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1 Grundfragen einer Geschichte des frühen Christentums

1.1 Worum es geht …

1.1.1 Der Gegenstand „Christentum“

(Begriffsklärung)

Eine Geschichte des „Christentums“ setzt einen Begriff voraus, der im Neuen Testament nicht vorkommt. Xριστιανισμός/Christianismos begegnet erstmals im 2. Jh. n. Chr. bei Ignatius von Antiochien in seinen Briefen an die Gemeinden von Magnesia, Philadelphia und Rom (IMagn 10,1.3; IPhilad 6,1; IRöm 3,3), wobei dies dort u. a. als Gegensatz zum Judentum (griech. Ίουδαϊσμός/Judaismos) erscheint. Mit der heutigen Verwendung des Begriffs „Christentum“ wird allerdings eine soziologische und theologische Einheit als Religion postuliert, die, so wird im Folgenden immer wieder deutlich werden, in der Frühzeit nicht bestand. Zudem wird damit häufig die Vorstellung von der Trennung von einem als Einheit verstandenen „Judentum“ verbunden. Auch diese geschah erst in einem lange dauernden und unterschiedlich ablaufenden Prozess. Und schließlich dient der Begriff „Christentum“ bis heute als Abgrenzung zu einem antiken „Heidentum“, das aus zahlreichen Kulten unterschiedlicher Form und Geschichte bestand und keine Ganzheit darstellte.

(Christianoi)

Die Bezeichnung Christianismos selbst geht auf die Benennung von Christusgläubigen als Christianoi (griech. Χριστιανοί) durch Außenstehende zurück (Apg 11,26; 26,28). Sie wurde erst gegen Ende des 1. Jh. n. Chr. auch als Wort für die eigene religiöse Identität übernommen (1Petr 4,16). Im Neuen Testament begegnen viele andere Bezeichnungen (s. u. S. 175, 251), sie lassen sich allerdings nicht auf einen Nenner bringen.

(Alternative Begriffe)

In jüngerer Zeit haben Autorinnen und Autoren daher auf soziologische Begriffe zurückgegriffen: So wurden „Bewegung der Gottesherrschaft“, „Jesusbewegung“, „Jesusnachfolger“ oder „Anhänger und Anhängerinnen Jesu“ mit guten Gründen als Bezeichnungen verwendet, weil sie auf die Zeit vor Ostern verweisen. Sie sind allerdings darin defizitär, dass sie die besondere Bedeutung des Glaubens an Christus nicht abbilden können. Andere versuchen es mit „Glaubende an Christus“, „Jesus- bzw. Christusverehrer“ oder „Christusgemein-schaft“ und ähnlichen Konstruktionen. Insbesondere „Glaubende“ bzw. „Gläubige“ hat den Vorteil, dass damit eine Selbstbezeichnung aufgenommen wird, die in den Paulusbriefen begegnet (u. a. 1Thess 1,7; 1Kor 1,21; 14,22; Gal 3,22), aber auch darüber hinaus (1Petr 2,7; 1Joh 5,1.5.10). Allerdings ist auch dies nur ein Begriff aus der Vielzahl übergreifender Ausdrücke, die zeitlich und lokal offenbar ganz unterschiedlich ausgebildet wurden. Es bleibt so kaum eine andere Wahl, als einen Begriff zu verwenden, allerdings stets im Bewusstsein, dass er den bezeichneten Sachverhalt nur ungenau abbildet. Im Folgenden sprechen wir daher einerseits von „Christusgläubigen“, greifen aber andererseits für das zu besprechende Phänomen auf den klassischen Begriff „Christentum“ zurück, für den sich keine sprachlich sinnvolle Alternative ergibt. Es wird aber stets zu beachten sein, dass damit

Juden oder Judäer?

(Judaioi)

Anfang des 21. Jh. setzte in der Judaistik wie in der Erforschung des frühen Christentums eine Debatte ein, die gegenwärtig noch anhält und deren Ausgang noch nicht entschieden scheint. Dabei geht es um die Frage, ob die griechische Bezeichnung Ίουδαίοι/Judaioi mit „Juden“ oder mit „Judäer“ zu übersetzen ist.

