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Wie spätantike Hippies die Sünde erfanden
ОглавлениеDie Wüste ist an sich eine unwirtliche Gegend. Normalerweise will man sie nur durchqueren, sie ist so gesehen ein notwendiges Übel, das zu überwinden ist, um von A nach B zu kommen. Die Wüste aber ist für Einige auch Symbol der Askese, des Widerstands und des Neuanfangs. Wer dorthin geht und sich dort niederlässt, will etwas verändern, will anders leben, sich unter Umständen reinigen und innere Kämpfe ausfechten.
Im vierten Jahrhundert entwickelte sich im ägyptischen Nildelta, in Nitria, rund 70 Kilometer südöstlich von Alexandria, einem wirtschaftlichen Hotspot der Spätantike, eine neue Bewegung der Freude an Spiritualität und Askese3. Hunderte, ja tausende Menschen, in der Regel Männer, zog es in die ägyptische Wüste. Eine neue Spiritualität, Sinnsuche und ein neuer Glaubenseifer waren ausgebrochen. Im Römischen Reich war ein paar Jahre zuvor das Christentum zugelassen worden. Christen wurden nicht mehr verfolgt, sondern durften nun ihren Glauben frei praktizieren. Für einige Anhänger hatte diese neue Situation aber ihrer Meinung nach auch unerwünschte Effekte mit sich gebracht. Einigen Anhängern erschien der Glaube lau zu werden. Ein Grund dafür war, dass durch den Wegfall der Verfolgung auch eine Normalisierung des Glaubenslebens eingetreten war. In Nitria, wohin sich die Sinnsuchenden, Spirituellen und Eremiten zurückgezogen hatten, wollten sie nun in der Einsamkeit wieder ihre Spiritualität fundieren und über das wahre gottgefällige Leben nachdenken und es auch zu führen versuchen. Dafür suchte man dezidiert die Abgeschiedenheit, lebte aber auch im Verbund und das nicht ohne Grund: Der Nachschub an Nahrung und Gegenständen des Alltags musste funktionieren, oder anders gesagt: Wer diese Abgeschiedenheit wählte, brauchte auch Glaubensbrüder oder -schwestern, die einen versorgten. So wurde Nitria nicht nur zu einem Magneten für eine Vielzahl von sinnsuchenden Menschen. Auch Kaufleute und Handwerker siedelten sich in der immer größer werdenden Eremitage an. Fast könnte man sich Nitria wie den Hort einer ersten Hippiebewegung vorstellen, deren Mitglieder in der Wüste nach dem Sinn des Lebens forschten. So manche „Wüstenväter“, wie diese frühen Mönche auch genannt wurden, hatten dieses Leben allerdings auch aus eher profanen Gründen gewählt. Als Eremit konnte man untertauchen und so der Steuer und den römischen Behörden entgehen.
Man könnte sagen, eine neue Gegenbewegung war entstanden, in der Menschen nicht mehr nach mehr Reichtum, Macht und Erfolg suchten, sondern sich selbst, ihre Spiritualität und das Eins-Sein mit dem Universum und dem Göttlichen entdecken wollten.
Für diese Suchenden habe ich viel Verständnis. Denn ihre Situation erinnert mich an andere spirituelle Ereignisse, aber auch an meine eigene Suche zur Zeit der Hippiebewegung in 1968er Jahren. Während meine Elterngeneration fast ausschließlich an den materiellen Dingen interessiert war, an wirtschaftlichem Aufbau, neuem Haus mit Garten, großem und noch größerem Auto und Urlaub im Süden, wollten viele Kinder der (nun) wohlhabenden und gebildeten Eltern die Freiheit, die Spiritualität und sich selbst finden. Erlauben Sie mir hier einen kleinen privaten Einblick zu geben: Auch ich unterbrach für ein Jahr mein Medizinstudium und bin nach Indien gefahren, um nach unglücklicher Liebe auf der Suche nach mir selbst durch das Land zu trampen und zu meditieren. Viel wichtiger aber ist, dass es auch die Beatles nach Indien zog und ihre Suche nach Spiritualität in ihrer Musik die Jugend rund um die Welt begeisterte.
Auch Woodstock, das legendäre Festival der Hippiebewegung wurde regelrecht zu einem Mythos. Hunderttausende strömten zu dem kleinen Festivalort, in dem die Popgrößen der Zeit im Regen auftraten („let the sun shine in“), von Ravi Shankar, Arlo Guthrie, über Joan Baez, Santana, Janis Joplin bis hin zu Jimi Hendrix.
