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6. DER VERTRAG MIT RELAPSE

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ALS AMORPHIS AN den Start gingen, war Finnland gerade auf dem Weg in eine tiefe Wirtschaftskrise. Zwischen 1990 und 1993 stieg die Arbeitslosenquote von 3,5 % auf 18,9 %. Wie Dominosteine kippte ein Unternehmen nach dem anderen, mit dem Ende der Sowjetunion brach der Export ein, die Zinsen schossen in die Höhe und die Zukunft sah düster aus. Die anhaltende Depression prägte Stimmungslage, Politik und Kultur. Eine Krise durchlebte zeitgleich auch der Hardrock- und Metalmarkt. Übersättigt von dekadentem Glamrock und technischer Virtuosität, sehnte sich das zahlende Publikum nach Musik, die Gefühl bot statt Technik, Rotz statt Glamour und Alltag statt Fantasy.

Grunge kam wie gerufen. Der Stil, der von Seattle aus die Welt eroberte, verband Heavy-Gitarren mit der revolutionären Haltung des Punk. Abgerissene Klamotten waren in, Make-up und toupierte Haare out. NIRVANA, SOUNDGARDEN, ALICE IN CHAINS und STONE TEMPLE PILOTS verdrängten POISON, WARRANT, SKID ROW und MÖTLEY CRÜE. Jeans, Flanellhemden und simple Akkorde traten an die Stelle von technischer Brillanz, Pyrotechnik und Marshall-Stacks. Metal und Hardrock waren auf einmal altmodisch und weitab vom Scheinwerferlicht, und die wenigen, welche die darwinistische Selektion überlebten, änderten ihren Stil. Die „gefährlichste Rockband der Welt“ GUNS’N’ROSES polierte sich mit Backgroundsängerinnen, Orchester und überdimensionalen Bühnen- und Plattenproduktionen auf. METALLICA erging es wie den Haaren der Bandmitglieder: Image und Musik wurden auf salonfähig getrimmt. Unter Anleitung des Produzenten Bob Rock traten die verzerrten Gitarren in den Hintergrund, das Tempo wurde zurückgenommen, der Gesang wurde sauberer und mehrstimmig – und die Band zu Superstars.

Trotz der allgemeinen Talfahrt des Metal blühte die Death-Subkultur. Die Mitglieder von AMORPHIS verspürten jedoch zunehmend Frustration, weil es nicht so recht voranging. Die Volljährigkeit rückte näher und der Musikgeschmack wandelte sich. Der Sensenmann schien bereits seine Klinge zum letzten Streich zu erheben: Die Gruppe hatte seit zwei Monaten weder geprobt noch live gespielt und ihre Mitglieder sich auch in ihrer Freizeit kaum gesehen. Doch eines Tages klingelte das Telefon.

Luxi Lahtinen hatte die Angewohnheit, Bands, die er mochte, um 10-20 Demokassetten zu bitten, welche er dann auf eigene Kosten an Plattenfirmen und Radiostationen versendete. Zu seinen Kontakten zählte die kurz zuvor gegründete US-Firma Relapse, der er das ABHORRENCE-Demo Vulgar Necrolatry geschickt hatte. „Ich wohnte damals noch bei meinen Eltern“, berichtet er. „An einem Abend klingelte es ziemlich spät: Matt von Relapse war am Apparat und fragte nach Koipparis Telefonnummer. Er sagte, dass er ABHORRENCE unter Vertrag nehmen wollte. Kurz danach schellte es wieder und meine Eltern sagten, das ist schon wieder der Typ von der Plattenfirma. Er hatte versucht, bei Koippari anzurufen, aber da war niemand drangegangen. Ich sagte, der wäre wahrscheinlich mit Freunden unterwegs. Matt meinte nur, ‚okay, wir versuchen’s später nochmal.‘“