Für die Wiedergabe mit „Judäer“ ist Folgendes vorgebracht worden: Es handelt sich aus antiker Perspektive eindeutig um ein Volk, nicht um eine Religion. Auch alle anderen griech. Volksbezeichnungen verweisen auf den Herkunftsort des entsprechenden Volkes. Ob Judaioi tatsächlich in Judäa selbst wohnen oder in der Diaspora, ist dabei irrelevant. Auch der griechische Begriff Ίουδαϊσμός/Judaismos ist dementsprechend nicht mit „Judentum“ wiederzugeben, also im Sinne einer Religion, sondern meint die Orientierung an der Lebenskultur des Volkes der Judäer. Die klassische Wiedergabe von Judaioi mit „Juden“ wird allerdings vehement verteidigt. Zum einen verstünden sich bereits seit der Makkabäerzeit die Judaioi selbst als Volk und Religion zugleich. Das zeige sich daran, dass man zum Judaismos übertreten kann (vgl. 2Makk 6,1–11 und 9,13–17). Zum anderen werde mit der Bezeichnung „Judäer“ die antike Geschichte des Judentums vom gegenwärtigen Judentum getrennt. „Judäer“ sollte daher ausschließlich für Bewohner des Gebietes Judäa in Palästina verwendet werden.

Im vorliegenden Buch werden beide Begriffe verwendet, wobei durch den Gebrauch jeweils angezeigt werden soll, ob eine vor allem ethnische oder eine kulturell-religiöse Perspektive vorliegt, auch wenn beides miteinander eng verbunden bleibt.

1. keine schon abgeschlossene Trennung vom Judentum impliziert ist;

2. keine soziologische oder theologische Einheit vorausgesetzt wird;

3. der Zusammenhang zwischen der Zeit des historischen Jesus und der Zeit der Gemeinschaften von Christusgläubigen nicht übergangen wird.

1.1.2 „Urchristentum“ oder „Frühes Christentum“?

(Die Fiktion der idealen Anfänge)

Der Begriff „Urchristentum“ stammt von Johann Bernhard Basedow (1723–1790) und ist eine abgekürzte Form von „ursprüngliches Christentum“. Er bezeichnet hier noch keine Zeitepoche, sondern das nach seiner Meinung unverfälschte, reine und originale Christentum, das in Verfall geraten sei. Diese Verfallstheorie beherrschte im 19. Jh. auch in anderen Bereichen der Wissenschaft den Blick auf die Anfänge kultureller und naturwissenschaftlicher Phänomene (u. a. Sprachwissenschaft, Anthropologie, Geologie). In der modernen Forschung wird der Begriff „Urchristentum“ allerdings nicht mehr ausdrücklich wertend, sondern im Blick auf einen Zeitabschnitt oder eine Epoche verwendet, wie z. B. zuletzt in dem Werk von Dietrich-Alex Koch. Der Ausdruck hat zwei Vorteile: 1) Es handelt sich um eine eingebürgerte Begrifflichkeit. 2) Eine Verwechslung mit dem Wissenschaftsbereich der frühchristlichen Archäologie bzw. Kunstgeschichte, die die Zeitspanne bis zum 6. Jh. n. Chr. untersucht, wird damit vermieden.

(Begriffsbildung)

Gegen die Verwendung von „Urchristentum“ spricht allerdings, dass damit vielfach immer noch eine Idealisierung der fernen Vergangenheit und eine Kritik an der Gegenwart verbunden werden. Das betrifft auch Ausdrücke wie „Urperiode“, „Urgemeinde“ oder „Urkirche“. Zudem finden sich in der Erforschung der griechisch-römischen Antike keinerlei Analogiebildungen, etwa im Sinne eines „Ur-Mithraismus“ oder eines „Ur-Judentums“. Auch die angloamerikanische Forschung hat diese Terminologie nicht aufgenommen. Alternativen haben sich zu Recht nicht durchgesetzt: Die Rede vom apostolischen bzw. nachapostolischen Zeitalter hat den Nachteil, ideale Anfänge, noch dazu verknüpft mit der schon im 1. Jh. n. Chr. umstrittenen Bezeichnung „Apostel“, zu konstruieren.

