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Zur Biologie der Sünde

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Wenn sich ein Mediziner mit der Sünde beschäftigt, muss er sich die Frage gefallen lassen: Seit wann ist die menschliche Verfehlung ein Thema der Medizin? Und wenn schon Sünde – warum dann gerade die berühmten sieben: Hochmut (superbia), Habgier (avaritia), Wollust (luxuria), Zorn (ira), Völlerei (gula), Neid (invidia) und Trägheit (acedia)?

Den Begriff der Sünde wird man in Lehrbüchern der Medizin vergeblich suchen. Dennoch, so die These dieses Buches, erhellt die Auseinandersetzung mit traditionellen Lasterkatalogen Zusammenhänge. Auch heute noch.

Im Prinzip geht es aus der Perspektive der Vorsorgemedizin, auch in der Auseinandersetzung mit den Todsünden, um Gesundheit – sowohl um die körperliche als auch die mentale. Wie man weiß, wird Gesundheit von der World Health Organization (WHO) nicht nur mit der Abwesenheit von Krankheit definiert, sondern als ein Ideal, das biologisches, psychisches und soziales Wohlbefinden miteinschließt. Gesundheit, so könnte man sagen, ist aus dieser Perspektive ein schier unerreichbarer Zustand.

Das Konzept der sieben Todsünden werden wir daher nicht in einem theologischen Zusammenhang erörtern. Es geht nicht um Höllenstrafen im Jenseits, die die Sünder erwarten. Es geht um ein gelingendes Leben im Diesseits. In diesem Sinne stelle ich mich in eine Reihe von Autoren, die Todsünden als Verhaltensweisen wahrnehmen, als einen Katalog von Lastern und Leidenschaften betrachten, die den Aspekt der Selbstschädigung beinhalten können.

Damit könnte man als Präventionsmediziner mit dem Spezialgebiet des Anti-Agings nun auch als „Spaßbremse“ wahrgenommen werden. Der Ruf: „Kehren Sie um!“ hat aber seine Berechtigung auch als Präventionsmediziner, insofern man Patienten behandelt, deren Lebensstil nicht nur Spaß machte, sondern auch krank.

Auf der anderen Seite zeigt die Medizin natürlich auch, dass die Sünde nicht nur krank macht, sondern auch Ausdruck von Gesundheit, Glück, Lust und Lebensfreude sein kann. Ein Gelage mit Freunden, ein Liebesabenteuer, aber auch das Streben nach Macht, Reichtum und Erfolg können durchaus befriedigend sein und als Ausdruck eines gelingenden und guten Lebens angesehen werden.

Der Mensch ist nicht nur Körperlichkeit, sondern, so wie Schiller es eben sagte: „Es ist der Geist, der sich den Körper formt.“ Gedanken führen zu Handlungen – im positiven wie im negativen Sinne. Wie tugendhaft man als Mensch aber auch sein will: Das Somatische, die Körperlichkeit, letztlich die evolutionär geformte Biologie des Menschen, fordert ihren Tribut, immer wieder. Denn nicht weit entfernt vom Denken flüstern die Gene.

Als der Genetiker John Medina im Jahr 2000 ein Buch über die Biologie der Sünde vorlegte1, war der Optimismus noch groß, dass man anhand der genetischen Prädisposition bald Aussagen über Charakter und Verhalten von Menschen würde machen können. Gerade eben erst hatte Craig Venter das Genom des Menschen entschlüsselt.

