man für den Mittelmeerraum von einer beinahe vollständigen Akkulturation ausgehen, die zu einem einheitlichen Kulturraum führte.

(Koine-Griechisch)

Für die Übernahme der griechischen Kultur spielte auch die griechische Sprache eine eminent wichtige Rolle Sie wurde zur Lingua franca im gesamten östlichen Mittelmeerraum bis weit in die Bevölkerungen Roms und Süditaliens hinein. Nicht nur in den Städten, sondern auch in den ländlichen Bereichen etwa Kleinasiens wurde Koine-Griechisch, das „allgemeine“ Griechisch, gesprochen. Damit verstärkte sich die Möglichkeit, Ideen und Kulte zu verbreiten, noch weiter. So ist es nicht verwunderlich, dass ab dem 3. Jh. v. Chr. Judäer in Alexandria ihre heiligen Schriften ins Griechische übersetzten und damit die Septuaginta (LXX) schufen. Später wurden auch das Neue Testament sowie die gesamte frühchristliche Literatur in Koine-Griechisch verfasst.

(Lokale Besonderheiten)

Selbstverständlich gab es von dieser umfassenden Akkulturation partielle Ausnahmen, die in einzelnen Bereichen eine gewisse Eigenständigkeit bewahrten. Das konnte etwa die Sprache betreffen: So blieb in Syrien und Palästina Aramäisch die erste Sprache, auch wenn in den Städten Griechisch vorherrschte. Auch lokale Sprachen wie das Hebräische, Koptische, Lykaonische oder Phrygische wurden weiterhin gesprochen. Die Hellenisierung der Kulte wurde in manchen Gebieten nur teilweise betrieben, wie sich am Judentum oder an ägyptischen religiösen Traditionen zeigt. Auch die Wirtschaftsstrukturen wurden nicht überall gleichermaßen dem griechischen Modell angepasst.

2.2.1.2 Stabilität und Pax Romana

(Pax Romana)

Das Imperium Romanum befand sich in der Zeit des frühen Christentums trotz mancher Konflikte an den Außengrenzen und seltener politischer Unsicherheit in einer Phase der Stabilität und Ausdehnung, der sogenannten Pax Romana. Das ermöglichte Investitionen in eine prosperierende Wirtschaft, die umfassende Neugestaltung der Städte und den Aufbau einer für antike Verhältnisse hervorragenden Infrastruktur. Zahlreiche römische Straßen, die sowohl dem imperiumsweiten Handel wie auch dem Militär dienten, verbanden alle Teile des Reiches. So konnte etwa Paulus auf seinen Reisen zwei bekannte Straßen nutzen: die Via Sebaste im Inneren Kleinasiens, die durch das pisidische Antiochien, Ikonion und Lystra führte, und die Via Egnatia, die vom Bosporus durch Makedonien und Illyrien bis an die Adriaküste verlief. Die erfolgreichen Kämpfe gegen das Piratenunwesen erlaubten zudem Schiffsreisen, mit denen weite Entfernungen relativ sicher bewältigt werden konnten.

2.2.2 Die Stadt als Zentrum des antiken Lebens

(Stadt)

Das soziale Leben war im Osten des Imperiums durch die Stadt geprägt. Diese bestand aus der eigentlichen Polis und ihrem landwirtschaftlich bedeutenden Umfeld. Die Stadt war der Kulturraum, in dem sich das frühe Christentum hauptsächlich verbreitete. Während die Leute auf dem Land als ungebildet galten, hatte die Stadt ein geordnetes Bildungs- und Kulturangebot und war durch Ämter und Verwaltungseinheiten strukturiert. Sie bot durch Märkte und Handwerksstätten zahlreiche ökonomische Möglichkeiten und stellte gesellschaftliche Angebote zur Verfügung. Gymnasien und Bäder sowie Vereinigungen erfüllten das Bedürfnis nach Geselligkeit, Theater und Stadien das nach Unterhaltung. In Tempeln unterschiedlicher Gottheiten vollzog sich darüber hinaus das religiöse Leben einer Stadt.

(Provinz)

Mit dem Vordringen und der Machtübernahme der Römer trat ein weiteres Element hinzu. Zum einen wurden die Städte, die zuvor Teile von lokalen Königreichen gewesen waren, in Provinzen eingegliedert. Der Statthalter und sein Apparat legten nun die Regeln fest, die Steuern flossen nach Rom. Manche Städte erhielten zwar Privilegien, die ihnen ein höheres Maß an Selbstverwaltung zubilligten, doch auch sie standen selbstverständlich unter der Herrschaft Roms. Die Gründung zahlreicher römischer Kolonien, wie z. B. von Korinth oder Philippi, und die Zuwanderung in die großen Städte führten zu einer wachsenden Präsenz römischer Bürger im Osten, die dort auch kulturell ihren Stempelabdruck hinterließen. Die lokalen Eliten der Städte waren daher stets um gute Beziehungen zu den römischen Institutionen und vor allem zum Kaiser bemüht. Zugleich war die frühe Kaiserzeit eine Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs gerade der Provinzen im Osten, was sich an den zahlreichen öffentlichen Bauwerken bis heute erkennen lässt.


Karte 1: Das römische Reich in neutestamentlicher Zeit

2.2.3 Soziale Gruppen

Unterhalb der Polis-Ebene bestanden verschiedene Gruppen mit einer hohen Bedeutung für das gesellschaftliche Zusammenleben.

2.2.3.1 Familie und Haus

(Haus)

Basis der Gesellschaft war die Familie. Ihre Bezeichnung als „Haus“ (οἶκος/oikos bzw. οἰκία/oikia; lat. domus) lässt erkennen, dass die Familie – Eltern mit 2–3 Kindern – mit dem Haushalt identifiziert wurde und über die verwandtschaftlichen Grenzen hinaus auch Sklaven und Sklavinnen bzw. Freigelassene umfassen konnte. Das gilt auch für das semitische Äquivalent bayit. Je nach wirtschaftlicher Potenz konnte ein „Haus“ größer oder kleiner sein. Oft wohnten auch noch die Großeltern oder andere Verwandte unter demselben Dach. Die Orientierung am Haus zeigt an, dass die Familie auch als ökonomische Einheit verstanden wurde. Antike Werke aus der Feder etwa des Xenophon oder (angeblich) des Aristoteles widmeten sich unter dem Titel „Ökonomie“ ausführlicher der ordentlichen Führung eines Haushalts.

(Rollen im Haus)

Das Rollenverständnis innerhalb der Familien war klar festgelegt: Der Hausherr (griech. οἰκοδεσπότης/oikodespotēs; lat. paterfamilias) war der Herr über alle Mitglieder des Hauses, oberster Priester der Hauskulte und Repräsentant nach außen. Die Aufgaben der Frau wurden zumeist auf den internen Bereich festgelegt, also Hauswirtschaft und Erziehung. Kinder und Sklaven/Sklavinnen standen am unteren Ende der Hierarchie. Die Erfüllung der jeweiligen Rollen war Grundvoraussetzung für das Funktionieren des Haushalts. Das gilt grundsätzlich in allen Gegenden des Mittelmeerraums, wenngleich es zwischen griechischer und römischer Tradition durchaus Unterschiede gab, die u. a. rechtliche Regelungen betrafen. Der jeweilige gesellschaftliche Stand konnte überdies Frauen mehr oder weniger Freiraum ermöglichen.

2.2.3.2 Freie und Sklaven

Als frei galten in der griechisch-römischen Gesellschaft all jene, die entweder frei geboren oder aus der Sklaverei freigelassen worden waren. Frei Geborene bildeten jenen Teil der Polis-Gesellschaft, der an den politischen Prozessen beteiligt war, wobei auch ökonomische und andere Faktoren selbstverständlich eine Rolle spielten. Freigelassene hingegen unterlagen verschiedenen Einschränkungen, die erst bei ihren Nachkommen, die als frei geboren galten, wegfielen.

