Читать книгу Das Eisenzimmer - Markus Ridder - Страница 9

4

Оглавление

Fast panisch riss er das Handy an sich, als es klingelte. Er war gerade durch das Bayertor gefahren und Katharina war endlich eingeschlafen, wahrscheinlich wegen der Pflastersteine, die den Wagen ordentlich durchgerüttelt hatten. Das Rütteln kam dem Effekt einer Wiege gleich, hatte seine Tochter schläfrig gemacht. Jetzt wollte er nicht riskieren, dass die Kleine durch das Klingeln wieder geweckt wurde.

„Dollerschell?!“

„Ja, hier auch, siehst du das nicht auf dem Display?“

Hmm, gute Laune hört sich anders an, dachte Dollerschell. „Nein, hatte gerade Anderes zu tun. Gut erholt beim Yoga?“

„Ja, ich war gut erholt, aber jetzt stehe ich hier im Präsidium und du bist nicht da. Wir hatten abgemacht, dass ich die Kleine hier um zwölf abhole.“

Er bog in den Kreisverkehr ein und verpasste direkt im Anschluss die Ausfahrt, die er nehmen wollte. Also fuhr er eine Extrarunde und bog dann in die Weilheimer ab. „Ja, tut mir leid, musste dringend weg zu einem Außeneinsatz, ich ...“

„Was? Du nimmst unsere Tochter mit zu einem Außeneinsatz – das kann nicht dein Ernst sein! Das ist doch viel zu gefährlich für ein Kind! Was da alles passieren kann! Stell dir vor, du gerätst in eine Schießerei! Hast du denn gar kein Verantwortungsgefühl?“

Was war nur los mit Doris? Er hatte sie noch nie so emotional erlebt, wie in den vergangenen Monaten. Sie hatte sich verändert, seit Katharina da war, eine Veränderung um hundertachtzig Grad. Er kannte seine Frau als ausgeglichenen Menschen, Streit und Aggressionen waren ihr fremd. Auch wenn es ihm niemand sagen wollte, wusste er doch, was seine Freunde über sie dachten: Sie sahen sie als eher langweiliges Mauerblümchen, eine Beamtenseele, für die schon der Job am Schalter der Kreissparkasse ein Abenteuer darstellte. Man konnte sich mit ihr gepflegt über ein Thema unterhalten und dabei angenehm schläfrig werden. Was man nicht konnte, war: sich mit ihr streiten. So war das zumindest damals gewesen. Dollerschell sagte: „Bitte, Doris, reg dich ab, ich war nur in einem ... Restaurant und habe dort mit dem Pächter gesprochen. Es sind keine Kugeln durch die Luft gezischt.“

„Hast du deine Dienstwaffe etwa dabei?“

„Was soll die Frage?“

„Hast du sie dabei?“

„Ja, natürlich habe ich sie ...“

„Dann schließt du also nicht aus, dass du sie benutzen musst.“

„Wieso ich ... Als Polizist hat man grundsätzlich seine Waffe dabei.“

„Ach, beschwerst du dich nicht ständig, dass Plossila sie immer im Präsidium lässt?“

„Plossila!“

„Dein Chef, genau.“

Dollerschell atmete aus. Vorne rechts tauchte bereits die Apotheke auf, dahinter musste sich irgendwo die Autovermietung befinden. „Plossila ist nicht irgendein Polizist. Er interessiert sich nicht für Vorschriften und er ist ... er ist auch nicht ganz auf der Höhe in letzter Zeit. Er vergisst seine Dienstwaffe, wie er vieles vergisst. Das weißt du. Du kennst meine Sorgen bezüglich Plossila.“

„Diese Sorgen hast du doch erst seit ein paar Wochen.“

„Monaten!“

„Ein paar Monaten, gut. Das mit der Dienstwaffe hast du mir schon vor Jahren erzählt. Mal hat er die Waffe dabei, mal hat er sie nicht dabei, das hast du gesagt.“

„Ganz genau. Und warum stört mich das? Weil ich sie immer dabei habe. Ich habe sie also jetzt nicht mit, weil ich annehme, ich könnte in eine Schießerei geraten, sondern aus Gewohnheit.“

„Man kann nie wissen, das ist das, was du immer sagst. Aber dennoch nimmst du unsere Tochter mit in irgendeine Spelunke. Da kann man ja wohl auch nie wissen, was auf einen zukommt. Das ist ... das ist ...“ Sie begann zu weinen.

