Читать книгу Das Eisenzimmer - Markus Ridder - Страница 10

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Jenny war sauer. Und zwar zu Recht, wie sie fand. Sie hatte das Spiel ihres Chefs durchschaut. Er wollte sie einfach nicht dabei haben. Und es konnte nur eine Erklärung dafür geben: Sie war eine Frau.

Deshalb hatte er sie zu Isenbarth geschickt, um sich den Obduktionsbericht geben zu lassen. Sie mochte Isenbarth, das stand außer Frage, vom ersten Tag an war ihr der alte Mann sympathisch gewesen. Doch die Forensik konnte warten, spielte in dieser Angelegenheit womöglich gar keine Rolle mehr. Es war nicht ausgeschlossen, dass sie den Mörder schon jetzt stellen würden, ohne den ganzen Firlefanz aus dem Labor. Und ohne die kleine, blonde Oberwachtmeisterin. Die studierte schließlich den Obduktionsbericht, während die Handschellen anderswo klickten.

Jenny fuhr von der Autobahn ab und auf die Brucker Straße. Der Motor jaulte auf, als sie zurück in den Zweiten schaltete. Die Brucker war frei, sie gab Gas, die Reifen quietschten. Mit Karacho stieß sie den Schalthebel nach vorn. Das Getriebe antwortete ihr mit einem Geräusch, das an zerberstendes Blech erinnerte. Jenny trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch, erst bei Hundert riss sie erneut an der Schaltung – der Vierte. Krawumm!

Sie rekapitulierte den Fall: Sie hatten die Tatwaffe. Sie kannten ihren Besitzer und es war mehr oder weniger klar, dass es einen rechtsradikalen Hintergrund gab. Zufällig gehörte die Tatwaffe einer rechten Vereinigung. Und sie wussten auch, welche es war und wo sie sich befand. Das Einzige, was noch zu tun blieb, war: den Sack zumachen. Und wer fuhr die Ernte ein? Die Männer. Wer kam ins Spiel, wenn es spannend wurde, wenn es ein bisschen Action gab? Genau!

Verflucht noch mal, ich bin nicht Polizeibeamtin geworden, damit ich mich an den Schreibtisch setze, wenn es gilt, ein paar dieser Arschlöcher dingfest zu machen!

Die Ortseinfahrt. Sie schaltete runter, drosselte die Geschwindigkeit auf Fünfzig. Sie musste sich beruhigen. Ihre Zeit würde kommen, das wusste sie einfach. Und wahrscheinlich stellte sie sich die Befragung und die Verhaftung dieser rechten Typen auch spannender vor, als es letztlich war. Im Grunde ärgerte sie vor allem eins: Ihr Chef griff auf altbewährte Kollegen zurück, wenn es drauf ankam. Er zählte nicht auf sie, wenn es brenzlig wurde. Dabei war sie auf der Polizeischule die beste Pistolenschützin gewesen; sie machte Jiu Jitsu und legte dabei manchen männlichen Kollegen auf die Matte; und da, wo andere den Schwanz einkniffen, kam sie allein aufgrund ihres Geschlechts nicht in die Verlegenheit dazu. Sie musste grinsen – auch wenn ihr Ärger keineswegs verflogen war.

Sie bog in die Wilhelm-Busch-Straße ein, ließ aber das kasernenartige Gebäude der Polizeidirektion links liegen. Isenbarth hatte sein Labor in einem vornehmen Altbau nahe der Amper. Ein Umzugswagen versperrte ihr den Weg in der Bismarckstraße und sie wäre am liebsten ausgestiegen und hätte den Möbelpackern ihre Marke unter die Nase gehalten.

Du musst dich beruhigen, sagte sie sich. Du bist Siebenundzwanzig, deine Zeit kommt noch. Sie fuhr mit zwei Rädern auf den Gehsteig an dem Umzugswagen vorbei. Eine Frau mit Kinderwagen schimpfte, hielt eine Faust in die Luft. Jenny hob entschuldigend die Hand. Sie begann, sich auf ihrer Unterlippe herum zu beißen. Ich werde Plossila beweisen, dass er auf mich zählen kann.

Sie sagte es laut vor sich hin wie einen Schwur: „Ich werde dir beweisen, dass du dich auf mich verlassen kannst.“

Die Einfahrt zum Labor: schmiedeeisernes Tor mit dem bayerischen Löwen auf dem Mäuerchen. Sie stellte den Wagen ab und fragte am Empfang nach Dr. Isenbarth. Sie war noch nie hier gewesen, aber natürlich kannte sie Labore aus ihrer Ausbildung, Leichen hatte sie schon etliche gesehen.