(Stellung von Sklaven)

Hinsichtlich der Stellung von Sklaven und Sklavinnen die Angehörige von Haushalten mit entsprechenden finanziellen Mitteln waren, ist eine differenzierte Wahrnehmung wichtig. Grundsätzlich galt ein Sklave (griech. δοῦλος/doulos; lat. servus) als Eigentum seines Herrn, über das dieser vollständige Verfügungsmacht hatte. Es handelte sich also um ein strukturelles Gewaltverhältnis, das allerdings in der Praxis und zumal in der Kaiserzeit gegenüber den historischen Anfängen bereits abgemildert war. Die Situation der Sklaven und Sklavinnen, die 15–30 Prozent der Bevölkerung einer Stadt ausmachten, hing von ihrem Einsatzort und ihrer Ausbildung ab: Am schlechtesten stand es wegen der Arbeitsbedingungen um jene, die in Bergwerken arbeiten mussten. Die Landgüter (Latifundien) der Oberschicht waren nur durch die Arbeitskraft von Sklaven wirtschaftlich zu führen, wobei die Aufsicht zumeist ebenfalls einem Sklaven überlassen wurde (vgl. Lk 12,42–48). Eine gute Behandlung der Sklaven als wichtige Arbeitskräfte war durchaus bedeutend, um die wirtschaftliche Investition zu schützen. Viele Sklaven und Sklavinnen in den Städten gehörten zu einzelnen Haushalten (Haussklaven, griech. οἰκέται/oiketai) und erfüllten neben Haushaltstätigkeiten auch Funktionen als Erzieher, Lehrer oder Schreiber. Andere arbeiteten in Werkstätten, in der städtischen oder imperialen Verwaltung bzw. in der Prostitution. Ihre Lebensverhältnisse richteten sich nach ihrer Qualifikation und Bindung an den Hausherrn oder andere Mitglieder der Familie. Einige wenige Sklaven, u. a. jene, die zum Kaiserhaus gehörten, hatten durchaus machtvolle Positionen inne. Ein Sklave zu sein, musste also nicht automatisch Armut oder Misshandlungen mit einschließen. Die Lebensumstände eines Sklaven hingen vielmehr von den sozialen und ökonomischen Verhältnissen des Besitzers sowie von dessen Umgang mit seinen Sklaven ab.

(Neue Sklaven)

Eine Quelle von Sklaven und Sklavinnen waren Kriege, in deren Folge die Unterlegenen in großer Zahl und in alle Bereiche des Mittelmeerraums verkauft wurden. Solche Auseinandersetzungen konnten den hohen Bedarf allerdings nur kurzfristig ausgleichen. In der Kaiserzeit waren die meisten Sklaven und Sklavinnen selbst Nachkommen von Sklaven (οἰκογενεῖς/oikogeneis, lat. vernae). Junge oder neue Sklaven wurden im Haus ausgebildet, um dann auch gewinnbringend verkauft werden zu können. Der Hausherr konnte Ehen zwischen Sklaven erlauben, zugleich waren sexuelle Beziehungen zwischen ihm und Sklavinnen bzw. Sklaven ebenfalls möglich. Kinder von Sklaven waren Eigentum des Besitzers.

(Freilassung)

Ein wichtiges Lebensziel vieler Sklaven und Sklavinnen war die Freilassung durch ihren Herrn (άπ-έλευθερία/ap-eleutheria, lat. manumissio). Während der Sklave ein Freigelassener wurde, ein άπ-έλεύθερος/ap-eleutheros (lat. libertus), wurde sein Herr zu seinem Patron. Er besaß dadurch noch ein gewisses Verfügungsrecht über seinen ehemaligen Sklaven, der nun zu seinem Klienten geworden war. Die Freilassung von Sklaven und Sklavinnen konnte auch testamentarisch festgesetzt oder durch die Zahlung einer Geldsumme an den Besitzer erreicht werden. Vielen Sklaven und Sklavinnen wurde von ihren Besitzern die Möglichkeit eingeräumt, Geld anzusparen, um sich schließlich selbst freikaufen zu können. Die Aussicht auf Freilassung führte dazu, dass Flucht, die strengstens bestraft wurde, und Aufstände wie jene, die zwischen 140 und 70 v. Chr. blutig niedergeschlagen wurden, eher selten waren.

Trotz mancher Überlegungen zur prinzipiellen Gleichheit aller Menschen und einer dementsprechenden Problematisierung der Sklaverei in der kynisch-stoischen Philosophie wurde dieses System in der gesamten Antike nicht in Frage gestellt, auch nicht durch das entstehende Christentum.

2.2.3.3 Vereinigungen

Eine wichtige Stellung zwischen den gesellschaftlichen Ebenen von Familie und Polis nahmen Vereinigungen ein. In der frühen Kaiserzeit erlebte der Mittelmeerraum ein Aufblühen des Vereinswesens, sodass ein gewichtiger Teil der Bevölkerung in den Städten – bis zu einem Drittel aller freien Männer – Mitglied in einer oder mehreren Vereinigungen war.

(Netzwerke)

Vereinigungen fungierten als soziale Netzwerke, in denen sich Menschen aufgrund ähnlicher Interessen trafen. Sie hatten einen beruflichen, ethnischen oder religiösen Schwerpunkt, wobei die Verehrung von Göttern in allen Vereinigungen eine Rolle spielte. Weit verbreitet waren z. B. Vereinigungen, die den Dionysos- bzw. Bacchuskult pflegten, in vielen wurde auch zusätzlich zur eigentlichen Vereinsgottheit der Kaiser verehrt.

(Kultische Dimension)

Viele der Namen, die sich Vereinigungen gaben, verweisen auf Gottheiten: Dionysiasten (=Iobakchen), Isiakoi (Verehrer der Isis), Demetriasten (Verehrer der Demeter), Poseidoniasten (Verehrer des Poseidon) usw. Andere rückten den Beruf im Namen in den Vordergrund, wieder andere ihre Herkunft. Zu Letzteren gehörten auch die „Synagogen der Judäer“, also die Versammlungen jener, die selbst oder deren Vorfahren aus Judäa stammten. Darüber hinaus gab es die unterschiedlichsten griechischen und lateinischen Bezeichnungen, zu denen u. a. θίασος/thiasos, ἔρανος/eranos, σύνοδος/synodos und έταιρία/hetairia gehören bzw. die lateinischen Begriffe collegium, societas und sodalitas. Im Bereich des aramäischsprachigen Judentums begegnet der Begriff chavurah, der in der Mischna dementsprechend verwendet wird (vgl. mErub 6,6).

(Vereinsleben)

Feste für die Götter mit einem anschließenden Gemeinschaftsmahl stellten das Zentrum des Vereinslebens dar, wie überhaupt der Freundschaftsaspekt von großer Bedeutung war. Die Treffen fanden je nach finanziellen Möglichkeiten in privaten Unterkünften oder angemieteten Räumen statt, in einem an einen Tempel angeschlossenen Speiseraum oder in einem eigenen Vereinshaus. Mähler wurden aus der gemeinsamen Kasse (griech. κοινόν/koinon) finanziert, in die festgesetzte Beträge regelmäßig eingezahlt wurden. Dazu kamen Gelder aus Beitrittsgebühren sowie von Sponsoren und Patronen, die manchmal sehr großzügig ausfielen. In Vereinsordnungen, die uns in Inschriften oder auf Papyrus überliefert sind, spielen diese Mahlzeiten, ihre Häufigkeit, Regelung und Finanzierung, eine große Rolle, woraus deutlich wird, dass sie der wichtigste Teil des Vereinslebens waren.

(Begräbnisse)

Über das gemeinsame Essen und Trinken hinaus machten es sich Vereinigungen auch öfters zur Aufgabe, für standesgemäße Begräbnisse ihrer Mitglieder und eine fortdauernde Erinnerung an sie zu sorgen. Dies war vor allem für die Ärmeren wichtig, die sonst nach ihrem Tod in einem Massengrab verscharrt worden wären. Vermögendere Vereinigungen hatten sogar eigene Begräbnisstätten, in Rom etwa sogenannte Columbarien. Möglich waren zudem Kreditvergaben aus der Vereinskasse, die manchmal auch Hauptzweck der Vereinigung waren.