„Doris, bitte! Stehst du noch im Büro?“

Sie schniefte. „Ja. Das heißt im Flur, vor dieser Kaffeeküche.“

„Herrgott, da kann dich doch jeder hören!“ Er schlug mit einer Hand gegen das Lenkrad. Es war ihm ohnehin schon unangenehm gewesen, dass er seine Tochter mit ins Präsidium nehmen musste. Er hatte sich einiges vorgenommen, wollte aufsteigen, einen weiteren Karriereschritt machen, gerade jetzt, wo er Vater geworden war. Sie hatten erst kürzlich gebaut und die Kleine war auch nicht umsonst. Sie konnten das Geld gebrauchen. Es war nicht gerade hilfreich, wenn die Kollegen das Gefühl hätten, seine Frau hielte ihm nicht den Rücken frei oder er hätte Probleme, sich in der eignen Beziehung durchzusetzen. Wie sollte jemand, der sein Mauerblümchen nicht bändigen konnte, ein Polizeiteam führen?

„Das ist also das Einzige, was dich interessiert, ja? Das ich eine Mutter bin, die sich Sorgen macht – das ist dir egal!“ Sie stockte, fuhr dann in einem anderen Ton fort: „Danke, das ist ja nett!“

„Was ist nett?“

„Ein Kollege von dir hat mir ein Taschentuch gegeben.“

Dollerschell griff zu den Zigaretten, die auf dem Armaturenbrett lagen und schob sich wie automatisch eine der Kippen in den Mund. Erst als er sie angezündet hatte, fiel ihm ein, dass seine Tochter auf dem Rücksitz im Maxicosi schlief. Er drückte die Zigarette aus und sagte: „Doris, bitte geh jetzt heim, ich bringe die Kleine gleich bei dir vorbei. Und um Himmels Willen, jammere die Kollegen jetzt nicht voll.“

Die Leitung blieb stumm.

„Doris?“

Sie hatte aufgelegt.

Wieder zog Dollerschell sich wie aus Reflex eine Zigarette aus der Schachtel und steckte sie in den Mund. Obwohl er sie nicht anzündete, zog er daran. Immerhin entfaltete sich so ein leichtes, kaltes Tabakaroma auf seiner Zunge. Er bog auf den Parkplatz der Autovermietung ein und stellte den Wagen vor einem weißen Ford Transit mit einer eingedrückten, rostigen Seitentür ab.

Mit dem schlafenden Baby auf dem Arm trat er in einen kalten, mit Fliesen ausgelegten Raum, der von beige lackierten Sperrholzmöbeln dominiert wurde. An einer langen Theke saß eine junge Frau mit eng anliegendem Top und schneehasenweißen Haaren hinter einem Computerbildschirm. Ein Mann, der etwa in ihrem Alter war, saß mit einer Pobacke auf der Theke und fixierte ihr Dekolleté. Er trug einen ölverschmierten Blaumann und trotz der Hitze dicke Trekkingstiefel. Seine Haare schienen frisch frisiert und während die Seiten kurz geschoren waren, erwuchs aus seiner Schädelplatte ein nach hinten frisiertes Ungetüm, das zu fünfzig Prozent aus Haar und und zu fünfzig Prozent aus Gel bestehen musste.

„Du, ein Kunde, ich muss jetzt arbeiten“, sagte sie und ließ die Augäpfel zu Dollerschell wandern, ohne dabei den Kopf zu bewegen.

Er rutschte von der Tischplatte. „Dann überleg‘s dir, acht Uhr.“ Er lächelte sie verheißungsvoll an und schritt zurück in die Werkstatt, die direkt hinter dem Empfangstrakt begann.

Sie wendete sich Dollerschell zu, zeigte ein breites, professionelles Lächeln. „Was kann ich für Sie tun?“

Dollerschell, dem immer noch die nicht angezündete Zigarette im Mundwinkel steckte, zog umständlich mit der linken Hand seine Marke aus der rechten Hosentasche. Anders ging es nicht, denn auf dem rechten Arm trug er seine schlafende Tochter. „Kriminalpolizei Fürstenfeldbruck, ich brauche ein paar Informationen von Ihnen!“

Die Blonde blickte auf die Marke und legte sich dann fünf manikürte Fingernägel an die Brust. „Oh, da weiß ich nicht, ob ich Ihnen helfen kann“, entfuhr es ihr. Sie blickte zu Dollerschell auf, sah erst ihn an, dann auf das Kind. Eine Falte legte sich über ihre Stirn und sie sah erneut auf die Marke. „Kann ich mal?“