Isenbarth lächelte sie schon von Weitem an. Er trug einen weißen Kittel mit Stiften, einem Lämpchen und etlichem anderen Zubehör in der Brusttasche. Unter dem Kittel schaute ein Polohemd hervor, der braune Gürtel war auf seine braunen Schuhe abgestimmt.

„Frau Biber, das freut mich, dass Sie sich Zeit nehmen!“

Sie folgte ihm durch einen langen Flur mit Linoleumboden. Sie passierten zwei Büros, in denen ausschließlich Damen mit hochgesteckten Frisuren saßen. Überall erblickte sie kleine Ventilatoren, die um die eigene Achse kreisten.

„Wir haben in den Büros leider keine Klimaanlage, sehr zu meinem Missfallen übrigens.“

„Es muss halt überall gespart werden“, sagte Jenny mechanisch und musste sich zugestehen, dass sich ein mulmiges Gefühl in ihrer Magengegend einstellte. Sicherlich lag es daran, dass sie den Tag über kaum etwas gegessen hatte. Außerdem hasste sie diesen Krankenhausgeruch: Dieses Franzbranntwein-Desinfektionsmittel-Haferbrei-Gemisch.

„Nein, nein, daran liegt es nicht. Wir haben die Belegschaft abstimmen lassen, ob sie eine Klimaanlage haben wolle. Aber die Mehrheit hat abgelehnt.“ Er zuckte mit den Schultern. „Die meisten hatten wohl Angst vor Erkältungen und zu trockener Luft. Fortschrittsverweigerer!“ Isenbarth zwinkerte ihr ironisch zu. „Ist Ihnen nicht gut?“

„Mir? Doch, klar – alles in Ordnung. Es ist nur die Hitze ...“ Sie fächerte sich mit der Hand Luft zu.

Isenbarth nickte. „Ist nur nachmittags so heiß in den Büros, dann brennt die Sonne durch die Scheiben, ansonsten sind die Mauern dick genug, um zu kühlen. Das Haus ist von Achtzehnhundertneunzig.“ Er verlangsamte seinen Schritt, hob dann einen Gummivorhang zur Seite und ließ ihr den Vortritt.

Sie durchquerten eine Art Operationssaal. Seitlich sah sie zwei Männer in Kitteln, die sich über einen nackten Körper gebeugt hatten und offenbar an ihm herummetzgerten. Sie bildete sich ein, den Geruch alten, toten Fleisches zu riechen, versuchte aber, den Gedanken so gut wie möglich zu verdrängen.

Isenbarth hatte wieder zu ihr aufgeschlossen und ging jetzt voraus, um den nächsten Vorhang hochzuheben. „Da sind wir!“, sagte er, als sie hindurch geschritten war. „Hier dürfte es jedenfalls nicht mehr zu heiß sein.“

Erst jetzt fiel Jenny auf, dass sich die Härchen an ihren Armen hochgestellt hatten, es musste deutlich unter zehn Grad sein. Doch schon im nächsten Moment spürte sie die Kälte nicht mehr. Ihr Blick fiel auf den weißen Körper, der an der Stirnseite des Raums auf einer silbernen Metallbahre lag.

Isenbarth steuerte ein Regal an, in dem Nierenschalen, Operationsbesteck, Einweghandschuhe und dergleichen lagen. Er nahm ein abgewetztes Klemmbrett herunter und blickte für einen Atemzug konzentriert auf den Zettel, der sich darauf befand. „Antony Kenneth Middleman“, sagte er, „Sie kennen den Herrn ja bereits.“

Jenny nickte und stellte sich auf Hüfthöhe des Toten. Zwei Dinge stachen sofort ins Auge: Seine Brust zierte die Tätowierung eines überdimensionierten Eisernen Kreuzes und – Jenny kam nicht umhin, dies zu registrieren – über seinen schmalen Oberschenkel hatte sich ein gewaltiger Penis gelegt, dessen Spitze fast bis zur Metallbahre auf der andern Seite reichte. Seine Scham war gründlich und komplett rasiert. Sie konnte nicht anders, aber in diesem Moment schossen ihr die Kondome XXL durch den Kopf, die sie heute Morgen in ihrem Badschrank gefunden hatte.