(Ämter)

Für viele Bewohner einer Polis stellte die Mitgliedschaft in einer Vereinigung die einzige Möglichkeit dar, ein gewisses Maß an Ansehen zu gewinnen. Denn die innere Struktur dieser Gemeinschaften war jener der Polis nachgebildet, sodass es neben der Vereinsversammlung auch zahlreiche Ämter gab, die grundsätzlich allen Mitgliedern offenstanden. Unter den sehr unterschiedlichen Funktionsbezeichnungen sind auch solche, die sich in frühchristlichen bzw. jüdischen Gruppen finden: Presbyteros („Ältester“; z. B. CIRB 1283; IGUR I 77), Episkopos („Aufseher“; IDelos 1522), Diakonos („Diener“; ICariaR 162), Archisynagogos („Synagogenvorsteher“; GRA I 66), Grammateus („Schreiber“; GRA II 111).

Eine große Zahl an Ehreninschriften für verdiente Funktionäre von Vereinigungen, die die unterschiedlichsten Titel tragen konnten, bezeugen überdeutlich, wie wichtig Ämter waren. In der Praxis bedeutete die Übernahme eines Amtes wie in der Polis oft auch eine finanzielle Belastung.

(Zusammensetzung)

Die Zusammensetzung der Vereinigungen war sehr unterschiedlich. Zwar waren in den meisten ausschließlich Männer zugelassen, es gab aber auch gemischte Vereinigungen (GRA I 40.61; II 105.117; IGUR III 160), seltener reine Frauenvereinigungen (GRA I 143; IGBulg IV 1925,b). Hinsichtlich der sozialen Herkunft lässt sich Ähnliches beobachten: Etliche Vereinigungen bestanden ausschließlich aus Mitgliedern der lokalen Elite (GRA I 51), andere nur aus Sklaven und Freigelassenen (GRA I 68), wieder andere waren Mischformen (GRA II 117). Die Zahl der Mitglieder war in der Regel nicht groß (15–30 Personen), sehr selten waren Vereinigungen mit mehreren hundert Personen (IGUR III 160).

(Rechtliche Situation)

Die rechtliche Situation war charakterisiert durch die grundsätzliche Freiheit, Vereinigungen gründen zu dürfen, solange sich diese als loyal gegenüber den Interessen von Polis und Imperium und harmlos erwiesen. Erst wenn Probleme auftraten, wurden die römischen Behörden aktiv. Der sogenannte Bacchanalienskandal, über den uns ein erhaltener Senatsbeschluss aus dem Jahr 186 v. Chr. (CIL I3 581) sowie der römische Geschichtsschreiber Livius informieren (ab urbe condita 39,8–19), war der erste Fall, in dem eine Vereinigung verboten wurde. Später wurden bei politischen Unruhen in Rom ebenfalls Vereinigungen untersagt, während andere – wie etwa jene der Judäer – ausdrücklich erlaubt wurden (Sueton, Caes. 42,3; Aug. 32,1; Josephus, ant. 14,213–216). In Briefen an den Statthalter Plinius in der kleinasiatischen Provinz Bithynien-Pontus untersagte Trajan die Zulassung von Vereinigungen (Plinius d. J., epist. 10,33f.; 92f.), sodass sich auch Christusgläubige nicht mehr trafen, weil sie dies auch auf ihre Versammlungen bezogen (epist. 10,96). Für einige wenige Vereinigungen im Bereich der Stadt Rom, die Mitglieder der Eliten als Patrone hatten, ist demgegenüber eine formelle Bewilligung durch den römischen Senat belegt (CIL VI 2193; XIV 2112). Die allermeisten Vereinigungen hatten aber keinerlei Zulassung und benötigten diese auch nicht. Sie waren vielmehr wichtige Bestandteile in der Sozialstruktur der antiken Welt.

2.2.3.4 Bürger und Fremdlinge

(Städtisches Bürgerrecht)

Jeder freie männliche Bewohner einer Stadt war auch ihr Bürger und hatte damit bestimmte politische Rechte, die Frauen, Sklaven und Sklavinnen sowie Fremden nicht gewährt wurden. Dies betraf u. a. die grundsätzliche Möglichkeit, öffentliche Funktionen auszuüben oder in der Bürgerversammlung (έκκλησία/ekklēsia) an Abstimmungen teilzunehmen. Aber auch hier bestanden Einschränkungen aufgrund des Alters, des Vermögens, durch Beruf oder Herkunft.

(Römisches Bürgerrecht)

Vom städtischen Bürgerrecht zu unterscheiden ist das römische Bürgerrecht (πολιτεία/politeia, lat. civitas), das das römische Stadtbürgerrecht zu einem Reichsbürgerrecht umwandelte. In der Kaiserzeit war es miteinander vereinbar, sowohl Bürger einer Polis als auch römischer Bürger zu sein. Auch Judäer konnten römische Bürger werden, da keine kultischen Verpflichtungen damit verbunden waren. Das Bürgerrecht konnte auf verschiedenen Wegen erworben werden: durch Geburt von freien Eltern bzw. Adoption, durch Freilassung durch einen römischen Bürger oder durch Verleihung (individuell oder als Gemeinschaft), gegebenenfalls auch durch Kauf (vgl. Apg 22,28). Soldaten erhielten das Bürgerrecht nach Ablauf ihrer Verpflichtung (d. h. nach 16–28 Jahren, je nach Truppenteil). Das Bürgerrecht umfasste Rechte wie etwa die Möglichkeit zu politischer Mitbestimmung, die Anrufung des Kaisers in Gerichtsverfahren oder die Freiheit von bestimmten Steuern und Verpflichtungen. Nach 212 n. Chr. besaßen alle Bewohner des Römischen Reiches das römische Bürgerrecht.

(Migration / Neuansiedlung)

Die großen Städte des Mittelmeerraums bestanden aber nicht nur aus Einwohnern, die vor Ort geboren waren, vielmehr spielte Migration eine wichtige Rolle für die Zusammensetzung der Bevölkerung. Die weite Verbreitung von Fremden (Metöken bzw. Peregrinen) resultierte aus verschiedenen Phänomenen: So führten etwa Städtegründungen dazu, dass Menschen ihre Heimat verließen und sich in neuen Siedlungen niederließen. Beispielsweise bestand die Metropole Alexandria in Ägypten aus angesiedelten Griechen, die das städtische Bürgerrecht hatten, sowie Judäern, die mit wechselndem Erfolg dieses Bürgerrecht beanspruchten, und Ägyptern, denen das Bürgerrecht in der hellenistischen Stadt verwehrt wurde. In römischen Kolonien wie Philippi oder Korinth waren es zunächst die römischen Siedler – Veteranen und Bauern –, die das städtische Bürgerrecht hatten, doch wurde die ursprüngliche Bevölkerung mehr oder weniger integriert.

(Wirtschaftsmigration)

Ein anderer Grund für Migration waren wirtschaftliche Anlässe: Handelstreibende, aber auch Handwerker und Arbeiter folgten den ökonomischen Möglichkeiten. Hafenstädte wie Korinth, Alexandria oder Ostia bestanden daher aus Angehörigen verschiedenster Völker. Gleiches galt für die Verwaltungsorgane oder das Militär.

(Sklavenmigration)

Als dritter Faktor für Migrationsbewegungen ist schließlich die Sklaverei zu nennen. Sklaven und Sklavinnen wurden durch das gesamte Imperium transferiert, sodass sie sich – oftmals getrennt von Familienangehörigen – an weit entfernten Orten wiederfanden, in sehr vielen Fällen in der Stadt Rom selbst.

(Kulturaustausch)

Diese verschiedenen Formen der Migration führten nicht nur zur Ausbildung von Gruppen innerhalb der Städte, sondern auch zum Kulturaustausch sowohl hinsichtlich der Sprache als auch im Hinblick auf Religiosität und Kulte. Durch die jüdische Diaspora, die zahlenmäßig größer war als die jüdische Bevölkerung in Palästina, wurde z. B. der bildlose Monotheismus der Judäer bekannt samt ihrer besonderen Bräuche. Über das Militär verbreitete sich u. a. die Mithrasverehrung, und für die Isis- und Serapiskulte spielten Ägypter eine wichtige Rolle. Migration ist daher auch als ein wichtiger Faktor für die Verbreitung des frühen Christentums zu berücksichtigen.