„Bitte!“

Zehn manikürte Nägel betasteten die Marke. Sie begann, mit einem Daumen leicht daran zu kratzen, als habe sie den Eindruck, das Ding könnte vielleicht aus Schokolade bestehen. Sie blickte wieder auf, gab ihm die Marke unter einem verkniffenen Lächeln zurück. „Ist das normal, dass Sie ein Kind ... das sieht man ja selten bei der Polizei ... ich meine, im Tatort oder so ...“

„Ist eine Ausnahme.“ Er steckte die Marke wieder ein und versuchte, mit seiner linken Hand an die linke Innenseite seines Sakkos zu kommen, das er sich trotz der Hitze über den Kapuzenpulli gezogen hatte. Da das Unterfangen aussichtslos erschien, legte er Katharina vorsichtig von der rechten auf die linke Schulter. Während er so endlich den Zettel aus Middlemans Hotelzimmer aus seiner Innentasche fischen konnte, begann die Kleine, sich zu räkeln und die Augen aufzuschlagen. „Können Sie mir sagen, welchen Wagen dieser Kunde von Ihnen gemietet hat?“

Sie nahm den Zettel, der in einer durchsichtigen Schutzfolie steckte. Aus den Augenwinkeln beobachtete Dollerschell wie die Kleine auf seiner Schulter nach einer nicht vorhandenen Brust suchte.

„Na, wenn das alles ist.“ Sie begann eine Nummer in die Tastatur zu tippen, was trotz der langen Fingernägel offenbar kein Problem darstellte. „Da ist er: Kenneth Middleman. Hat den Wagen letzte Woche gehabt, am Dienstag um 16.30 Uhr abgeholt und am Mittwoch gleich in der Früh um acht zurückgebracht. Betrag wurde bar bezahlt.“

„Was für ein Wagen war es?“

Die roten Nägel huschten erneut über die Tastatur. „Passat mit Anhängerkupplung und mit Anhänger.“

Das könnte genau der Wagen sein, der gestern fast den Computerexperten umgefahren hat, durchfuhr es Dollerschell. „Hat er das Auto nochmals zu einem späteren Zeitpunkt gemietet?“

Katharinas Schrei übertönte die Antwort, doch konnte er an den Bewegungen der dunkelrot bemalten Lippen erkennen, wie sie ausgefallen war: negativ. Er begann damit, die Kleine auf dem Arm zu wippen, und schob ihr dann den Schnuller in den Mund. Das Schreien erstarb augenblicklich.

„Sind Sie sicher? Könnte er den Wagen nicht auch gestern Abend gehabt haben?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, der Wagen war gestern hier, er wurde nicht vermietet.“

Dollerschell fuhr sich mit einer Hand durch die Haare und begann, leicht daran herumzuzupfen. Bis vor einigen Monaten hatte er sich die Haare noch gegelt und igelig nach oben gestylt, als eine Art letzten Gruß aus seiner Zeit als Grufty. Noch immer war er der Meinung, dass The Cure und die Pixies die besten Bands aller Zeiten waren, doch musste er diese Einstellung jetzt nicht mehr durch seine Frisur unterstreichen. Er war mittlerweile um mehr Seriosität bemüht. Doch wenn er wie jetzt nachdachte, drehte er aus alter Gewohnheit immer noch kleine Haarbüsche zusammen. „Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen, als er den Wagen zurückgegeben hat?“

„Ich habe jedenfalls keinen Vermerk – scheint alles in Ordnung gewesen zu sein.“

„Wer hat denn den Wagen abgenommen?“

„Das war ...“ Sie machte eine Kopfbewegung in Richtung Werkstatt, „der Kollege von eben.“

„Könnte ich kurz mit dem Kollegen sprechen?“

Sie verdrehte die Augen, als wäre sie froh, ihn endlich losgeworden zu sein. Dann drückte sie einen gelben Knopf und sagte etwas in ein Mikrofon. „Alex, bitte mal zum Empfang kommen, Alex bitte“, hallte es aus der Werkstatt wider. Dollerschell beobachtete, wie der Dunkelhaarige von vorhin unter einer Hebebühne hervor trat und sich mit einem breiten Grinsen zu ihnen in Bewegung setzte.

„Na, schon Sehnsucht gehabt?“, sagte er, als er vor die Empfangstheke trat.

„Die Polizei hat Sehnsucht nach dir“, sagte die Blonde und zeigte mit einem Finger, spitz wie ein Eispickel, auf Dollerschell.