Jenny spürte, wie sie errötete, als sie Isenbarths Blick begegnete. Um nicht auch noch violett anzulaufen, konzentrierte sie sich auf die Wunde der Leiche oberhalb des Herzens.

Isenbarth lächelte väterlich, legte dann sein Klemmbrett wieder ins Regal und zog einen Gummihandschuh über die rechte Hand. Er stellte sich am Kopfende der Leiche auf und legte den Zeigefinger an die Stichwunde. „Der Dolch trat passgenau zwischen vierter und fünfter Rippe ein, dabei das Brustbein leicht touchierend. Der Stich wurde seitlich von unten geführt, was sich durch die Untersuchung des Stichkanals klar belegen lässt. Nachdem die Schneide in den Thorax eindrang, wurden Herz, Lunge und angrenzende Arterien durchschnitten. Der Tod muss fast unmittelbar eingetreten sein und kam letztlich durch eine Herzbeuteltamponade zustande. Das geschieht dann, wenn der Herzbeutel zu viel Blut ansammelt und so die Ventrikelfüllung behindert. Das Schlagvolumen wird dadurch erst stark behindert und setzt in einem Fall wie diesem fast augenblicklich aus.“

Jenny fühlte sich einen Augenblick wie erschlagen, konnte den Worten des Pathologen kaum folgen. Sie blickte wie gebannt auf die Wunde, die in etwa die Form zweier schmaler aufeinandergepresster Lippen hatte. Das Innere des Schnittes schimmerte schwarz, leicht bläulich vielleicht, nach außen hin veränderte sich die Farbe ins Violette und klang in einem leichten Fliederton auf der Haut aus. Der Schnitt befand sich direkt unterhalb des Eisernen Kreuzes, das, wie ein Wunder, vollkommen unversehrt geblieben war.

„Wie wir schon am Tatort festgestellt hatten, trat die Spitze des Dolchs am Rücken unterhalb des linken Schulterblatts wieder aus. Das Messer wurde aber durch den Aufprall des Delinquenten auf den Boden wieder in den Thorax zurückgeschoben.“

Jenny nickte, wenn sie alles richtig verstanden hatte, gab es nicht wirklich etwas Neues. Sie hätte sich den Weg hierher sparen können. Doch wo sie schon einmal hier war, würde sie das Spiel auch mitspielen. „Wie sieht es mit Abwehrmaßnahmen aus? Wenn ich mit einem Dolch angegriffen werde, halte ich doch die Hände vor den Körper – müsste das nicht Spuren hinterlassen?“

Isenbarth trat einen Schritt auf Jenny zu, blieb neben dem Oberkörper des Toten stehen. Dann streifte er sich einen Handschuh über die bis dahin noch ungeschützte linke Hand. Er nahm den Arm des Toten, ließ seine Hand darüber gleiten. „Bei Morden, die mit dem Messer ausgeführt werden, stellen wir fast immer Abwehrspuren an Händen und Armen fest. Doch hier ...“ Er schritt erneut um den Toten herum, nahm den anderen Arm auf, streichelte ihn fast zärtlich, „hier ist nicht der geringste Hinweis auf einen Kampf festzustellen. Entweder der Täter hat Herrn Middleman überrascht oder das Opfer kannte ihn so gut, dass es dem Täter vertraute und nicht mit einer Attacke rechnete.“ Isenbarth legte den Arm sorgfältig neben den Körper auf die Bahre zurück.

Jenny betrachtete die Leiche. Sie konnte nicht wirklich Trauer über den Tod dieses Menschen empfinden. Er war ein bekennender Nazi gewesen, hatte offenbar einer Gruppe angehört, die gewaltbereit gegen Andersdenkende vorging. Für so etwas hatte sie einfach kein Verständnis. Jenny war immer für Vielfalt gewesen, Menschen anderer Kulturen empfand sie als Bereicherung. Aber gut, diese Erwägungen hatten hier keinen Platz. Sie hatten eine Leiche und suchten ihren Mörder, alles andere durfte nicht interessieren. Hatte ihnen die Leiche also wirklich alle Antworten gegeben? Middleman hatte in diesem Autohaus gestanden, irgendjemand war gekommen, hatte ihm ein Messer zielgerichtet ins Herz gerammt und war wieder verschwunden.