2.2.4 Soziale Differenzierung

Innerhalb der griechisch-römischen Gesellschaft gab es deutliche soziale Unterschiede, die sich sowohl in den politischen Beteiligungsmöglichkeiten als auch in den ökonomischen Verhältnissen zeigten. Im Einzelnen stellt sich dies wie folgt dar:

2.2.4.1 Soziale Stratifikation

(Oberschicht)

Die imperiale Führungsschicht bestand aus dem Kaiser und seiner Familie sowie den einflussreichen Senatoren, war also zahlenmäßig sehr klein. Ihre Mitglieder hatten aufgrund ihrer Herkunft und der damit verbundenen Einflussmöglichkeiten teilweise enormen Landbesitz bzw. riesige Vermögen zur Verfügung. Auch die Angehörigen der imperialen Oberschicht, zu der die übrigen Senatoren, die Angehörigen des Ritterstandes (eques), Klientelfürsten, Priesterfamilien und die engsten Gefolgsleute der elitären Haushalte gehörten, zeichneten sich ebenfalls durch Herkunft und Besitz aus. Zur Elite zählen schließlich auch die Mitglieder der lokalen Oberschicht und Dekurionen in den Städten des Imperiums sowie deren engste Gefolgsleute.

Die zahlenmäßig kleine Minderheit aus Führungs- und Oberschicht – 1–5 % der Bevölkerung – bestimmte nicht nur das politische Geschick der großen Mehrheit, sie war auch für die Errichtung und Erhaltung von Bauwerken, die Abhaltung von Spielen und vieles mehr verantwortlich. Ihren Mitgliedern wurde in Ehrungen, von denen sehr viele Inschriften bis heute Zeugnis ablegen, diese hohe soziale Stellung umgekehrt auch immer wieder bestätigt.

(Mittelschicht)

Umstritten war in der Forschung lange Zeit, ob es unterhalb dieser schmalen Oberschicht eine Mittelschicht gab. Aus der Perspektive der Eliten war das nicht der Fall, da alles außerhalb ihrer Gruppe als plebs („Volk“) galt. Aus ökonomischer Perspektive, aber auch unter dem Gesichtspunkt gewisser politischer Einflussmöglichkeiten wird jedoch deutlich, dass man eine große Anzahl von Personen – zwischen 25 und 40 Prozent der Bevölkerung – im Imperium Romanum als Mittelschicht bezeichnen kann. Auch hier zeigen sich reichsweite, provinziale und lokale Gruppierungen. Zu ihnen gehörten ein großer Teil des Militärs, freie Bürger der Städte und Freigelassene aus der familia Caesaris. Sie waren Grundeigentümer, Händler und Handwerker oder Gebildete wie Lehrer oder Ärzte. Viele von ihnen waren Klienten von Patronen aus der Oberschicht.

(Unterschicht)

In der zahlenmäßig weit größeren Unterschicht lässt sich zwischen einer städtischen (plebs urbana) und einer ländlichen (plebs rustica) unterscheiden. Sie sind beide weiter nach Einkommen, Bildung und rechtlicher Stellung differenziert. Die Chancen zum Aufstieg in die Mittelschicht waren zwar begrenzt, doch bestand für die Angehörigen der Unterschicht die Möglichkeit, durch Beziehungen zu einflussreichen Personen ihren eigenen Sozialstatus zu erhöhen. Diese Patron-Klienten-Verhältnisse spielten in der römischen Gesellschaft als Institution eine wichtige Rolle und waren auch auf informeller Ebene von hohem Wert.

(Lokale Unterschiede)

Diese die Verhältnisse im Imperium Romanum abbildenden Modelle sind indes nicht generell und überall anzuwenden. Obwohl gerade hinsichtlich des Zugangs zu Macht und der Zugehörigkeit zu gesellschaftlichen Gruppen die Romanisierung in weiten Teilen des Imperium Romanum sehr weit fortgeschritten war, war dies etwa bei Judäern oder auch Ägyptern noch nicht so. Angehörige dieser Völker hatten aufgrund ihrer kulturellen Differenz noch viel geringere Möglichkeiten, Teil der führenden Schichten des römischen Reiches zu werden.

2.2.4.2 Die ökonomischen Verhältnisse im Imperium Romanum

(Einkommensstufen)

Berechnungen über die Vermögensverteilung im Imperium Romanum zeigen, dass die Hauptmenge des Vermögens in der Hand eines kleinen Teils der Bevölkerung lag, dass es aber unterhalb dieses Levels durchaus unterschiedliche Einkommenssituationen gab. So ist für eine differenzierte Wahrnehmung das Erreichen, Unter- oder Überschreiten des Existenzminimums ein wichtiges Kriterium. Hinzu kommt, dass bei der Verteilung des Vermögens sowohl zwischen den verschiedenen Teilen des Imperium Romanum Unterschiede bestanden als auch zwischen Stadt und Land. Ebenfalls zu beachten ist, dass der Status von Personen, ob sie z. B. Sklaven oder Freie, Zuwanderer oder Einheimische waren, nicht mit deren ökonomischer Situation gleichgesetzt werden darf. Sklaven waren nicht selbstverständlich arm, Arme waren in der Regel frei. Eine Übersicht über die verschiedenen Einkommensstufen einer durchschnittlichen Stadt im griechischen Osten ergibt Folgendes:


Deutlich wird aus dieser Übersicht, dass etwa drei Prozent der Bevölkerung die ökonomische Elite darstellten, die über den weitaus größten Anteil an Vermögen verfügte. Zugleich lebten ca. fünfundfünfzig Prozent (Stufen 6 und 7) knapp am oder unter dem Existenzminimum; sie waren die tatsächlich Armen, deren materielle Sicherheit nicht dauerhaft gewährleistet war. Angehörige aus der ökonomischen Stufe 5 konnten mit einiger Zuversicht auf eine sichere Zukunft hoffen, während jene aus Stufe 4 erwarten konnten, über die Generationen hinweg weiter aufzusteigen. Zusammen beläuft sich der Anteil der mittleren ökonomischen Schicht in den Städten auf etwa zweiundvierzig Prozent.

(Wohnsituation)

Die soziale Differenzierung spiegelte sich auch in der Wohnsituation der Menschen in den Städten wider. In den prächtigen Villen mit großzügiger Ausstattung und Raumverhältnissen, deren Reste heute noch in Pompeji zu sehen sind, wohnten die Reichen und Mächtigen, sie waren aber zugleich Arbeits- und Schlafplatz von Sklaven und Sklavinnen. Handwerkern und Händlern boten ihre Werkstätten, Lagerräume bzw. Hinterzimmer Wohnmöglichkeiten. In Ein-Raum-Wohnungen in den obersten Stockwerken der Wohneinheiten (insulae) kamen jene unter, die sich dies gerade noch leisten konnten, während die wirklich Armen auf der Straße schliefen.

2.3 Griechisch-römische Philosophie

Die antike Philosophie war auf ein vollständiges Verstehen der Welt ausgerichtet und beinhaltete die Naturwissenschaften, Theologie und Metaphysik, Logik, Ethik und vieles mehr. Ihr Ziel war nicht allein die denkerische Durchdringung aller dieser Themenfelder, sondern darüber hinaus die umfassende Gestaltung des Lebens entsprechend ihren Erkenntnissen.

(Philosophische Schulen)

Die philosophische Praxis fand vor allem in Philosophenschulen statt, die nach dem Vorbild ihres jeweiligen Gründervaters geordnet waren. In diesen privaten Institutionen versammelte ein Lehrer, der einer bestimmten philosophischen Richtung angehörte, Schüler um sich, die er gegen Bezahlung unterrichtete. Dazu gehörte vor allem die Kommentierung der Schriften der Begründer der jeweiligen Philosophie, aber auch die diskursive Erörterung von Physik, Ethik und Dialektik. Die Schüler, seltener auch Schülerinnen, sollten darüber hinaus auch die den Lehren entsprechende moralische Haltung einüben.