Als nächstes klingelte das Telefon bei ABHORRENCE-Sänger Jukka Kolehmainen, der gerade mit Koivusaari zusammen Geburtstag feierte. Beide wurden am 11. April geboren, und die gemeinsame Party hat mittlerweile schon mehr als zwei Jahrzehnte Tradition. Am anderen Ende der Leitung war Lahtinen und sagte, Tomi solle so schnell wie möglich Matthew Jacobson in Pennsylvania anrufen, da Relapse mit einem Plattenvertrag winkte. „Matt hatte das ABHORRENCE-Demo gehört und wollte uns unter Vertrag nehmen“, so Koivusaari. „Die EP kam damals erst raus und sie dachten, die Band gäbe es noch. Ich sagte, dass wir uns leider aufgelöst hätten, und erwähnte, dass ich eine neue Band hatte – wären sie vielleicht an einem Deal mit dieser interessiert? Ich erinnere mich gar nicht mehr, ob die das AMORPHIS-Demo überhaupt jemals erhielten. Sie waren interessiert, wollten aber, dass wir auch Vulgar Necrolatry von ABHORRENCE aufnehmen, weil das die Nummer war, die sie gut fanden. Wir hatten nichts dagegen. Damit begann der Schriftverkehr.“

AMORPHIS hatte auch von einem zweiten damals neu gegründeten und später bedeutenden Metal-Label ein Angebot erhalten, nämlich Osmose aus Frankreich. Die Mitglieder hatten die Vertragspapiere sogar bereits unterschrieben, jedoch noch nicht zur Post gebracht. Der Anruf von Relapse kam am selben Tag, an dem Osmose noch einmal bei AMORPHIS Druck gemacht hatte, sie mögen doch bitte den unterschriebenen Vertrag zurücksenden.

„Ich weiß nicht mehr, aus welchem Grund wir uns für Relapse entschieden. Vielleicht, weil’s Amerikaner waren. Wir hatten bestimmt das Logo auf irgendeiner Single gesehen. Osmose bot ein komplettes Album an und Relapse eine Split-LP mit INCANTATION, die Split-Alternative sagte uns vielleicht etwas eher zu. Ich glaub’, ohne dieses Angebot wäre die Band damals ziemlich schnell eingeschlafen“, überlegt Koivusaari.

Holopainen erinnert sich, dass bei der Entscheidung auch eine Rolle spielte, dass Osmose erst wenige Tage zuvor ihre erste Platte veröffentlicht hatten – SAMAELS Worship Him (1991) – und ansonsten noch keine Referenzen bieten konnten. Ein Vertrag mit einem amerikanischen Plattenlabel war für eine finnische Death-Metal-Band etwas Unerhörtes, wo doch noch nicht einmal die einheimischen Firmen Interesse zeigten. Auch in anderen Genres waren ausländische Verträge eine Seltenheit. Musik aus Finnland war noch weit davon entfernt, ein Exportschlager zu werden.

„Als Grunge groß rauskam, wollte vom Metal plötzlich niemand mehr was wissen“, blickt Holopainen zurück. „Finnische Plattenfirmen nahmen eh keine Heavy-Bands unter Vertrag. Riku Pääkkönen gründete dann Spinefarm und brachte FUNEBRE und SENTENCED raus, aber die übrigen Labels gingen in völlig andere Richtungen. Wir hätten uns gar nicht vorstellen können, dass eine Band wie wir zu einer großen oder gar internationalen Firma geht. Partner suchte man sich im Underground. Ich hielt’s bestenfalls für möglich, dass irgendein neues Minilabel daran interessiert sein könnte, was von uns zu veröffentlichen.“

Die Band nahm Relapses Angebot über drei Alben an, ohne lange zu überlegen oder irgendetwas zu unterschreiben. Im Mai 1991, einen Monat nach dem ersten Telefonat, waren AMORPHIS wieder in Tolkkis TTT-Studio und nahmen drei Stücke auf: zwei vom Disment Of Soul-Demo sowie eine Coverversion von Vulgar Necrolatry, bei der ABHORRENCE-Solist Jukka Kolehmainen am Mikro stand. „Ich verwendete für die Aufnahmen Drumsticks aus Kohlefaser“, berichtet Rechberger. „Irgendwie brachte ich’s fertig, mit dem Finger an der Snare hängenzubleiben. Weiß nicht wie, aber es tat sauweh. Der Finger war sofort krass geschwollen und am nächsten Tag dunkelblau. Wahrscheinlich war irgendwie Dreck unter die Haut geraten. Tolkki war die ganze Zeit dran, ‚mit dem Finger machste nix mehr, der muss amputiert werden‘. Musste er natürlich nicht, aber der Fingernagel sieht heute noch seltsam aus. Da wächst so ein komischer Fortsatz.“

Die für die Split-LP aufgenommenen Stücke klangen sowohl vom Spiel als auch von der Produktion her besser als das Demo, gemessen an heutigen Standards jedoch weiterhin ziemlich ungeschliffen. Auch im Hinblick auf Kompositionen und Arrangements war die Band besser eingespielt, auch wenn von Meisterschaft noch keine Rede sein konnte.