In der Antike war die Suche nach Spiritualität freilich nicht nur auf die ägyptische Wüste beschränkt. Um sich in Glaubenseifer und Spiritualität zu beweisen, gab es auch an anderen Orten Menschen, die sich in Meditation und Kontemplation übten. In Indien etwa lebten manche Gurus über Jahre zurückgezogen und meditierten dermaßen in Ruhe, dass Vögel in ihrem Haar nisten konnten, hieß es. Auch das Kumbh Mela, das größte Glaubensfest der Hinduisten, an dem heutzutage oft mehr als 30 Millionen Menschen teilnehmen, soll schon zur Zeit der ägyptischen „Wüstenväter“ stattgefunden haben. Beim Kumbh Mela, das 2017 von der UNESCO zum immateriellen Weltkulturerbe erklärt wurde, wird der Unsterblichkeit und der spirituellen Reinigung gehuldigt. Legendenhaft ist der Ursprung dieses heute größten Pilgerfestes der Welt. Am Anfang der Zeit sollen Götter und Dämonen um einen Krug, gefüllt mit dem Nektar der Unsterblichkeit, „Amrita“, gekämpft haben. Vier Tropfen fielen dabei auf Indien. An diesen Stellen entstanden die Städte Allahabad (früher: Prayagraj), Haridwar, Ujjain und Nashik. Abwechselnd wird dort nun alle drei Jahre das Kumbh Mela, das „Krugfest“ veranstaltet, an dem das lokale Flusswasser eine besonders mystisch-reinigende Wirkung zeigen soll. Wer zu den astrologisch exakt berechneten Festtagen in die Fluten des Ganges, Yamuna oder Shipra steigt, wandelt an den Grenzen zu Raum und Zeit, heißt es. Einer dieser Tage ist etwa der Mauni Amavashya, ein Neumondtag im Jänner. Dann fließen in Allahabad nicht nur die Flüsse Ganges und Yamuna zusammen, sondern die Fluten vereinen sich zudem mit dem unterirdischen mythologischen Fluss Sarasvati. Gläubige und Asketen nehmen so ein Bad im Unsterblichkeitsnektar Amrita, und können sich so besonders gut ihr Karma reinigen, sprich all ihre Sünden abwaschen.
Diese Spiritualität wird damals wie heute als eine Gegenbewegung zu den „nur an den materiellen Dingen der Welt Interessierten“ aufgefasst und begeistert nicht nur die indisch-hinduistische Bevölkerung, sondern auch Hollywood-Schauspieler, oder die neuen Eliten im Mekka des Fortschritts, im kalifornischen „Silicon Valley“. Startup-Betreiber, Hollywood-Größen oder Topmanager von Google, Facebook & Co meditieren dort friedlich vereint und suchen nach sinnstiftenden Erlebnissen. Als ich vor einigen Jahren am Kumbh Mela teilnahm, nächtigte neben mir in einer bescheidenen Unterkunft auch Richard Gere. Eine bunte Vielfalt also, gestern wie heute.
Spiritualität, Yoga, Meditation & Co zählen mittlerweile ja zum guten Ton. Weltweit schießen spirituelle Festivals nur so aus dem Boden. Viele Menschen nehmen daran vielleicht auch der Unterhaltung wegen teil oder weil es chic ist. Das mag früher nicht anders gewesen sein. Unter den Sinnsuchenden am Ganges oder in der ägyptischen Wüste der Spätantike gab es freilich auch äußerst ernsthafte und geniale Menschen, die später zum Teil als regelrechte Gurus oder Heilige verehrt wurden. Einer davon war Evagrius Ponticus (ca. 345–399), ein aus reichem Hause stammender Alexandriner, von dem viele Meditationen über die „8-Lasterlehre“ überliefert sind4. Sie standen dann Pate für die Lehre von den sieben Todsünden. So wie New York der Hotspot der heutigen Welt ist, so war es auch Evagrius’ Heimatstadt Alexandria in der Antike. Sie war ein antikes Handelszentrum, ein pulsierendes Zentrum für Wirtschaft und Kultur. Evagrius hatte eine unglückliche Liebesgeschichte dazu gebracht, aus seinem materiell sorgenfreien Leben auszusteigen und als Eremit in die Wüste zu gehen. Dort wollte er in Exerzitien ergründen, wie es ihm möglich wäre, seine Spiritualität zu erneuern und dem Göttlichen näher zu kommen. Von ihm wird gesagt, dass er nach zwei Jahren Nitria verließ, weil es ihm dort „zu laut“ geworden war. Er zog weiter in Richtung Süden, nach Kellia, einer kleineren Eremitage, wo insgesamt nicht mehr tausende, sondern nur ein paar hundert Eremiten gleichzeitig lebten. Ihre Siedlung wurde erst im 20. Jahrhundert von Archäologen entdeckt.
In Kellia war es leiser und die Ruheordnung leichter einzuhalten. Um gegen Überfälle marodierender Gruppen besser gewappnet zu sein, waren die einzelnen Lehmhütten schon in Gruppen angeordnet und mit Mauern umgeben, was bereits wie ein Kloster anmutete.
Dort in Kellia und vorher in Nitria hatte Evagrius die Grundlagen für den berühmten Lasterkatalog gelegt, der dann, mit einigen Modifikationen durch Papst Gregor den Großen (540–604) als die sieben Todsünden (genauer: als die sieben Wurzelsünden) Eingang in das Regelwerk der römisch-katholischen Kirche fand.
Wenn wir uns im Folgenden mit den Lastern und Todsünden beschäftigen werden, werden wir immer auch einen Blick zurück zu den Wüsteneremiten werfen. Sie geben einen spannenden Einblick in eine scharfe Analyse des menschlichen Verhaltens, die uns auch heute noch zum Nachdenken anregen kann.