„Der Einstich“, sagte Jenny, „wieso ist er horizontal? Wenn ich mir die Situation vorstelle, dann halte ich das Messer doch so ...“ Sie hob eine Faust in die Luft, neben ihren Kopf, als halte sie einen unsichtbaren Dolch darin. „Jetzt stellen Sie sich vor, ich steche zu ...“ Die Faust sauste herab wie ein Fallbeil und stoppte nur Millimeter vor dem Eisernen Kreuz. „Die Einstichstelle müsste vertikal verlaufen.“

Isenbarth war leicht zusammengezuckt, als die Faust auf die Leiche niederging. Er machte eine Halbdrehung und nahm den Pappkarton mit den Einweghandschuhen. „Vielleicht sollten Sie ...“

Jenny schüttelte den Kopf und zog die über dem Toten schwebende Faust wieder zurück. Dann schlang sie sich die Arme um ihren zitternden Körper. „Nein, danke, schon gut.“

Isenbarth stellte den Karton zurück ins Regal und lächelte milde. „So, wie Sie es beschreiben, kann es nicht geschehen sein, aus verschiedenen Gründen.“ Er räusperte sich und begann, den Kittel zu schließen. Allmählich schien es auch ihm kalt zu werden. Und offenbar rechnete er damit, dass die Unterredung doch länger dauern würde als erwartet. „In der Tat trat der Dolch waagerecht in die Brust ein. Er muss also eine andere Handhabung angewendet haben, wenn Sie erlauben …?“ Er ging auf Jenny zu, zog dabei seine Taschenlampe aus der Brusttasche und nahm diese in die rechte Faust. Jenny gegenüber ging er in die Hocke und machte eine Bewegung, wie sie Jenny vom Rückhandschlag beim Tennis kannte: Er ließ seine Hand von links unten nach oben gleiten und stach mit der Taschenlampe oberhalb von Jennys Brust zu. „So könnte es gewesen sein“, sagte er und richtete sich wieder auf. „Sie müssen sich die Klinge dabei waagerecht vorstellen, nur auf diese Weise konnte sie ja auch zwischen den beiden Rippen hindurch stoßen. Hätte er vertikal und von oben attackiert, wäre der Dolch am Brustkorb abgeprallt.“

Instinktiv hatte Jenny ihre Hand an die Brust gelegt. Als Isenbarth seine Vorstellung beendet hatte und sich den Kittel glatt strich, hielt sie die Taschenlampe plötzlich selbst in der Hand und an sich gedrückt. „Das heißt, er hat sich vorher Gedanken gemacht, wie er zustechen muss, und quasi die beste Möglichkeit gewählt, um sein Opfer mit einem Stich umzubringen.“

Isenbarth wippte mit dem Oberkörper von links nach rechts, als wiege er den vorgebrachten Gedanken ab. Er legte einen behandschuhten Finger ans Kinn. Dann sagte er: „Die beste Möglichkeit wäre gewesen, es so zu machen, wie die Henker der Antike. Darf ich ...?“ Er nahm ihr die Lampe aus der Hand, legte beide Hände darum und hob sie über seinen Kopf. Dann ließ er sie bis hinab auf Jennys Schlüsselbein sausen. „Sehen Sie, hier in diese Mulde kann man ganz leicht eindringen.“ Er bohrte die Lampe in die weiche Stelle zwischen Hals und Schlüsselbein. „Die Klinge saust durch Lunge, Arterien und schließlich ins Herz. Das Blut ergießt sich komplett in den Bauchraum. Wenn ich die Klinge wieder hinausziehe, werden außer dem kleinen Schnitt hier oben, keine Wunden sichtbar. Eine sehr elegante Methode.“

Jenny blickte irritiert auf die Lampe auf ihrer Schulter. „Eine Methode, die der Täter offenbar nicht kannte.“

„Naja, das würde ich nicht unbedingt schlussfolgern. Die Technik, die er angewendet hat, erklärt sich auch nicht von selbst. Er scheint sich mit der Frage auseinandergesetzt zu haben, wie er vorgehen soll. Und sehen Sie: Ich bin eins zweiundachtzig, Sie dürften rund eins ... sagen wir eins fünfundsechzig groß sein. So ist es ein Leichtes für mich, von oben herab zuzustechen. Herr Middleman hier hat mit Einssechsundsiebzig in etwa die europäische Durchschnittsgröße für einen Mann. Sie hätten da bereits Probleme, die antike Dolchstoßmethode anzuwenden, denn die Klinge muss gerade von oben hinabgestoßen werden. In der Antike mussten sich die Opfer hinknien. Und bedenken Sie, dass der SS-Dolch ein zwanzig Zentimeter langes Blatt hatte.“