Der nächste Stopp nach der Studiosession war ein Bandwettbewerb im Jugendzentrum von Herttoniemi. Wie üblich, hatte die Band vor dem Betreten der Bühne kräftig vorgeglüht. Die Jury bestand aus dem Musiker Aki Sirkesalo, der 2004 bei dem verheerenden Tsunami in Thailand umkam, dem Musiker-Politiker Kimmo Helistö, der auch seinerzeit ABHORRENCE beurteilt hatte, und der Musikreporterin Virve Valli, die sich schon Anfang der Achtziger als Mitgründerin von Rumba verdient gemacht hatte. Sirkesalo bezeichnete die Songs als langweilig und „undeutliche Matsche“. Helistö vermisste am brachialen Sound des Quartetts Klangfarben und Abwechslung. Am kritischsten und direktesten war Valli, der die Musik von AMORPHIS als introspektiver Brei ohne Zweck oder Zielgruppe erschien. Sie forderte die Band dazu auf, ihre Proben mitzuschneiden und sich die eigenen Songs acht Stunden lang in einem verdunkelten Raum anzuhören. Die Gruppe nahm das Feedback mit Humor – die gegen den Mainstream gerichtete Provokation war ganz offensichtlich geglückt.


Das frisch aufgenommene Tonband wurde an Relapse geschickt, doch von dem versprochenen Split-Album war plötzlich keine Rede mehr. Erneut schlich sich Frustration ein. Den Musikern kamen Zweifel, ob die Platte jemals erscheinen würde. Das Label veröffentlichte jedoch im Juni eine schlicht Amorphis betitelte Single mit zwei von den Stücken, die bei der Session aufgenommen wurden: Vulgar Necrolatry und Misery Path. Auf dem Cover prangte eine überarbeitete Version des „Batman-Logos“ auf schwarzem Grund. Schließlich verkündete Relapse, dass aus der Split-LP nichts würde, AMORPHIS jedoch stattdessen ein komplettes Album aufnehmen dürfe. Laut Holopainen scheiterte die Split-Veröffentlichung daran, dass sich der amerikanische Vertrieb Important geweigert hatte, die Scheibe ins Programm zu nehmen. Luxi Lahtinen bekam eine andere Story zu hören. „Ich interviewte Jahre später John McEntee, den Gitarristen und Sänger von INCANTATION“, berichtet er. „Als INCANTATION ihre Hälfte eingespielt hatten, hörten sie die Aufnahme von AMORPHIS und kamen zu dem Schluss, dass diese zu gut war, um zusammen mit ihrer eigenen zu erscheinen. Die INCANTATION-Stücke wären im Vergleich völlig untergegangen: AMORPHIS hatten die fetteren Sounds, die besseren Songs und die eingängigeren Riffs. Letztendlich kam es so, dass beide komplette Alben für Relapse aufnahmen.“

Während das Material für das Debütalbum allmählich Gestalt annahm, ließen sich AMORPHIS bei diversen Veranstaltungen sehen. Die größte davon war das Indoor-Festival Day of Darkness in der Sporthalle von Oulu am 23. 08. 1991 mit IMPALED NAZARENE, BEHERIT, DEMIGOD, BELIAL, BLACK CRUCIFIXION und SENTENCED. Im Nachhinein betrachtet, war dieses Line-Up schlichtweg legendär, aber die Tickets kosteten lächerliche 20 Finnmark – knapp über drei Euro.

„Oppu hatte vor dem Gig ein Mädel aufgetrieben, das sie nicht alle beisammen hatte. Sie wollte, dass wir sie fesseln und nach ihr treten. Wir wunderten uns nur. Dann versuchte sie irgendwas und Oppu brüllte halb im Ernst los, dass er vergewaltigt würde“, erinnert sich Koippari.



In der Sporthalle Oulu vor dem Auftritt beim Day of Darkness, 23. 08. 1991.