Unter den zahlreichen philosophischen Richtungen waren in der frühen Kaiserzeit folgende verbreitet:

2.3.1 Stoizismus

Diese von Zenon von Kition im 4. Jh. v. Chr. gegründete Philosophenschule, benannt nach dem Unterrichtsort in Athen, der bemalten Säulenhalle (Stoa Poikilē), erlebte in der frühen Kaiserzeit eine neue Blüte. Ihre bedeutendsten Vertreter dieser Zeit waren Musonius Rufus (ca. 30–100 n. Chr.), Seneca (ca. 4 v. Chr.–65 n. Chr.), Epiktet (ca. 50–125/138 n. Chr.) sowie der Kaiser Marcus Aurelius (121–180 n. Chr.).

(Stoische Kosmologie)

Neben Logik waren im Stoizismus vor allem Naturphilosophie (Physik) und Ethik von besonderer Bedeutung. Der Kosmos wurde als ein Wesen angesehen, den das materiell verstandene Pneuma („Geist“) bzw. der Logos („Sinn“) als seine Seele lenkt. Von den vier Weltelementen Wasser, Erde, Luft und Feuer wurde das Feuer als das grundlegende bestimmt. Nach der zyklischen Kosmologie des Stoizismus kam der Kosmos aus dem Feuer und würde wieder im Feuer enden, um von Neuem zu entstehen.

(Stoische Ethik)

Die ethischen Lehren der Stoiker verwiesen darauf, dass es einer Unterscheidung zwischen den wichtigen und unwichtigen Dingen im Leben bedarf. Während Gesundheit, Wohlstand oder sozialer Status als unbedeutend eingeschätzt wurden, galt die Tugend als das einzig Wesentliche. Als tugendhaft galt ein Leben, das in Einklang mit dem Kosmos steht, die Leidenschaften beherrscht, die Affekte beseitigt und dem Handelnden damit absolute Autonomie und Freiheit eröffnet.

2.3.2 Epikuräer

(Das Streben nach Glück)

Die Epikuräer schlossen sich an den Athener Philosophen Epikur an (342–271 v. Chr.) und bildeten organisierte Gruppen im ganzen Römischen Reich. Epikurs Philosophie orientierte sich daran, dass der Mensch nach Glück strebt: Unbekanntes sollte verständlich (Physiologie), Unerreichbares als irrelevant angesehen, Unvermeidliches akzeptiert werden. Der therapeutische Charakter dieser Philosophie war besonders wichtig. Die Schriften Epikurs fungierten quasi als heiliger Text, der Philosoph wurde als Retter verehrt. Zu den Epikuräern gehörten auch Frauen und ausgewählte Sklaven. Die kleinen Gemeinschaften betrieben einen Rückzug ins Private.

2.3.3 Kynismus

(Wanderphilosophen / Diatribe)

Im 4. Jh. v. Chr. entwickelte vor allem Diogenes von Sinope eine Form der Philosophie, die in der Kaiserzeit ausgesprochen populär war. Der Kynismus leitet sich von dem Spottnamen κύνες (kynes/Hunde) ab, da die Vertreter dieser Philosophie aufgrund ihres schamlosen Verhaltens mit Hunden verglichen wurden. Die Kyniker waren Wanderphilosophen, die zumeist in Gruppen auftraten. Sie verkündeten ihre Lehren auf öffentlichen Plätzen, wobei sie durch Anstoß erregende Äußerungen, Tabubrüche und humorvolle bis derbe Reden ihr Publikum gezielt provozierten. Dass dabei vor allem Werte und Anschauungen der Eliten, u. a. zu Religion und Gesellschaft, ins Visier genommen wurden, sicherte ihnen großen Zuspruch bei Unterschichten und Sklaven. Ihre Philosophie war vor allem gelebte Existenz. Dabei stand die Askese („Übung“) im Zentrum, mit der der Wille des Einzelnen darauf trainiert werden sollte, die Leidenschaften abzulegen. Dies wurde als „der kurze Weg zur Tugend“ bezeichnet. Die Ausrüstung der wandernden Kyniker – Sack, Mantel und Stab – sowie ihre auch durch Gesten und Körpereinsatz unterstützten Reden waren weithin bekannt. Viele ihrer Vertreter hatten keine Bildung, da sie ihnen als unnötig galt. Ihre Lebensphilosophie drängte zum Rückzug aus der Gesellschaft, ihr Ziel war die αὐταρκεία (autarkeia/Unabhängigkeit). Der Stil ihrer Reden wird als Diatribe bezeichnet, eine Form, die auch von Stoikern gepflegt wurde. Die Diatribe, die im 1.–3. Jh. n. Chr. ihre Blüte hatte, zeichnete sich u. a. dadurch aus, dass Einsprüche fiktiver Gegner eingebaut wurden, griff aber darüber hinaus auf eine Reihe weiterer rhetorischer Kniffe zurück.

Mit den Kynikern teilten christliche Wanderlehrer wie Paulus die Existenzform (vgl. auch Mk 6,8f.; Mt 10,9f.; Lk 10,4), aber auch die Art der Rede (vgl. Röm 1–4). Der Kyniker Peregrinus Proteus (ca. 100–165 n. Chr.) hatte zunächst auch Beziehungen zum frühen Christentum und wurde im gleichnamigen Porträt des Lukian karikiert.

2.3.4 Mittlerer Platonismus

(Platonische Ideenlehre)

Platons Philosophie, die ihren Anfang im Athen des 4. Jh. v. Chr. nahm, wurde durch die sog. Akademie weitergeführt und erreichte ab dem 1. Jh. v. Chr. eine neue Blüte, die als Mittlerer Platonismus bezeichnet wird und bis zur Mitte des 3. Jh. n. Chr. reichte. Von den zahlreichen Ansichten seien wenigstens folgende genannt: Die Wirklichkeit ist in zwei Bereiche geteilt, jenen des reinen Seins und jenen des bloßen Werdens. Im Bereich des Seins ist der Schöpfergott, seine Gedanken sind die Ideen. Diese sind die vollkommenen und ewigen Vorbilder all dessen, was mit den Sinnen wahrnehmbar ist. Sie sind nur denkerisch zugänglich. Der wahrnehmbare Kosmos hingegen ist ihr Abbild. Er wird als Weltkörper gedacht, der auch eine Weltseele hat. An dieser Weltseele hat jede Menschenseele Anteil. Sie hat, da sie präexistent ist, die Welt der Ideen gesehen und kann sich daran erinnern. Erst diese Erkenntnis ermöglicht ein tugendhaftes Leben nach der gottgewollten Ordnung. Stirbt der Mensch, wird die Seele frei, gerichtet und wieder in einem Menschen oder einem Tier verkörpert.

(Philo von Alexandrien)

Der Einfluss des Mittleren Platonismus auf die Gesellschaft war groß, da er vielfältig rezipiert wurde. So nahm etwa der jüdische Philosoph Philo von Alexandrien starke Anleihen bei dieser Lehrtradition. Sie hatte auch deutlichen Einfluss auf die Theologie des Hebräerbriefs, auf die sich im 2. Jh. n. Chr. entwickelnde Gnosis sowie auf die alexandrinische Theologie des Clemens und Origenes.

2.3.5 Aristotelismus

(Aristoteliker)

Die Schule des Aristoteles, der Peripatos, wirkte nach dem Tod des Lehrers im Jahr 322 v. Chr. in mehreren Epochen weiter. Um 60 v. Chr. setzte die Phase einer erneuten Rezeption seiner Werke ein, die ediert und vor allem kommentiert wurden. Unter anderem die Ausführungen des Aristoteles zu Logik, empirischer Prüfung, Ethik und Staatstheorie wurden von Aristotelikern durch den Schulunterricht und eigene Werke sowie pseudepigraphische Schriften verbreitet. Sie gingen damit in den Bildungskanon der Kaiserzeit ein. Einiges wurde gegen Ansichten des Mittleren Platonismus in Stellung gebracht bzw. mit diesem vermittelt. Unter anderen nahmen Philo von Alexandrien, Sextus Empiricus, Diogenes Laertios oder Clemens von Alexandrien zahlreiche Gedanken des Aristoteles auf. Anfang des 3. Jh. n. Chr. wurde der Aristotelismus in den entstehenden Neuplatonismus integriert und verlor seine Eigenständigkeit.