„Sie meinen, der Täter war möglicherweise nicht groß genug für den römischen Dolchstoß?“

Erst jetzt nahm Isenbarth die Lampe wieder von Jennys Schlüsselbein. Er hielt sie vor sich, betrachtete das Gerät. „Möglich, dass er aufgrund seiner Größe nur eine Option hatte, zuzustoßen ...“ Er knipste die Lampe ein, ein gelber Strahl tanzte über Jennys linker Brust. „Hier!“

Er war noch immer erregt, als er über den verdorrten Rasen der Deutschnationalen stapfte. Einfach typisch. Typisch Frau war das mal wieder. Gleichberechtigung fordern, aber selbst in verkrustetsten Klischeewelten stecken. „Sind Sie sicher, dass das die richtige Größe ist? Vielleicht sollten Sie besser noch einmal ihre Frau fragen!“, hatte die Drogerie-Kassiererin gesagt. Und das unter dem Nicken der anderen ihn umstehenden Damen. Als ob er nicht genau wüsste, welche Windelgröße seine Kleine hatte. Drei. Gut, er hatte Drei Maxi Plus gekauft, sicher war sie ja wieder ein bisschen gewachsen. Aber drei war schließlich drei.

Er schüttelte den Kopf und war froh, als er mit seiner Katharina auf dem Arm endlich im Schatten der Tannen stand, die das Grundstück begrenzten. Sehr einladend sah das Gebäude nicht aus: Alle Rollläden waren dicht, eine Tür konnte er nirgends erkennen, alles wirkte verschlossen, verriegelt fast. Auch Plossila war noch nicht da, dabei war es bereits kurz nach fünfzehn Uhr. Dollerschell war selbst spät dran, die Diskussion in der Drogerie hatte Zeit gekostet. Er hatte argumentiert, dass er sich schon deshalb bestens mit der Windelgröße auskenne, weil er die Kleine schließlich ständig wickele – von den Frauen aber nur müde Blicke erhalten. Immerhin wusste er jetzt, wie man sich fühlte, wenn man diskriminiert wurde. Erniedrigt.

Immer noch in Rage begann er, im Stechschritt um das Haus herumzulaufen. Er musste jetzt einfach in Bewegung sein, sonst würde er nur noch wütender werden. Er konnte Ungerechtigkeit nicht ertragen und schon gar nicht, wenn sie ihn selbst betraf. Es schadete außerdem nichts, sich ein wenig umzusehen, solange Plossila noch nicht da war. Und schließlich war es für die Kleine auch besser, wenn er nicht die ganze Zeit auf der Stelle stand. Je mehr Neues es zu sehen gab, desto ruhiger war sie. Ursprünglich hatte er gehofft, sie im Auto lassen zu können, doch an Schlaf war nicht zu denken gewesen. Und die Zeit, sie vor dem Einsatz noch schnell nach Hause zu bringen, hatte er nicht gehabt. Aber es würde schon gehen, sagte er sich. Hier war sowieso niemand.

Auch hinter dem Haus war alles wie ausgestorben. Ein Grillplatz zeigte immerhin an, dass dieser Ort schon einmal menschliches Leben gesehen hatte. Er stellte sich an ein schwarz lackiertes Geländer und versuchte, in der Kühle des Schattens seinen Ärger abregnen zu lassen.

Plötzlich hörte er ein Schmatzgeräusch, direkt neben seinem Ohr, dann machte es Pling. Er sah zu Kathi, sah dann hinab auf einen feuchten Kellereingang zwei Meter unter seinen Füßen. Der Schnuller war auf ein paar Bierkästen gefallen und von dort auf den Boden. Er sah wieder zu seiner Tochter auf, doch die blickte vollkommen unschuldig und wie es schien mit einem Funken Stolz auf den grauen Fleck, den sie ihren Vater auf den Kapuzenpulli gezaubert hatte.

„Katharina, das ist der letzte Schnuller, den wir haben. Dann kannst du ja gar nicht mehr schlafen heute.“ Und der Papa bekommt gar keine Ruhe, fügte er in Gedanken hinzu.

Doch die kleine Katharina dachte ohnehin nicht ans Schlafen. Sie begann stattdessen damit, mit den Schnüren zu spielen, die aus der Kapuze ihres Vaters hingen. Offenbar waren sie gar kein schlechter Ersatz für den verloren gegangenen Schnuller.