Der Dunkelhaarige blickte irritiert auf den Kommissar mit dem Baby im Arm, zog sich dann umständlich die Hose hoch. „Okay?“

„Der Passat mit dem Anhänger, den Sie letzte Woche abgenommen haben, letzte Woche Mittwoch – Sie erinnern sich?“

„Von dem Engländer, ja.“

Katharina spuckte den Schnuller wieder aus und entdeckte das Ohr ihres Papas für sich.

„War alles in Ordnung mit dem Wagen?“

Er blickte verunsichert zu seiner Kollegin, doch die sendete ihm kein geheimes Zeichen. „Ich habe jedenfalls keine Mängel festgestellt.“

„Haben Sie mit dem Mann gesprochen?“

„Ich habe die Liste abgehakt und fertig.“

„Er hat nicht gesagt, wozu er den Anhänger benötigte?“

„Hmm, er ... er sprach ja nur gebrochen Deutsch und hat nicht viel gesagt. Er ...“ Wieder blickte er sich zur Blonden um, doch die hob nur in einer ironischen Geste die gezupften Augenbrauen. „Als wir in den Anhänger schauen, sagt er: ‚riechen Sie das?‘“ Er fächelte sich dabei Luft zu, offenbar die Geste Middlemans imitierend. „Sätz him.“

„Sätz him?“

„Also englisch jetzt: Das ist er, oder?“ Er sah fragend in die Runde.

Dollerschell begann wieder damit, die Haare zu drehen. „Und ... was haben Sie gerochen?“

Er zuckte mit den Schultern. „Nichts. Mottenkugelgeruch. Riecht oft so, wenn die Leute Möbel transportieren, ganz normal. Aber dann machst du die Plane auf, fegst einmal durch, dann ist es weg.“

„Möbel“, sagte der Kommissar gedankenverloren. Dann klingelte sein Handy.

Hoffentlich ist es nicht schon wieder Doris. Er ließ sich den Zettel zurückgeben, der immer noch zwischen zwei rot lackierten Eispickeln steckte, und nickte zum Dank in die Runde.

Er drehte sich auf dem Absatz um und hielt sich das Gerät ans rechte Ohr. „Dollerschell?!“

Es war Plossila!

Dollerschell verließ das Büro, lief über den Hof der Autovermietung, wippte sein Kind im Arm und berichtete von seinen Recherchen hier und im „Alten Hasen“.

„Also kein böses Wort zwischen den Nazis im Alten Hasen?“, fragte Plossila nach.

„Esch jedenfalls behauptet es.“

„Und er hat keine Ahnung, um was es bei den Gesprächen ging?“

„Er versteht kein Englisch, sagt er.“

„Na, das glaube ich ihm sogar.“

Dollerschell blieb vor einem der Anhänger stehen. Er betrachtete die Illustration, die auf die Planen gedruckt war. Sie zeigte eine gelbe Ente, deren Ohren im Wind flatterten. Statt Füßen hatte sie zwei Räder, die sich drehten. Gelbe Funken sprühten in die Luft.

„Bist du noch da?“, fragte Plossila.

„Ja. Aber ich verstehe es nicht: Da leiht sich Middleman letzte Woche einen Wagen mit Anhänger für einen Tag. Und genau an seinem Todestag wird ein Wagen mit Anhänger vor dem Autohaus gesehen, in dem er umgebracht wurde.“

„Zufall?“

„Schwer zu glauben, aber möglich ist es natürlich.“

„Es gibt eine Menge Autos mit Anhängern. Wir sind hier ziemlich ländlich, ständig muss man doch irgendetwas transportieren. Die Bauern, die Holzfäller, die Werkstätten.“

Dollerschell nickte, drehte sich auf dem Absatz um. Ihm wurde langsam heiß mit seinem Sakko und dem Kapuzenpullover. Und dem Baby im Arm. Die kleine Katharina begann zudem, wieder unruhig zu werden. Er würde ihr ein Fläschchen zubereiten und sie dann nach Hause bringen. Er blickte auf die Uhr: Kurz nach zwei, er hatte schon mindestens drei Stunden keine geraucht, der Filter seiner Zigarette, die nach wie vor in seinem Mundwinkel steckte, war bereits durchnässt.

„Und wie erklärst du dir den Geruch nach Möbeln in dem Anhänger? Middleman hatte ein Hotelzimmer – er wollte sich sicher nicht häuslich einrichten“, sagte Plossila.