Man sollte daher einen neutralen Begriff verwenden: „Frühchristentum“, „Frühes Christentum“ oder „Anfänge des Christentums“ beschreiben dementsprechend das Phänomen, um das es im Folgenden gehen wird.

1.1.3 Die zeitliche Abgrenzung

(Beginn)

Die Frage, wann das Christentum beginnt, was also zu einer Geschichte des frühen Christentums gehört, wurde und wird unterschiedlich beantwortet. Zahlreiche Rekonstruktionen beginnen mit Jesus von Nazareth. Der Grundgedanke ist dabei, dass zwischen dem Wirken Jesu und der Entwicklung des Christentums eine Kontinuität besteht, die auch konzeptionell abgebildet werden soll.

(Jesus als Teil des frühen Christentums?)

Der Gegenentwurf sieht den Beginn des Christentums beim Tod Jesu bzw. bei der Ostererfahrung. Die theologische Begründung dafür geschieht häufig im Anschluss an Rudolf Bultmann, der die Bedeutung des Osterereignisses in den Vordergrund rückte. Erst ab der Zeit, als es einen wie auch immer gearteten „Glauben an Christus“ gegeben habe, könne man von Christentum und daher auch von seiner Geschichte sprechen. Jesus habe keine Bewegung oder gar „Religion“ gründen wollen, diese sei erst nach Ostern entstanden.

Beide Optionen haben ihre Nachteile: Ein Ansatz bei Jesus oder sogar bei Johannes dem Täufer steht in der Gefahr, die durch die Ostererfahrung bewirkten Unterschiede im Verständnis der Geschichte Jesu und der Entwicklung des frühen Christentums zu verwischen. Nach Ostern, das zeigen die Darstellungen der Evangelien, war Jesus von Nazareth für die ersten Christusgläubigen der geglaubte Christus, der als gegenwärtiger Herr seine Gemeinde leitet und über die Geschichte herrscht.

Ein Ansatz einer Geschichte des frühen Christentums erst nach Ostern ist in der Gefahr, die vor- und nachösterlichen Entwicklungen auseinanderzureißen und damit ein wesentliches Moment der Geschichte des frühen Christentums, die Kontinuität, zu vernachlässigen. Die Prägung des Christentums durch das Wirken des historischen Jesus tritt dabei stark in den Hintergrund.

Das vorliegende Lehrbuch setzt bei Jesus, genauerhin bei seiner Geburt, ein, schlicht aus dem pragmatischen Grund, dass eine Geschichte des frühen Christentums auch auf die Fragen nach den „vor-christlichen“ Anfängen Antworten geben muss. Dabei wird im Folgenden darauf geachtet werden, dass jene einschneidenden Veränderungen, die die Kreuzigung Jesu und die Auferstehungserfahrungen für die Anfänge des christlichen Glaubens und daher auch für dessen historische Re-Konstruktion bedeuten, nicht zugunsten der Betonung von Kontinuität verloren gehen.

(Ende)

Wann von dem Ende des frühen Christentums gesprochen werden kann, ist ebenfalls umstritten. Wann waren die Anfänge abgeschlossen und wann begann die Zeit der Alten Kirche?

(Konsolidierung / 4 v. Chr. bis 135 n. Chr.)