„Also gut“, sagte Dollerschell und setzte sich in Bewegung. Er eilte die Stufen hinab, stieß mit der Schulter leicht gegen die Bierkästen und fischte dann den Schnuller vom Boden. Er hatte auf einem rostigen Abflussgitter gelegen. Aus dem Loch stank es nach Gülle und Katzenpisse. „Na, den kannst du erst mal nicht mehr nehmen“, sagte er und steckte sich das Ding in die Hosentasche. Er sendete seiner Tochter einen ernsten Blick, doch die schaute nur mit großen Augen über die Schulter ihres Vaters hinweg. Erst als er ihrem Blick folgte, bemerkte er, dass die Kellertür gleich neben ihm offenstand.

Er nahm Kathi von der rechten auf die linke Schulter, fuhr mit der Hand über eine raue aufgesplitterte Stelle über dem Schloss. Ein daumendicker Holzspalt brach ab und segelte zu Dollars Füßen auf den Boden. Mit der Pike gab er der Tür einen leichten Schubser. Sie schwang um eine Armlänge auf und tickte dann gegen irgendetwas Hartes.

Dollerschell stieß einen Seufzer aus. Wie automatisch griff er sich an die Brusttasche. „Scheiße, die Kippen liegen im Auto“, sagte er. Scheiße sagte man nicht, zischte es durch seinen Kopf. Er lächelte seine Tochter schuldbewusst an.

Er wusste nicht, warum, doch setzte er einen ersten Fuß in den Keller und schob sich dann durch die Tür ins Innere. Es war dunkel, nur das Licht eines angrenzenden Zimmers drang in den Raum hinein. Es reichte, um festzustellen, dass hier irgendetwas passiert sein musste. Die Vitrine zu seiner Linken war eingeschlagen, der Wandschrank stand schräg im Raum, verbarrikadierte fast die Tür und ein kleiner Holztisch lag umgekippt halb auf einer muffigen Cord-Couch, halb auf dem Boden.

Dollerschell ging auf das Licht zu, trat in einen Flur. Links befand sich ein Heizungskeller, geradeaus gab es eine Art Hobbyraum: eine Tischtennisplatte, mehrere andere Sportutensilien auf alten, staubigen Metallregalen, daneben Kisten, ein paar abgefahrene Autoreifen. Ordnung sah anders aus. An der Wand hing ein Bild Adolf Hitlers in hetzerischer Pose. Er betrachtete es kurz und bemerkte, wie auch seiner Tochter das Poster auffiel. Zunächst blieb ihre Miene ausdruckslos, dann nickte sie leicht mit dem Köpfchen. Plötzlich sackten ihre Mundwinkel nach unten und sie stieß einen ohrenbetäubenden Schrei aus.

„Na komm, der böse Onkel ist doch schon lange tot“, versuchte Dollerschell, seine Tochter zu trösten. Doch erst als sie aus dem Raum in den Flur zurückgekehrt waren, hörte Kathi auf zu weinen. „Wir gehen wieder nach draußen. Das hat hier ja alles ohnehin keinen Sinn.“ Er dachte: Wahrscheinlich wartet Plossila ohnehin vor dem Haus und fragt sich, wo ich bleibe.

Plötzlich krachte es über ihnen. Der Putz rieselte von der Decke, die Wände vibrierten leicht. Dollerschell hörte Schreie. Wieder ein Schlag. Irgendetwas schien dort oben zu zerbersten. Das Getrappel von Füßen. Dann wieder Stille.

Dollerschell hielt schützend seine Hand über den Kopf seiner Tochter und blickte die Treppe hinauf. Was ging hier vor? Erst sah es so aus, als stehe das Haus leer, dann wies alles auf einen Fall von Vandalismus hin. Und jetzt fand hier allem Anschein nach eine handfeste Auseinandersetzung statt.

Konnte es vielleicht sein, dass sein Chef schon vor ihm hier gewesen war? Dass er dort oben Probleme bekommen hatte? Dollar sah zurück auf die Tür, durch die er eben in das Haus getreten war. Was hätte Plossila getan, wenn er die Tür geöffnet vorgefunden hätte?

Dollerschell musste sich keine Antwort darauf geben. Wenn schon er ohne Not einfach in den Keller gestiegen war, dann würde es Plossila erst recht getan haben. Ihm blieb nichts anderes übrig, als dort oben nach dem Rechten zu schauen. Er wollte nicht, dass es hieß, er lasse Kollegen im Stich. Dann konnte er sich die Beförderung jedenfalls in die Haare schmieren.

Dollerschell blickte sich um. Wo zum Teufel kann ich Kathi für einen Moment ablegen?