„Das wird dieses Rednerpult gewesen sein. Nimm die Lampen dazu, die er geordert hat: Der Typ hatte irgendeine Veranstaltung im Sinn, sicher mit den rechten Brüdern.“

Dollerschell schüttelte den Kopf. „Mit der Veranstaltung gebe ich dir recht, aber das Rednerpult kam von der gleichen Firma wie die Lampen. Es wurde nur schon früher geliefert. Er musste dafür also nicht selbst ein Auto mieten.“

„Hmmm“, brummte Plossila. Dann gab es eine Pause, der Hauptkommissar schien nachzudenken. „Hat Doris die Kleine eigentlich pünktlich im Revier abgeholt?“

Dollerschell zögerte einen Augenblick, war überrascht von dem Themenwechsel. Er räusperte sich. „Ja klar, war nur eine Ausnahme, dass ich Kathi hatte, kommt nicht wieder vor. Für Kinder sind die Frauen zuständig – meine Meinung.“

Plossila gab einen erneuten Brummlaut von sich, ob er Zustimmung oder Ablehnung signalisieren sollte, war Dollerschell nicht ersichtlich. „Tu mir einen Gefallen, Dollar! Ich wollte dieser Wehrsportgruppe einen kleinen Besuch abstatten. Jenny habe ich zu Isenbarth geschickt – der Obduktionsbericht ist fertig und du weißt, wie es ist ...“

„... am Telefon kann man den immer so schlecht besprechen“, imitierte Dollerschell den Forensiker.

Plossila stieß einen dunklen Lacher aus, der sich allerdings mehr wie ein Huster anhörte. „Ich würde gerne zu zweit gehen, bei den Jungs mit den Glatzen weiß man nie. Die sehen schlimmer aus, als sie sind, ist klar, aber ...“

„Ist eh Vorschrift: So was macht man nicht allein.“

„Genau, Vorschrift!“ Das Wort hörte sich aus Plossilas Mund an, als habe er es in zwei dicke Anführungsstriche gestellt und halte es mit Pinzette und angewidertem Blick möglichst weit von sich weg.

Dollerschell ließ sich die Adresse geben. Die Wehrsportgruppe befand sich in Dießen am Ammersee. „Das muss direkt in der Nähe des Carl Orff Museums sein.“, sagte Plossila.

„Carl Orff Museum – ist da nicht auch die Polizeidienststelle?“

„Glaube, ja.“

„Komischer Ort für eine Gruppe verkappter Nazis, wenn du mich fragst. Bin in einer dreiviertel Stunde da, okay?“

„Bis gleich!“

Dollerschell bereitete seiner Tochter auf der Rückbank des Wagens ihre Milch zu. Danach verpackte er sie wieder in den Maxicosi und machte sich auf den Weg nach Dießen. Er würde sich irgendeine Ausrede einfallen lassen, warum er seine Tochter dabei hatte. Vielleicht konnte er sie auch kurz im Auto lassen und Plossila würde sie gar nicht bemerken.

Als er vom Hof fuhr, sah er durch die Fenster der Autovermietung, wie der Dunkelhaarige ganz nah an die Blonde geschmiegt war. Er schien sie zu küssen.

Plossila liebte diese Landschaft: Sanfte Hügel und Weiden, die sacht zum Wasser hin abfielen. Immer wieder tauchten alte Gehöfte und kleine Wälder auf und verstellten den Blick auf den See, der ruhig und mächtig in der Landschaft lag. Hinter Utting lenkte er den Wagen in eine lange Kurve, der See verschwand eine Zeit lang hinter einer Siedlung, dann ging es eine Anhöhe hinauf und der See blitzte ihm wieder sein strahlendes Blau entgegen. Der einzige Wermutstropfen waren die Wolken, die über den Bergen hingen und ein Gewitter ankündigten.

Kurz vor Dießen überholte er einen Campingbus. Er wählte dazu eine uneinsichtige Stelle, die Mittellinie war durchgezogen. Der alte Mercedes, der ihm auf der Gegenfahrbahn entgegen gekommen war, und dem er erst in letzter Sekunde ausweichen konnte, hupte noch wütend in der Ferne, als Plossila bereits nach Dießen einfuhr.

Rechts ging es in die Landsberger Straße, in der sich auch das Gebäude der Wehrsportgruppe befinden musste, links führte die Mühlstraße in Richtung See. Er hatte noch Zeit, eine halbe Stunde mindestens, also setzte er den Blinker nach links, parkte den Wagen direkt vis-a-vis des Gasthofs „Oberbräu“, den er noch aus seiner Kindheit kannte. Er stieg aus, setzte sich unter einen gelben Sonnenschirm und bestellte einen Espresso.