Es finden sich sehr frühe Abgrenzungen: der Tod des Paulus bzw. der Apostel in den späten 60er-Jahren des 1. Jh. n. Chr. oder das etwa zeitgleiche Ende des 1. Judäischen Aufstands mit der Zerstörung Jerusalems 70 n. Chr. Allerdings stammen die meisten Texte des Neuen Testaments aus den letzten Jahrzehnten des 1. und ersten Jahrzehnten des 2. Jh. n. Chr. Hinzu kommt, dass theologische und institutionelle Ansätze aus der Frühzeit in der ersten Hälfte des 2. Jh. n. Chr. zwar nicht zu einem Abschluss kamen, aber Entwicklungen erreichten, hinter die man später nur noch selten zurückging. Das gilt etwa für die Ausformung von Gemeindestrukturen oder die Bedeutung autoritativer Schriften, die dann später Teil des neutestamentlichen Kanons wurden. Diese Konsolidierungsphase setzt mit den Schriften der sogenannten „Apostolischen Väter“ ein, u. a. der Didache, den Ignatiusbriefen und dem 1. Clemensbrief, und reicht bis zu den ersten apologetischen Texten wie dem Quadratus-Fragment, der Apologie des Aristides, dem Kerygma Petri und dem Diognetbrief. Letztere markieren durch die literarische Hinwendung an eine intellektuelle Elite eine Neuorientierung. Sie fällt zeitlich zusammen mit verschiedenen Entwicklungen, die ab etwa 140 n. Chr. erkennbar werden: dem Aufblühen der Gnosis und der Bildung autoritativer Sammlungen frühchristlicher Texte. Hinzu treten zwei historische Entwicklungen, die eine Abgrenzung um etwa 135 n. Chr. sinnvoll machen: In diesem Jahr endete der zweite Aufstand der Judäer (132–135 n. Chr.), und 138 n. Chr. starb Kaiser Hadrian. Die vorliegende Rekonstruktion einer Geschichte des frühen Christentums reicht daher von der Geburt Jesu im Jahr 4 v. Chr. bis 135 n. Chr.

1.2 Quellen

(Paulusbriefe)

Den Grundstock für die Rekonstruktion der Geschichte des frühen Christentums stellen selbstverständlich die neutestamentlichen Texte dar, wobei die echten Paulusbriefe (Röm, 1/2Kor, Gal, Phil, 1Thess, Phlm) hier besonders wichtig sind. Sie sind Zeugnisse eines Beteiligten an dieser Geschichte. Allerdings ist stets zu beachten, dass Paulus in seinen Briefen nicht daran interessiert ist, objektive Berichte zu geben. Zudem handelt es sich um Gelegenheitsschreiben, die in der Regel nur partielle Rückschlüsse zulassen.

(Apostelgeschichte)

Mit der Apostelgeschichte ist uns ein mehr oder weniger zusammenhängender Bericht über Ereignisse etwa bis zum Anfang der 60er Jahre überliefert, der aus einem historischen Abstand verfasst wurde. Obwohl der Verfasser Quellen verwendete, die sich z. T. rekonstruieren lassen, hat er doch seine eigene Sicht in die Darstellung eingetragen. Dies ist besonders dort auffällig, wo uns Zeugnisse des Paulus zum selben Ereignis vorliegen, wie das etwa beim Apostelkonvent der Fall ist. Hier ist Paulus – unter Berücksichtigung der oben genannten Einschränkungen – jeweils vorzuziehen. In weiten Bereichen sind wir freilich allein auf die Apostelgeschichte angewiesen.

(Weitere Texte des frühen Christentums)

Die anderen Schriften des Neuen Testaments, wie die deuteropaulinischen Schreiben, die Evangelien, die sogenannten katholischen Briefe und die Johannesapokalypse, bieten zumeist nur indirekte Informationen für die Geschichte des frühen Christentums. Gerade für die Zeit nach dem Tod der ersten Generation sind sie aber unverzichtbar und über weite Strecken die einzigen Quellen, die wir haben. Dies gilt auch für die sogenannten „Apostolischen Väter“, von denen einzelne Texte zeitlich in die Spätphase des Neuen Testaments gehören.

Für andere außerkanonische bzw. apokryphe Schriften gilt zumeist, dass ihre Entstehungszeit jenseits unseres Zeitrahmens liegt. Ihre Berichte sind gegenüber älteren Quellen in der Regel sekundär, können im Einzelfall aber auch aufschlussreich sein. Die Nachrichten der Kirchenväter, wie z. B. von Irenäus oder Euseb, sind ähnlich zu beurteilen: Sie bieten direkte Nachrichten über bestimmte Ereignisse, freilich oft in Abhängigkeit von der Apostelgeschichte. Häufig sind sie legendarisch überformt, manchmal sogar frei erfunden, im Einzelfall aber u. U. glaubwürdig.