Er hastete zurück in den ersten Raum, balancierte am umgestürzten Couchtisch vorbei und trat vor die stinkende Couch. „Das ist nicht schön, aber auf jeden Fall sicherer, als wenn du beim Papa bleibst“, sagte er und legte seine Tochter auf den Cordbezug. Anschließend baute er eine Burg aus Kissen um sie herum, damit sie nicht hinunterfallen konnte. Er betrachtete sein Werk und war zufrieden.

Zurück im Flur zog er seine Heckler & Koch P7 aus dem Halfter und entsicherte die Waffe. Langsam schritt er die ersten Stufen hinauf. Als er etwa auf der Mitte der Treppe angekommen war, hörte er zuerst ein leichtes Quengeln, dann begann Kathi, aus vollem Halse zu schreien. Verdammt!

Er sicherte die Heckler & Koch wieder, rannte zurück zum Sofa. „Also komm!“, sagte er zu seiner Tochter und legte sie wieder zurück auf die linke Schulter. „Aber erzähl das ja nicht deiner Mami!“

Zurück auf der Treppe entsicherte er die P7 erneut. Mit Kind in der einen und der Pistole in der anderen Hand stieß er die Tür am Ende des Absatzes auf.

Er war überrascht. Er trat in einen Raum, der an ein Wirtshaus erinnerte. Zwei dutzend Holztische standen da, über die gebügelte Decken drapiert waren. Es roch nach Bier und Bohnerwachs. Ein eigenartiges Licht lag im Raum, das von den nur locker heruntergelassenen Jalousien in hellen Streifen über Tische und Stühle fiel und vom Boden reflektierte. Es erhellte ein Regal, das mehrere Trompeten und eine Posaune enthielt. Katharina gluckste zufrieden, als sie die große goldene Tuba erblickte, die davor auf einem Stuhl stand.

Dollerschell schlich über die alten, knarzenden Dielen und öffnete die Tür auf der anderen Seite. Sie war nur angelehnt und führte in einen gekachelten Flur.

Auch das war nicht gerade etwas, was er von Nazis erwartet hatte: Großformatige Bootminiaturen standen da, mit vom Wind geblähten Segeln, ausgestellt in überdimensionierten Plexiglasvitrinen. Er sah sich um: Drei Türen führten vom Flur ab, eine davon war die Ausgangstür. Er trat vor die erste, die Pistole im Anschlag. Von innen war nichts zu hören, auch nicht, wenn man das Ohr an die Tür legte. Er schritt zur nächsten – die gleiche Situation, kein Mucks war vernehmbar.

Was sollte er tun? Er hatte das Gefühl, als erwarte ihn nichts Gutes in den Zimmern. Eines der beiden musste über dem Flur unten liegen. Irgendetwas war dort drin geschehen. Jemand hatte geschrien, Putz war von der Decke gebröselt. Es musste einen Kampf gegeben haben. Sicherlich wartete jemand auf Hilfe. Und als Polizist hatte er die Pflicht, in einem solchen Fall einzugreifen.

Er legte den rechten Ellenbogen auf die Klinke der zweiten Tür. Er spürte förmlich, wie ihm der Schweiß ausbrach. Kathi musste seinen pulsierenden Herzschlag bemerkt haben, auch sie war plötzlich ganz ruhig, schien angespannt. Dollar schluckte, seine Kehle war wie ausgetrocknet. Sollte er wirklich mit seinem Kind auf dem Arm in den Raum stürmen? Was, wenn ihn dort drinnen rechte Schläger erwarteten? Natürlich, er war bewaffnet, aber eine große Gruppe Skins konnte er allein nicht lange in Schach halten. Und konnte er sich sicher sein, dass Plossila schon vor ihm da war? Vielleicht kam er auch gar nicht. Er war in den vergangenen Wochen nicht gerade auf der Höhe gewesen, irgendetwas stimmte nicht mit ihm, Dollar wusste nur nicht, was.

Er nahm den Ellenbogen wieder von der Klinke. Es war Wahnsinn, mit der Kleinen hierher zu kommen. Ihr war er in erster Linie verpflichtet, sie musste er als Vater schützen. In Gedanken sah er seine Frau schimpfen und sie hätte alles Recht der Welt dazu, wenn sie ihn hier sehen würde. Was um Himmels willen war nur über ihn gekommen?