2.3.6 Neopythagoreismus

(Pythagoreer)

Die Gemeinschaften von Pythagoreern bildeten exklusive Zirkel, in denen der Naturphilosoph Pythagoras (Ende 6./Anf. 5. Jh. v. Chr.) als göttliche Gestalt verehrt wurde. Im eigentlichen Pythagoreismus waren Zahlenspekulationen, bestimmte Nahrungs- und Verhaltenstabus sowie ein hohes Gemeinschaftsideal, das auch Frauen Zugang gewährte, von großer Bedeutung. In der frühen Kaiserzeit nahmen einige andere philosophische Schulen wie der Stoizismus oder der Mittlere Platonismus Elemente der Pythagoreer auf, sodass deren Gedanken, u. a. die Reinkarnationsvorstellung, weiterwirkten. Populär waren die um 200 n. Chr. entstandenen Sentenzen des Sextos, die auch von Christusgläubigen gerne gelesen wurden (vgl. Origenes, c. Celsum 8,30).

2.3.7 Skeptizismus

(Akademiker und Pyrrhoniker)

Wie die modernen Skeptiker, so betonten auch jene der Antike, deren Philosophie auf das 4. Jh. v. Chr. zurückgeht, dass man nichts wissen könne. Jede Ansicht, nicht zuletzt die jedes anderen Philosophen, sei zu „prüfen“ (σκέπτεσθαι/skeptesthai), vorgefertigte Dogmen dürften nicht anerkannt werden. Es gab zwei skeptische Schulen, die Akademiker und die Pyrrhoniker. Während Letztere besonders streng jede gefestigte Meinung ablehnte, versuchten Erstere, in engem Anschluss an die Stoa, durchaus Philosophie im herkömmlichen Sinn zu betreiben (Philon von Larisa; 2./1. Jh. v. Chr.). Sie erhob nicht den Anspruch, Wissen zu beschreiben, war aber aufgrund ihres alles hinterfragenden Charakters populär, vor allem im Westen des Reiches, u. a. bei Cicero.

2.4 Griechische und römische Religion

(Öffentlich und nicht-öffentlich)

Im Folgenden wird eine Differenzierung von zwei Bereichen vorgenommen, die allerdings nicht streng geschieden betrachtet werden sollten, da sie in der griechisch-römischen Antike mehr oder weniger eng miteinander verknüpft waren: 1) Öffentliche Religion als jene Form von Religion, die an Tempeln und von bestallten Funktionsträgern durchgeführt wurde. 2) Nicht-öffentliche Religion als jene Phänomene, in denen sich alltägliche religiöse Vollzüge ebenso zeigten wie außeralltägliche Formen außerhalb staatlicher Autorisierung.

(Omnipräsenz von Religion)

Grundsätzlich gilt dabei erstens, dass in der griechisch-römischen Antike eine Trennung in einen religiösen und einen säkularen Bereich, wie sie uns heute selbstverständlich ist, nicht existierte. Die Welt war durchdrungen von religiösen Symbolen. Große und kleine Tempel, Schreine an Kreuzungen, Nischen und Bilder an Hauswänden und in Wohnräumen sowie Amulette, Accessoires und Münzen waren Träger religiöser Zeichen und Abbildungen, die allgegenwärtig waren. Bei politischen Anlässen ebenso wie bei Banketten im kleinen Kreis waren religiöse Handlungen konstitutiv. Religion war ein omnipräsentes Phänomen, das in einer großen Vielfalt religiöser und kultischer Vollzüge erlebt wurde.

(Regionale Ausprägungen)

Zweitens ist zu beachten, dass Religion im Mittelmeerraum ein lokales bzw. regionales Phänomen war. So lassen sich zwar bestimmte gemeinsame Überzeugungen und kultische Vollzüge herausarbeiten, in ihren jeweiligen regionalen Ausprägungen unterschieden sich diese aber deutlich. Das zeigt sich u. a. in den verschiedenen Beinamen (Epitheta), die den Gottheiten gegeben wurden, in der unterschiedlichen Ikonographie sowie in Einzelkulten, die durch die Geschichte eines Ortes bedingt waren. Die Ausbildung eines einheitlichen Kultes mit zentraler Steuerung – wie etwa des Kaiserkults – war demgegenüber eine Neuerung (s. u. S. 47).

(Tradition und Transformation)

Und drittens zeigt sich, dass trotz aller Traditionsgebundenheit, die für die antike Wahrnehmung von Religion ein wichtiges Element war, religiöse Vollzüge an neue Bedürfnisse und Moden adaptiert und weiterentwickelt wurden.

2.4.1 Öffentliche Religion

Der öffentliche Vollzug von Religion war in der griechisch-römischen Antike eine Angelegenheit der Stadt und ihrer Funktionsträger, die an den lokalen Tempeln auch als Priester fungierten. Dies gilt sowohl für den östlichen als auch für den westlichen Raum des Imperium Romanum, wobei in der frühen Kaiserzeit sich diese beiden Bereiche mit ihren je unterschiedlichen religiösen Traditionen zu einem gewissen Teil ähnlicher wurden.

(Tempel)

Tempel waren sowohl in baulicher als auch in kultischer Hinsicht die Zentren der öffentlichen Religion. Auf den vorgelagerten Altären wurden Opferrituale vollzogen, in Prozessionen die Statuen der Götter und Göttinnen durch die Stadt getragen. Die Gottheiten des griechischen wie des römischen Pantheons wurden dabei – in ihren jeweiligen lokalen Ausprägungen – in ähnlicher Weise verehrt. Dazu kam noch eine große Zahl weiterer Gottheiten, Halbgötter und Heroen, die für einzelne Gruppen oder Städte von hoher Bedeutung waren. Zudem trugen die Migrationsbewegungen innerhalb des Imperium Romanum zu Ritual- und Kulttransfers bei.

Der griechische (römische) Pantheon

Zeus (Jupiter) Herrscher über das All, Göttervater und oberste Schutzgottheit
Hera (Juno) mütterliche Gottheit
Poseidon (Neptun) Beherrscher des Meeres
Athena (Minerva) kriegerische Beschützerin Athens und junger Frauen
Apollon (Apollo) jugendlicher Gott, u. a. für Unterhaltung und Orakelkunst
Artemis (Diana) Jagdgöttin und Göttin der Übergänge im Leben
Aphrodite (Venus) Göttin der Liebe
Hermes (Merkur) Götterbote und Kulturbringer
Hephaistos (Vulcan) Gott des Feuers, der Schmiede und der Handwerker
Ares (Mars) Gott des Krieges
Demeter (Ceres) Bringerin von Fruchtbarkeit und Beschützerin der Frauen
Dionysos (Bacchus) Gott des Weines und des Spiels

(Priestertum)

Für den korrekten Vollzug der Rituale, mit denen traditionelle kultische Elemente abgewickelt wurden, die aber durchaus entwicklungsfähig waren, waren die dafür eingesetzten Priester und Priesterinnen verantwortlich. Sie rekrutierten sich vor allem aus den lokalen Eliten, die die politische Macht innehatten sowie ausreichende ökonomische Möglichkeiten besaßen. Diese finanzierten zusätzlich zu den öffentlichen Kassen nicht nur die eigentlichen religiösen Akte, sondern ebenso den Bau der Heiligtümer und die Spiele, die zu religiösen Festtagen abgehalten wurden. Die Priester waren aber keine religiösen oder gar theologischen Experten, die dafür spezifisch ausgebildet wurden, sondern eingebettet in Kollegien oder Familien, in denen das religiöse Wissen tradiert und praktiziert wurde. Theologie war weithin Sache der Philosophen.

(Öffentliches Interesse)

Öffentliche Religion war vor allem darauf ausgerichtet, die Gottheiten dazu zu bewegen, die Geschicke der Polis, des Imperium Romanum bzw. des Kaisers und seiner Familie positiv zu gestalten. Bewirken sollten dies Opfer, die teilweise sehr aufwendig waren, Weihungen, Eide und Gebete an die Gottheiten. Dahinter stand die Überzeugung, dass die Götter erstens existierten, zweitens den Menschen Gehör schenkten, drittens die Macht hatten, die Geschicke zu lenken, und viertens auch gerecht handelten.