Manche Visionäre glaubten schon, nur noch eine Haaresbreite davon entfernt zu sein, über die Gene auch individuelles Verhalten entschlüsseln zu können. So wollte man sowohl die Veranlagung für bestimmte Krankheiten, über Diabetes, Krebs bis hin zu seltenen Darmerkrankungen, aber auch für sexuelle Präferenzen aus den Genen vorhersagen können. Die Visionen der Forscher haben sich aber bis jetzt nicht erfüllt. Je nach Standpunkt kann man das bedauern oder auch begrüßen. Einerseits wäre eine exakte Vermessung des Menschen via Gentests extrem hilfreich. Man könnte viel exakter und zielgerichteter medizinische Hilfe entwickeln. Andererseits wäre auch ein hoher Regulierungs- und Datenschutzbedarf gegeben. Prädispositionen können ja auch Aus- und Einschließungsgründe für die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben darstellen. Stellen Sie sich nur vor, dass Sie laut Gentest als ein potenzieller Straftäter dastehen würden, für den die Wahrscheinlichkeit eines kriminellen Daseins deutlich erhöht wäre. Was, wenn Regierungen Sie dann aus lauter Prävention in Schutzhaft nähmen, beziehungsweise Ihnen die Auflage erteilen würden, sich regelmäßig bei der Polizei zu melden?

Diese dystopischen Entwicklungen sind uns zum Glück erspart geblieben und eine so verstandene Prävention aufgrund der genetischen Prädisposition wäre wohl auch meilenweit am Kern der Sache vorbei. Gezeigt hat uns das die Epigenetik. Heute weiß man, dass die individuellen Gensequenzen, also der jeweils eigene Genotypus, wenig über die Ausprägung des Phänotypus aussagen müssen. In anderen Worten ausgedrückt heißt das, dass Menschen, auch wenn sie wie eineiige Zwillinge mit identem genetischen Material ausgestattet sind, nie von vornherein dieselben Gene aktiviert oder deaktiviert haben müssen. So können von Geburt an getrennt lebende Zwillinge trotz völlig gleicher Genausstattung epigenetisch unterschiedlich sein und andere Gene ein- oder abgeschaltet haben und eben auch völlig andere Verhaltensweisen oder Krankheitsschicksale entwickeln. Der eine raucht, der andere nicht. Der eine heiratet und gründet eine Familie, der andere lebt allein. Der eine entwickelt psychische Probleme, der andere nicht. Der eine entwickelt Herz-Kreislauf-Erkrankungen, der andere nicht, auch wenn beide dieselbe Veranlagung dazu hatten. Der eine wird straffällig, der andere nicht. Gene und Umwelt stehen in einem permanenten Wechselspiel. Das heißt, ob bestimmte Veranlagungen schlagend werden, hängt stark vom persönlichen Lebensstil und der Umwelt ab, in der wir leben. Das Match „Anlage versus Umwelt“ steht daher wieder einmal unentschieden.

Wie aber steht es dann mit der Biologie der Sünde? John Medina hat dafür eine recht belastbare Interpretation vorgeschlagen. Man könne zwar im Einzelnen aus unserer genetischen Disposition nicht herauslesen, wie wir uns im Laufe des Lebens entwickeln werden. Aber andererseits ist der Mensch durch seine evolutionäre Entwicklung mit einem Set an Verhaltensweisen ausgestattet, die – sündhaft hin oder her – für das Überleben notwendig waren und in bestimmten Situationen auch immer noch sind. Hier kommt der berühmte Säbelzahntiger ins Spiel. Wer nicht wegspringt oder sich erfolgreich versteckt, ist des Todes. Man könnte es noch eindringlicher formulieren. Wir heute Lebenden sind die Nachkommen der Überlebenden – also gerade derjenigen Ahnen, deren Instinkte (und späteres Denkvermögen) besonders gut ausgeprägt waren. Die anderen wurden Teil der Nahrungskette. Was hat das nun mit der Sünde zu tun? Evolutionär betrachtet, so sagt es der Biologe Medina, sei die Sünde überlebensnotwendig. Denn im Prinzip würden in den Verhaltensweisen, die als sündhaft geächtet werden, nichts anderes als grundlegend biologische Mechanismen wirksam. Bevor wir uns den sieben Todsünden im Detail widmen, sei daher eine Erkenntnis vorausgeschickt: Die Evolutionsbiologie geht davon aus, dass die sieben Todsünden moralische Bewertungen von menschlichen Verhaltensweisen sind. Hochmut, Zorn, Neid, Wollust oder Trägheit sind unter anderem deshalb nicht ausgestorben, weil die ihnen zugrundeliegenden (Sexual-) Triebe, Angst-, Kampf-, Flucht- und Totstellreaktionen – sozusagen zum anthropologischen Inventar des Menschlichen, manchmal eben allzu Menschlichen zählen und unter gewissen Umständen auch für Überlebensvorteile in der Evolution verantwortlich waren.