Er schüttelte den Kopf, begann, langsam in Richtung Ausgangstür zu schleichen. Er würde mit Verstärkung wiederkommen und keiner Menschenseele erzählen, was er hier gemacht hatte. Offenbar hatte er noch unter dem Adrenalinschub aus der Drogerie gestanden. Natürlich, die Frauen, die Frauen waren schuld, dass er sich zu so etwas hatte hinreißen lassen!

Er legte den Ellenbogen an die Klinke der Haustür, wollte sie aufstoßen und dann möglichst schnell weg von hier.

Plötzlich ein Keuchen.

Oder war es ein unterdrücktes Husten?

Egal, es kam jedenfalls aus dem ersten Raum, jetzt konnte Dollar sicher sein. Jemand war da drinnen und versuchte, sich möglichst ruhig zu verhalten, warum auch immer.

Er nahm den Ellenbogen von der Klinke und ging hinüber zu Tür eins. Er atmete noch einmal schwer ein, wie vor einem langen Tauchgang, dann drückte er die Klinke langsam herunter. Er öffnete die Tür nur einen Spalt, trat dann wieder zurück. Die Pistole hielt er in Richtung Tür und die kleine Katharina an sich gepresst. Dann stieß er die Tür mit dem Fuß auf. Sie öffnete sich und schlug unter einem harten, kalten Knall an die Wandinnenseite.

„Rauskommen, Polizei!“, rief Dollerschell.

In diesem Moment sauste etwas Undefinierbares von einer Seite des Türrahmens zur andern. Hinterher stürzte sich ein wuchtiger Typ, der einen brachialen Schrei ausstieß.

Plossila!

Er hörte Schreie, etwas Morsches zerbrach, Glas klirrte. Einer rief „Du altes ...“ und schien dann einen Schlag in den Magen zu bekommen.

Dollerschell sprang in den Raum. Er brauchte ein paar Sekunden, um die Situation zu begreifen. Vor ihm balgten sich zwei Männer auf dem Boden, dahinter lag ein zerbrochenes Geweih. Ein anderer saß unter heruntergelassenen Rollos an einem Konsolentischchen. Er war mit einem Anzug gekleidet, der ihm zu groß zu sein schien, hatte eine komisch Föhnfrisur und blickte abwechselnd auf den Kampf zu seinen Füßen und auf seine Fingernägel. Ruhig und entspannt blickte er auch zu Dollar, ohne jedoch in das Geschehen eingreifen zu wollen. Wie ein Kinofilm schienen die Ereignisse vor seinen Augen abzulaufen.

Bei den Männern zu Dollerschells Füßen bekam der Kleine mit Backenbart die Oberhand. Gerade hatte er Plossila einen Tritt in die Magengegend gegeben, da schielte er auf eine Pistole, die auf dem Boden lag. Er hechtete in ihre Richtung, griff danach, wollte sie schon aufnehmen. Doch Dollerschell sagte bestimmt: „Liegen lassen, oder ich schieße!“

Der Bärtige schaute ihn an und dann zu dem Kind auf seinen Armen. Er schien ihn zu mustern und die Chancen abzuwägen, ob Dollar wirklich ernst machte, wenn er die Waffe nahm.

„Glaub nicht, dass ein Vater, der sein Kind verteidigt, auch nur eine Sekunde zögert, dir eine Kugel direkt zwischen die Augen zu setzen!“, sagte Dollar mit einer Stimme, die ihm selbst fremd war. Der Andere schluckte, schien beeindruckt. „Rüber schieben“, befahl Dollar und nickte in die Richtung seines Chefs.

Der Bärtige schlug den Blick nieder und gab der Waffe einen Schubs, sodass sie über das Parkett zu Plossila rutschte. Erst jetzt sah Dollerschell, wie ramponiert sein Chef aussah. Das Gesicht war zerbeult, blaue Flecke hatten sich darüber gelegt wie eine Hautkrankheit. „Lieber Himmel“, entfuhr es ihm.

Der Hauptkommissar rappelte sich dennoch auf die Beine, auf denen er sich nur schwankend halten konnte. Er nickte müde und schlapp in Richtung seines Kollegen, doch mit einem Blick voller Anerkennung. Dann sah er auf die beiden Männer. „Sie ... Sie sind festgenommen.“

Dollerschell betrachtete seine Tochter. Auch sie guckte ernst, als hätte sie verstanden, dass es hier um Leben und Tod gegangen war.

Dann sah sie zu ihrem Vater, gluckste zufrieden und sagte das erste Mal: „Papa“.

Das Eisenzimmer

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