Bereits vor dem Gig war Oppu unter einem Busch eingeschlafen. Die Kollegen zuckten mit den Schultern und becherten munter weiter. Gerade noch rechtzeitig bekamen sie mit, wie sich ein Einsatzkommando der evangelischen Jugendmission anschickte, den besinnungslosen Bassisten in einen Kleinbus zu zerren. „Nehmt den bloß nicht mit, wir haben gleich ’nen Gig!“ rief Koivusaari.

„Lasst uns den erstmal zum Ausnüchtern bringen!“ kam es zurück.

„Das ist völlig normal! Unsere Show fängt gleich an, lasst ihn da liegen, das ist unser Bassist!“ Erst nach vielen schönen Worten willigten die Jugendarbeiter ein, Oppu seinen Kumpanen zu überlassen. Die Band war noch einmal davongekommen.

AMORPHIS spielten als Vorletzte, zwischen BEHERIT und SENTENCED. Zu den Requisiten von IMPALED NAZARENE zählte neben Corpsepaint auch eimerweise Rinderblut, sodass die ganze Halle für den Rest des Abends nach Eisen stank. Als AMORPHIS zu den Klängen eines als Intro dienenden finnischen Diskoschlagers die Bühne betraten, fanden sie diese von einem Teppich aus schwarzen Müllsäcken bedeckt und voller Blutlachen. „Es war so rutschig, dass alle auf der Bühne herumwatschelten wie Ozzy heutzutage, um nur ja nicht auszurutschen“, erinnert sich ABHORRENCE-Sänger Jukka Kolehmainen, der damals im Publikum war. „Der Gig war krass. In der ersten Reihe standen ein paar kreischende Mädels. Als Oppu zwischendurch an den Bühnenrand ging, griff ihm eine von denen in den Schritt und quetschte ihm die Eier, so richtig dass es wehtat. Danach hatte er blutige Fingerabdrücke auf der Jeans. Damals gingen die Leute bei Metalgigs ganz anders ab als heute, weil es einfach viel zu wenig davon gab. AMORPHIS kamen von Anfang an gut beim Volk an.“

Die Setliste bestand aus den für die Split-LP aufgenommenen und später auf der EP Privilege Of Evil veröffentlichten Songs – in derselben Reihenfolge wie dort – sowie dem Demo-Titeltrack Disment Of Soul. Vor allem zu Beginn der Show waren die Saiteninstrumente ziemlich unterschiedlich gestimmt, was jedoch niemanden ernsthaft kümmerte. Man war in Oulu, um Spaß zu haben und dem Publikum eine geballte Ladung Death Metal zu verpassen, ohne Rücksicht auf Details. Ein Stimmgerät besaß ohnehin niemand. Nach dem zweiten Song kam das Groupie, das Oppu schon vor dem Gig bedrängt hatte, oben ohne auf die Bühne.

„Von IMPALED NAZARENE war noch ein Eimer Blut über. Oppu schüttete es über die Frau, pappte ihr Klebeband über den Mund und haute ihr ein paar runter, weil sie das unbedingt wollte. Dann drehte er sich zu uns um, ‚verdammt noch mal, macht ihr auch was!‘ Ich ging dann schüchtern hin und tat so, als würde ich nach ihr treten, aber natürlich nicht so, dass es wehgetan hätte. Ich kam mir vor, als wär ich im falschen Film. Ich wollte Musik machen, keine Frauen erniedrigen!“ klagt Koivusaari.

Trotz Spielfehlern, zwischenzeitlichem Ausfall der Gitarren sowie Koivusaaris Heiserkeit zum Ende hin zog die Band den kompletten Gig durch. Er ist heute noch auf Bootlegs zu finden. Das nordfinnische Fanzine Hellspawn schrieb hinterher, die Show wäre langweilig gewesen, aber dadurch gerettet worden, dass „eine ortsansässige Schlampe auf die Bühne kam und mit Bassist Oppu eine Orgie abzog.“ Die Bandmitglieder waren selber nicht so recht zufrieden mit ihrer Leistung. Bevor er die Bühne verließ, krächzte Koivusaari ins Mikro: „War für’n Arsch, aber wen interessiert’s?“ Der Seufzer brachte Wesen und Einstellung von AMORPHIS anno 1991 präziser auf den Punkt, als es dem Gitarristen in jenem Moment bewusst war: bei den Gigs ging es nicht um Ruhm und Ehre, sondern darum, sich mit guten Freunden ordentlich zu besaufen.


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