Diese Interpretation ist einleuchtend, wenn man sich wieder die berühmte Situation mit dem Säbelzahntiger vorstellt: Wer sich nicht blitzschnell in Sicherheit bringen konnte, wurde selbst zur Mahlzeit und hatte keine Chance mehr auf Weitergabe seiner Gene.

Evolutionsbiologisch betrachtet hatten also grundlegende Verhaltensweisen, die irgendwann einmal als sündhaft, also verwerflich eingestuft worden waren, Menschen Überlebensvorteile gebracht. Das könnte uns zu der falschen These führen, dass „die Sünde“ überlebensnotwendig sei. Diese sozialdarwinistische Interpretation ginge aber gleichfalls am Kern der Sache vorbei. „Sündhaftes“ Verhalten beschreibt eher ein Verhalten, bei dem der Gebrauch der Lüste aus dem Ruder zu laufen droht. Unsere Biologie, unsere Gene, unsere Hirnphysiologie, Hormone und Neurotransmitter bestimmen unser Fühlen und Verhalten mit.

Als Molekularbiologe und Gehirnforscher stellte sich Medina daher die nicht uninteressante Aufgabe, die Biologie der sieben Todsünden zu erklären. Sein auch heute noch lesenswertes Buch verfolgt den Ansatz: Bevor bestimmte Verhaltensweise normativ bewertet werden, lohnt es sich, die darunter liegenden biologischen Mechanismen zu beleuchten. In seinem Narrativ wandelt Medina dabei auf Dantes Spuren. So wie der Renaissance-Dichter in der „Divina Comedia“, der göttlichen Komödie, besucht auch Medina das „Purgatorium“ – den Läuterungsberg – wo Sünder im Jenseits für Hochmut, Zorn & Co zu büßen haben.

Jede Todsünde hat Medina daher einem bestimmten biologischen Mechanismus gewidmet. Bei Wollust etwas analysiert er die komplexen Vorgänge der „sexuellen Erregbarkeit“, bei Zorn analysiert er die Mechanismen der Aggression, bei Trägheit jene des zirkadianen Rhythmus von Wachen und Schlafen.

Ganz allgemein könnte man sagen: Unsere Zentren für Emotionalität und blitzschnelles Reagieren-Können mit Kampf, Flucht oder Totstellen sind in den evolutionär betrachtet ältesten Hirnregionen angelegt. Lieber einmal zu oft aus Angst vor einem Rascheln im Gebüsch zur Seite springen, lieber einmal zu oft den vorsichtigen Überlebensmodus wählen, als heldenhaft Teil der Nahrungskette zu werden. Denn nur wer überlebte, konnte später am Lagerfeuer davon erzählen – eventuell auch ausgeschmückt mit poetischen Heldenepisoden, damit auch gleich die richtigen Zuhörerinnen an den Lippen des Erzählers hingen. Manche Evolutionsbiologen vertreten auch die These, dass sich das Liebesleben am Lagerfeuer entschied und Frauen Männer nicht nur nach Status und Statur, sondern ihre „Helden“ auch anhand ihrer narrativen Fähigkeiten wählten. Mit dabei waren beim abendlichen Balzen – eine Investition in die Weitergabe der eigenen Gene – aber nur diejenigen, die vielleicht auch einmal zu oft blitzschnell und voller Angst zur Seite gesprungen waren. Evolutionär war die Angst, die heute meistens nur mehr als Störfaktor betrachtet wird, also ein durchaus überlebensnotwendiges Gefühl.