(Antike Historiker)

Abgesehen von christlichen Quellen sind Zeugnisse antiker Historiker heranzuziehen, wobei auch hier deren jeweiliges Darstellungsinteresse zu beachten ist. Diese bieten zwar so gut wie keine Informationen über das Christentum, helfen uns aber, die Ereignisse in einen größeren historischen Rahmen zu stellen. Zur Geschichte des frühen Judentums ist der jüdische Historiker Flavius Josephus (gest. um 100 n. Chr.) von größter Bedeutung, vor allem seine Bücher über den 1. Judäischen Aufstand Bellum Iudaicum (bell.) und die Geschichte des judäischen Volkes Antiquitates Iudaicae (ant.). Auch der hellenistisch-jüdische Philosoph Philo von Alexandrien (gest. nach 40 n. Chr.) ist eine Informationsquelle ersten Ranges. Fallweise sind auch rabbinische Quellen durchaus weiterführend. Aus der griechisch-römischen Literatur sind Plinius der Jüngere, Tacitus, Sueton, Cassius Dio u.v.m. unentbehrlich, vor allem um die Welt der frühen Christusgläubigen besser zu verstehen.

(Inschriften und Papyri)

Die Rekonstruktion historischer Ereignisse der Antike kann allerdings nicht allein auf Grundlage literarischer Quellen erfolgen, sondern muss auch andere Zeugnisse zu integrieren versuchen. Hier sind zunächst Inschriften zu nennen, die uns über historische Umstände und soziale Verhältnisse informieren und manchmal für Datierungen von besonderer Bedeutung sind. Ähnlich ist dies bei papyrologischen Zeugnissen, wobei vor allem bei den zahlreichen nicht-literarischen Papyri der oftmals lokale und private Charakter mit zu bedenken ist. Hinzu treten archäologische Überreste der Antike, die nicht nur die Lebenswelt der ersten Christusgläubigen illustrieren, sondern u. U. Rekonstruktionen historischer Umstände bzw. Abläufe ermöglichen. Auch Münzen spielen schließlich eine wichtige Rolle.

1.3 Historische Re-Konstruktion

(Methodik)

Zunächst und vor allem wird Geschichte historisch-kritisch erarbeitet, genauerhin durch die Sichtung der Quellen, die Qualifizierung ihrer historischen Zuverlässigkeit und die Einordnung der einzelnen Ereignisse in einen chronologischen Rahmen. Dabei wird jeweils das Interesse der antiken Autoren zu berücksichtigen sein, deren narrative Strategie und soziale wie religiöse Verankerung.

(Re-Konstruktion)

Wie jede Geschichtsforschung basiert auch die Rekonstruktion der Geschichte des frühen Christentums also auf der Interpretation von Quellen. Sie re-konstruiert eine Ereignisfolge, die sich nicht von selbst aus den Quellen erschließt, sondern erschlossen werden muss. Geschichtsschreibung erzählt so aus einer bestimmten Perspektive, die sich aus den Fragestellungen ergibt, aus der Position des Beobachters/der Beobachterin und dem Ziel seiner oder ihrer Erzählung. Wir interpretieren also die oben genannten Quellen und ordnen die Ergebnisse in einen Zusammenhang ein, den wir dann „Geschichte“ nennen. Diese Interpretationen und Zusammenhänge sollen nicht nur plausibel, also möglich sein, sondern im Rahmen der Methoden der Geschichtsforschung auch wahrscheinlich. Es muss nur stets bewusst bleiben, dass es sich um Konstruktionen handelt, nicht um Abbildung historischer Wirklichkeit oder die Wiedergabe von Fakten. Im Diskurs jener, die sich mit der Geschichte befassen, muss sich eine historische Rekonstruktion dann bewähren.