(Orakel)

Zu den Bereichen öffentlicher Religion gehörten auch Wege, die Zukunft zu erkennen: Im griechischen Raum geschah dies vor allem durch Orakel wie jene in Delphi oder Didyma. Die römische Tradition vertraute auf Auguren, die aus den Zeichen des Himmels, der Vögel oder anderer Tiere die Zukunft lasen, sowie auf Haruspices, die aus den Eingeweiden der Opfertiere auf das bevorstehende Schicksal schlossen. Auch die Interpretation heiliger Schriften wie der Sibyllinischen Bücher gehörte dazu. Ihr Bestand und ihre Auslegung wurden allerdings staatlich kontrolliert.

(Kult und Identität)

Die Bedeutung öffentlicher Religion für die Identität einer Stadt bzw. auch des Imperium Romanum war sehr hoch. Einzelne Gottheiten waren in besonderer Weise an Städte gebunden, sodass ihre Verehrung auch eine politische Dimension hatte. Die Teilnahme an Prozessionen und anderen Kultfeiern wurde zwar nicht erzwungen, sie gehörte aber zum mehr oder weniger selbstverständlichen Verhalten eines Bürgers einer Stadt. Aufgrund des polytheistischen Weltbilds bestand in der Regel auch kein Anlass, die Verehrung bestimmter Götter zu verweigern.

(Kaiserkult / Vergöttlichung)

Auch das römische Imperium wurde zu einem wichtigen Faktor für das religiöse Leben. Der Kaiserkult wurde zu einer zentral organisierten Form von Religion. Die Verehrung der nach ihrem Tod vergöttlichten Kaiser und ihrer Angehörigen sowie auch des jeweils lebenden Kaisers bzw. seines Genius war aufgrund des Geflechts von Propaganda, politischer Abhängigkeit und Gewährung von Privilegien ein wesentlicher Faktor im gesellschaftlichen Leben. Mit der Vergöttlichung (Divinisierung) von Julius Caesar nach seiner Ermordung 44 v. Chr. wurde dieser als divus Iulius unter die Staatsgötter aufgenommen. Sein Nachfolger und Adoptivsohn Augustus konnte sich daher zu Recht als „Sohn des Göttlichen“ (divi filius) bezeichnen, im Griechischen Raum als „Gottes Sohn“ (θεοῦ υἱός/theou huios). Diesem Schema von postmortaler Apotheose (lat. consecratio), also der Aufnahme unter die Götter, folgten die anschließenden Kaiser in der Regel, manchen, wie Nero oder Domitian, wurde sie aber von den Nachfolgern verweigert. Einige, wie Gaius Caligula, ließen sich schon zeitlebens als Gott verehren (Sueton, Cal. 22,2f.), andere, wie Tiberius, waren deutlich zurückhaltender (Sueton, Tib. 26).

(Kaiserkult in Kleinasien)

Im Osten des Imperium Romanum wurde die Kaiserverehrung problemlos aufgenommen, da dort schon seit Ende des 5. Jh. v. Chr. einzelne Personen, die sich durch militärische oder politische Erfolge hervorgetan hatten, noch zu Lebzeiten als göttlich verehrt wurden. Als die Römer den östlichen Mittelmeerraum nach und nach unterwarfen, rückten zunächst einzelne Vertreter Roms und schließlich die Kaiser in diese Rolle. Vor allem die Städte Kleinasiens bemühten sich verstärkt darum, zu provinzialen Zentren des Kaiserkults zu werden. Dazu war allerdings die Erlaubnis durch den Kaiser selbst notwendig, und so kam es zu einem Konkurrenzkampf zwischen den Städten bzw. deren führenden Eliten um dieses Privileg. Die Errichtung eines Kaiserheiligtums gehörte zu den wichtigsten städtebaulichen Maßnahmen, in Ephesus etwa entstand eines für Domitian bzw. die Flavischen Kaiser (82 n. Chr.) und in Pergamon eines für Trajan (nach 106 n. Chr.). Die öffentlichen Feiern zu Ehren des Kaisers in Prozessionen und Spielen waren Demonstrationen politischer Loyalität durch die lokalen Eliten, die für die aufstrebenden Städte Kleinasiens und in anderen Gegenden ungemein wichtig waren. Das Amt des Priesters bzw. der Priesterin für den Kaiserkult war eine besonders prestigeträchtige Funktion.

Trotz der eminent politischen Bedeutung war die religiöse Orientierung des Kaiserkults nicht nebensächlich: Die öffentlichen Opfer und Gebete richteten sich an den Kaiser, wenngleich auch die Anrufung anderer Götter für den Kaiser möglich war. Darüber hinaus war die Verehrung des verstorbenen oder später auch des lebenden Kaisers als Göttlichem auch auf lokaler und individueller Ebene bis in die Wohnhäuser hinein verbreitet.

(Judentum und Kaiserkult)

Judäa nahm hier insofern eine Sonderstellung ein, als die römischen Autoritäten dort auf lokale Gebräuche grundsätzlich Rücksicht nahmen. Da die Verehrung des Kaisers bzw. seiner Vorfahren und Familie gegen die Alleinverehrung von JHWH verstoßen hätte, trat an die Stelle des Kaiserkults das tägliche Opfer für das Wohl des Kaisers im Jerusalemer Tempel. Es wurde u. a. durch die Tempelsteuer finanziert, zu der alle Judäer – auch jene aus der Diaspora – nach Vorgaben der Tempelaristokratie verpflichtet waren (s. u. S. 76). Als 39/40 n. Chr. Caligula die Kaiserverehrung durch Errichtung einer Statue von sich selbst auch im Jerusalemer Tempel etablieren wollte (Philo, leg. ad Gaium 200–207; Josephus, bell. 2,184–203; ant. 18,261–288), führte dies zu heftigen Protesten. Sowohl Agrippa I. als auch der syrische Statthalter Publius Petronius verzögerten aber die Einführung des Kaiserkults in Jerusalem, da sie um die politische Sprengkraft einer solchen Aktion wussten. Nach Caligulas Tod, durch den die Aufstellung der Statue schließlich verhindert wurde, unternahmen seine Nachfolger bis 70 n. Chr. keine entsprechenden Versuche mehr.

2.4.2 Nicht-öffentliche Religion

(Ein Gott)

Als nicht-öffentliche Religion gelten im Folgenden alle Formen von Religiosität, die nicht durch öffentliche Funktionsträger als Beauftragte der Gesellschaft durchgeführt werden, sondern durch Menschen unabhängig von ihrem Status. An ihr wird auch deutlich, dass in der frühen Kaiserzeit trotz der vielfältigen Kulte eine Tendenz hin zu einer Singularisierung von Gottesvorstellung und Gottesverehrung bestand. Kulte und Akklamationen, in denen der „eine Gott“ (εἷς θεός/heis theos) bzw. der „höchste Gott“ (θεòς ὑψιστός/theos hypsistos) angerufen wurde, lassen diesen Zug zur Monolatrie (Alleinverehrung) erkennen.

2.4.2.1 Religion im Haus

(Hauskulte)

In der griechisch-römischen Antike war der alltägliche Ort für Religion das Haus, die religiöse Gruppe die Hausgemeinschaft (s. o. 2.2.3.1). Die im Westen durch die Ausgrabungen in Pompeji und Herculaneum hervorragend dokumentierten Formen häuslicher Religiosität fanden sich im hellenistisch geprägten Raum in ähnlicher, wenn auch charakteristisch veränderter Weise. Beiden gemeinsam war die Zentralität des Herdfeuers, an dem Hestia bzw. Vesta, die Hüterin von Heim und Herd, verehrt wurden. Einzelne Gottheiten wie Zeus oder Herakles waren im griechischen Raum dem Schutz des Hauses zugeordnet. Auch der Agathos Daimon („der gute Geist“) gehörte dazu, der in Form von Schlangen verehrt wurde. In römischen Hauskulten spielte die Verehrung der Laren, der Familiengötter, des Genius des Paterfamilias bzw. der Juno der Materfamilias und der Ahnen eine wichtige Rolle.