Im Stammhirn, also in den ältesten Hirnregionen, beginnt der Übergang vom Tier zum Menschen. Erst in den evolutionär jüngeren Hirnregionen der Großhirnrinde können Informationen kognitiv reflektierend, langsam und überlegt weiterverarbeitet werden.

Im Moment von Angst und Panik ist die Großhirnrinde aber (so gut wie) blockiert. Die schnelle Reaktion auf „gefährliche“ Sinneseindrücke übernimmt das Stammhirn und das limbische System, bei Angst vor allem die Amygdala. Innerhalb von Sekundenbruchteilen lassen neue und unheimliche Sinneseindrücke von Augen, Ohren, Nase oder Haut im Körper einen Cocktail aus Neurotransmittern und Hormonen explodieren. Man ist zur Seite gesprungen, bevor man das überhaupt bewusst wahrgenommen hat. Das Herz klopft noch bis zum Hals, aber zum Glück war es nur ein Windstoß und keine Königskobra. Erst im Modus des Reflektierens können Stress-Situationen dann besser verarbeitet werden – und beispielsweise Strategien erarbeitet werden, wie man sich vor Schlangen oder Säbelzahntigern besser schützt. Dieses „schnelle Denken“, in unseren Instinkten als eilige und überlebensnotwendige Abkürzung geparkt, kann uns freilich auch zum Stolpern bringen. Darauf hat der Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahneman in seinem Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“ hingewiesen.2 Prinzipiell, so Kahneman, sind wir fähig, in jedem dieser beiden Modi zu denken. Das schnelle Denken verläuft dabei mehr oder weniger automatisch, also instinkthaft, emotional und unbewusst. Das langsame Denken hingegen arbeitet logisch, kann Irrtümer erkennen und Fehler ausmerzen. Langsames Denken ist strategisch, gewissenhaft und „step by step“. Mit dieser Fähigkeit haben Menschen immer wieder große Entdeckungen gemacht und diesem Ideal folgt auch das wissenschaftliche System. Dieser Denkmodus – rational, abwägend und darauf bedacht, ein logisches halt- und überprüfbares Ergebnis zu erhalten – hat aber auch genau einen massiven Nachteil: Er ist langsam, anstrengend – und selten aktiv. Wir sind im Besitz dieser Fähigkeiten, aber durchaus in Hörweite erzählen uns unsere Gene eine andere Geschichte. Wenn wir uns unter diesem Aspekt die Entstehungsgeschichte der „sieben Todsünden“ anschauen, dann begeben wir uns auf eine spannende Entdeckungsreise zu den Wurzeln unseres Denkens und Fühlens. Denn Verhaltensweisen, die als sündhaft beschrieben werden, haben eben auch einen tiefen biologischen, sozusagen „instinktiven“ Hintergrund. Und dass sie bis heute nicht verschwunden sind, sie geradezu zum Inventar des menschlichen Verhaltens zählen, zeigt, dass sie zum Überleben notwendig waren. Unsere heutige Umwelt stellt nun aber neue Fallen bereit, in die wir hineintappen können.

In den folgenden Kapiteln über die sieben Todsünden werden wir immer wieder genau an diesen Umstand erinnern.

Eines sollten wir uns aber auch immer wieder vor Augen führen: Die Zeiten haben sich geändert. Der Säbelzahntiger ist ausgestorben. Wir leben nicht mehr als Jäger und Sammler, die abends am Lagerfeuer sitzen. In unserer hochtechnisierten Umwelt sind viele instinktive Reaktionen nicht mehr situationsadäquat. Dieses Spannungsverhältnis wird umso deutlicher, wenn wir uns den sieben Todsünden aus Sicht der Präventions- und Anti-Aging-Medizin nähern. Dazu wollen wir aber zuerst eine kleine Zeitreise unternehmen und uns in die ägyptische Wüste zur Zeit des spätantiken vierten Jahrhunderts begeben.

Sündhaft gesund

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