(Neutralität)

Aufgabe des Historikers/der Historikerin ist in diesem Prozess u. a. auch ein möglichst wertfreier Blick auf die Quellen, die herangezogen werden. Dazu gehört für unsere Fragestellung, dass nicht nur die Geschichte jener erzählt wird, die sich in der Gestaltwerdung des frühen Christentums durchsetzten, wie etwa Paulus oder Petrus. Auch die marginalisierten und in der Ausbildung der Mehrheitskirche des 2./3. Jh. n. Chr. untergegangenen Formen des Christusglaubens und deren Trägergruppen sind bedeutend. Sie sind gerade als Kontra-punkte zu den sich letztlich durchsetzenden Ansichten und deren Vertretern von großem Gewicht. Analog dazu werden auch nicht nur jene Personen in den Blick genommen, die an der Spitze einzelner Bewegungen standen, wie etwa die Apostel oder die Autoren neutestamentlicher Texte. Denn die Geschichte des frühen Christentums wurde nicht nur durch herausragende Figuren gestaltet, sondern vor allem auch durch jene, die nicht selbst zur Sprache kamen, deren Glaubensvollzug aber in sehr unterschiedlicher Weise die Ausformungen des frühen Christentums kennzeichnete.

(Theologische Bedeutung)

Ihre theologische Bedeutung hat die Teildisziplin „Geschichte des frühen Christentums“ innerhalb der neutestamentlichen Exegese vor allem darin, dass sie hilft, die Schriften des Neuen Testaments sowie weitere frühchristliche Texte im historischen Kontext zu lesen. Nur in diesem Kontext sind sie als geschichtlich gewordene Texte verstehbar und ist ihr Sinngehalt auch von der historischen Situation abstrahierbar und für die Gegenwart fruchtbar zu machen.

„Wie alle anderen historischen Texte auch, sind die Quellen des Urchristentums nicht einfach mit der Wirklichkeit, auf die sie verweisen, identisch, sondern beziehen sich auf diese in selektierender und interpretierender Weise. Sie tun dies, wie andere Texte auch, im Medium der Sprache, die den Zugang zur Wirklichkeit strukturiert und zwischen Gegenwart und Vergangenheit vermittelt. Geschichte liegt nicht einfach in den Zeugnissen der Vergangenheit verborgen, sondern muss durch einen kreativen, sinnbildenden Akt aus ihnen erhoben werden.“ (Schröter, Neutestamentliche Wissenschaft 855).

„Die Ordnung von Geschehensabläufen oder die orientierende Deutung gibt es nicht erst durch narrative Vermittlung im Text, sie existiert bereits auf der Handlungs- und Wahrnehmungsebene selbst. Ereignisse oder auch Erlebnisse und Erfahrungen haben bereits im Moment des Geschehens narrative Strukturen. Sie sind nicht unsprachlich zu haben.“ (Zimmermann, Geschichtstheorien 433).

Literatur

Stefan Alkier, Urchristentum. Zur Geschichte und Theologie einer exegetischen Disziplin, BHTh 83, Tübingen 1993.

James D. G. Dunn, Beginning from Jerusalem, Christianity in the Making 2, Grand Rapids/Cambridge 2009, 3–130.

Karen L. King, Which Early Christianity?, in: The Oxford Handbook of Early Christian Studies, edd. S. Ashbrook Harvey/D. G. Hunter, Oxford 2008, 66–84.

Dietrich-Alex Koch, Geschichte des Urchristentums. Ein Lehrbuch, Göttingen 22014, 21–39.

Markus Öhler, Ethnos und Identität. Landsmannschaftliche Vereinigungen, Synagogen und christliche Gemeinden, in: Anne Lykke/Friedrich T. Schipper (Hg.), Kult und Macht. Religion und Herrschaft im syro-palästinischen Raum – Studien zu ihrer Wechselbeziehung in hellenistisch-jüdischer Zeit (WUNT II/319), Tübingen 2011, 221–248.

Dieter Sänger, Ίουδαϊσμός – ἰουδαΐζειν – ἰουδαϊκῶς. Sprachliche und semantische Überlegungen im Blick auf Gal 1,13f. und 2,14, ZNW 108, 2017, 150–185.

Jens Schröter, Neutestamentliche Wissenschaft jenseits des Historismus, ThLZ 128, 2003, 855–866.

Ruben Zimmermann, Geschichtstheorien und Neues Testament. Gedächtnis, Diskurs, Kultur und Narration in der historiographischen Diskussion, EC 2, 2011, 417–444.

http://marginalia.lareviewofbooks.org/jew-judean-forum/ [7.2.2018]

Geschichte des frühen Christentums

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