(Die Hausgemeinschaft als Kultgemeinschaft)

Dazu traten zahlreiche Gottheiten aus dem griechischen oder römischen Pantheon und weit darüber hinaus, die je nach den individuellen Bedürfnissen und Traditionen der Familie bzw. Einzelner in Schreinen, als Statuetten oder Bilder verehrt wurden. Kleine, zumeist unblutige Opferhandlungen und andere Rituale wurden täglich oder zu bestimmten Gelegenheiten durchgeführt. Auch Sklaven und Sklavinnen konnten hier eigenen religiösen Interessen, die oft ihrer lokalen Herkunft entsprachen, nachkommen, waren aber zugleich an den gemeinsamen Kulten des Hauses beteiligt. Neben den religiösen Ritualen im häuslichen Bereich gehörten auch jene an Hausecken oder in kleinen Nachbarschaftsheiligtümern zu den Möglichkeiten, alltägliche Religiosität zu pflegen. Diese Handlungen gelebter Religiosität standen nicht im Gegensatz zu den im Vergleich seltenen und von den Eliten vollzogenen öffentlichen religiösen Kultfeiern, sondern nahmen diese teilweise auf, ergänzten sie aber noch um individuell ausgewählte Gottheiten.

2.4.2.2 Religion als Mysterium

(Mysterienkulte)

Individuelle Auswahl religiöser Bezüge lag auch dort vor, wo sich Einzelne an Gemeinschaften anschlossen, die sich kultischer Praxis widmeten. Dies geschah in religiös orientierten Vereinigungen (s. o. 2.2.3.3), vor allem in Mysterienvereinen. Deren Kulte spielten eine wichtige Rolle für das religiöse Erleben in der griechisch-römischen Antike. Sie waren allerdings nicht offen für jedermann, sondern regulierten die Mitgliedschaft anhand von Statusgrenzen.

Ihrem Charakter als „geheim“ entsprechend sind unsere Informationen zu Praktiken und religiösen Vorstellungen von Mysterienkulten eingeschränkt. Manches lässt sich aber u. a. aus dem Roman „Metamorphosen“ des Apuleius aus der Mitte des 2. Jh. n. Chr. entnehmen, anderes aus polemisch gefärbten Nachrichten der Kirchenväter.

(Mysterienrituale)

Wesentliche Elemente antiker Mysterien waren folgende:

– die Initiation als Einführungsritual, bei dem Riten, bauliche Arrangements und Artefakte zusammenspielten, um das mystische Erlebnis zu erzeugen;

– die Vorbereitung auf dieses Erlebnis durch Askese und Unterweisung, in der man sich den Mythos derjenigen Gottheit aneignen konnte, mit der man nun besonders eng verbunden wurde;

– Feste und tägliche Rituale, die gemeinsam oder individuell begangen wurden.

Die Mysterienkulte waren aufgrund der in ihnen verehrten Gottheiten durchaus unterschiedlich orientiert. Sie teilten inhaltlich aber die Suche nach einer Überwindung des Todes, der in den Mythen jeweils in verschiedener Weise verarbeitet wurde.

Die klassischen Mysterien im griechischen Eleusis bei Athen, die mit dem Demeterkult verbunden waren, waren formbestimmend. Besonders verbreitet waren die Mysterien des Dionysos, oft auch in Verbindung mit dem Orpheuskult. Sehr beliebt war der Mysterienkult der ägyptischen Gottheiten Isis, Serapis und Osiris, den Apuleius beschreibt. Die phrygischen Kulte für Attis und Kybele zeichneten sich durch besonders ekstatische Rituale bis zur Selbstkastration aus. Der Mithraskult war bei Soldaten und Händlern im Westen besonders beliebt.

2.4.2.3 Magie

(Flüche / Magische Praktiken)

Mit dem Phänomen der Magie zeigt sich ein bereits in der Antike höchst ambivalent beurteilter Bereich nicht-öffentlicher Religiosität, dessen Bezug zu Religion allerdings nicht immer klar ist. Zahlreiche Zeugnisse legen offen, wie verbreitet dieses Phänomen auch in der frühen Kaiserzeit war. Dazu gehörten u. a. sogenannte defixiones („Bindungen“): Mithilfe von auf dünne Bleitäfelchen geschriebenen Fluchtexten sollten zukünftige Handlungen oder das Wohlergehen bestimmter Menschen negativ beeinflusst werden. Zu den Anwendungsgebieten zählten Liebesangelegenheiten, der Sport, das Geschäftsleben und Prozesse, Anlässe waren etwa Diebstähle oder Verleumdungen. Ähnliches sollte mit Zaubersprüchen und -ritualen erreicht werden, die in den sogenannten Zauberpapyri festgehalten sind (2.–6. Jh. n. Chr.). Sie boten Anleitungen für magische Praktiken (vgl. Apg 19,17–20). Sowohl professionelle Magier (vgl. Apg 13,8; 19,13–16) als auch Laien vollführten diese Rituale für Menschen aller Gesellschaftsschichten. Auch im Judentum war Magie trotz alttestamentlicher Verurteilung verbreitet (vgl. Ex 22,17 mit Josephus, ant. 8,45).

(Mythologie der Magie)

Die Beeinflussung des Verhaltens anderer sollte auf zwei verschiedene Weisen erreicht werden: Der häufigere Weg war, Gottheiten oder Dämonen durch Rituale und Zaubersprüche dazu zu bringen, ihre Macht den Wünschen des Magiers entsprechend einzusetzen. Unter der Voraussetzung, dass der Kosmos selbst durch Magie beeinflusst werden konnte, wurde dasselbe aber auch ohne Einbindung göttlicher Mächte versucht. Gemeinsam hatten alle magischen Praktiken, dass sie geheim geschehen mussten.

(Kritik an Magie)

Die Kritik an der Magie war vielfältig: Zum einen wurde sie gefürchtet, was zu gesetzlichen Verboten führte (vgl. das Zwölftafelgesetz Roms VIII). Bereits Platon polemisierte gegen die Geldgier dieser „Betrüger“ (Leges 10,909a.b). Auch die Anklage, ein Magier zu sein, ist mehrfach belegt (vgl. Apuleius, Apol. 25). Im frühen Christentum wurde Magie ebenfalls in der Regel verurteilt (Gal 5,20; Apk 9,21; 21,8; Did 2,2; Barn 20,1) und von der Wundertätigkeit Jesu und der Apostel abgegrenzt. Dennoch spielte Magie selbstverständlich auch innerhalb der christlichen Alltagsreligiosität eine wichtige Rolle, wie zahlreiche Zeugnisse aus der Zeit der Alten Kirche zeigen.

2.4.2.4 Eingriffe durch staatliche Macht

(Reglementierungen)

Von Zeit zu Zeit kam es zu staatlichen Eingriffen in den Bereich nicht-öffentlicher Religion. Diese waren motiviert durch Praktiken, die den Argwohn oder den Abscheu der Eliten hervorriefen. So warnte bereits Platon vor der Entwicklung von Kulten, die sich abseits von Tempeln etablierten (Leges 10,909d–910e). Aus römischer Perspektive wurde dies erstmals beim sogenannten Bacchanalienskandal relevant, der 186 v. Chr. zu einer staatlichen Reglementierung des Dionysoskults führte (s. o. S. 36). Auch Vertreibungen von Chaldäern (139 v. Chr.; Livius, epit. 54 in P.Oxy. 668) oder die Zerstörung von Isisheiligtümern und Ausweisung ihrer Anhänger aus Rom (28 v. Chr. laut Cassius Dio, hist. 53,2,4; 19 n. Chr. laut Sueton, Tib. 36) gehörten dazu. Aber diese Reaktionen der Elite auf durch Migration eingedrungene Kulte, die als „Aberglaube“ (superstitio) eingeschätzt wurden, waren nur punktuell. Im Gegenteil: In Rom wie in den anderen großen Städten des Imperium Romanum bestand in der Kaiserzeit eine breite Vielfalt von Kulten, die nebeneinander existieren konnten, solange sie nicht durch politische Aktivität oder ungesetzliche Praktiken negativ auffielen.

Literatur

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Geschichte des frühen Christentums

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