Das Café war nicht sonderlich gut besucht, nur eine Dame in Bikini und mit einem Tuch um die Hüften saß am Nachbartisch und blätterte durch eine Illustrierte, von drinnen drang das Klappern von Besteck nach draußen, irgendwo bellte ein Hund. Die Straße war menschenleer, der Teer wölbte sich leicht unter der Hitze, als sei er mit Hefe angerührt. Weiter unten querte die Bahntrasse, über die sich gerade ein ächzender Zug quälte. Hinter den Gleisen lag der See, und als das müde Schnaufen des Zuges sich entfernt hatte, hörte Plossila die Schreie von Kindern und das Bimmeln eines Glöckchens hallte zu ihm hinüber und verlor sich dann in den ausgestorbenen Straßen.

Er setzte die Sonnenbrille auf, denn Espresso trank man ausschließlich mit Sonnenbrille auf der Nase, wie er fand. Dann entschied er, den Wagen stehen zu lassen und zu Fuß gehen.

Schon nach etwa drei Minuten bereute er, nicht den Wagen genommen zu haben. Die Sonne brannte auf ihn herab, trieb ihm die Schweißperlen auf die Stirn, machte seine Schritte schwer. Er blickte zurück: Das kleine Städtchen schien wie verlassen, kam einer Kulisse gleich. Entweder man war am See oder blieb zu Hause vor den Ventilator.

Er wischte sich mit einem Stofftaschentuch über den Nacken, war außer Puste, fühlte sich schlapp. Wieder einmal nahm er sich vor, so bald wie möglich an seiner Fitness zu arbeiten. Morgen. Später. Irgendwann.

Endlich, er war da! Seine Schuhe knirschten über einen von der Sonne verdorrten Rasen. In der Mitte stand ein Flaggenmast. Er nahm die Sonnenbrille ab und blickte hinauf. Die Deutschlandfahne hing schlapp herunter, trotz Windstille klimperte irgendetwas in unregelmäßigen Abständen gegen das Aluminium der Stange.

Plossila wischte sich mit dem Unterarm über das Gesicht und betrachtete das Gebäude. Es erstreckte sich über drei Etagen, in die jeweils zwei große Fenster eingelassen waren. Alle Fenster waren mit Rollläden verschlossen. Ein zweistöckiger Erker hatte sich vor die linke Fensterfront gelegt, er gab dem Gebäude etwas von einer Festung, die kleinen Fenster an der Seite des Erkers wirkten wie Schießscharten.

Plossila zog sein Handy heraus, sah auf die Uhr. Viertel vor drei, Dollerschell würde also erst in fünfzehn Minuten eintreffen. Müde schritt er auf das Haus zu.

Die Eingangstür befand sich auf der westlichen Seite, auf der Klingel stand kein Name, was Plossila nicht verwunderte. Er schritt weiter um das Gebäude herum, das zur linken von gewaltigen Tannen flankiert wurde. Auf der Rückseite des Hauses ein weiteres Rasenstück, ebenfalls von hohen Tannen umstellt. Umstellt wie von großen, stummen Soldaten. Im Eck ein schwerer Steingrill, der Rasen davor war zertrampelt, eine trockene Lehmschicht zeigte sich. An der Hauswand lehnten ein paar hölzerne Klappstühle. Daneben ein schwarzes Geländer, das zu einer Kellertüre hinabführte.

Plossila legte eine Hand an das Geländer, es war überraschend kühl. Eine eigenartige Stimmung erfasste ihn. Verlassenheit.

Er atmete tief ein, trat dann um das Geländer herum und ging die Stufen hinab. Unten stapelten sich leere Bierkästen. Er legte die Hand an das morsche Holz der Tür. Es gab keine Klinke und er nahm nicht an, dass sie offen war.

Er täuschte sich. Zwar konnte er die Tür nicht aufstoßen, doch das Schloss war nicht verriegelt. Er sah genauer hin – es schien aufgebrochen worden zu sein, lange Holzspäne standen ab, deutlich erkannte er, dass jemand die Tür mit einem Balleisen oder etwas Ähnlichem traktiert hatte.

Dennoch: Die Tür ließ sich keine Handbreit öffnen, etwas versperrte sie von der anderen Seite. Er nahm das Handy aus der Tasche, schaltete die Leuchte ein und hielt sie vor den engen, schwarzen Türspalt. Doch der dünne Lichtstrahl verlor sich in dem Meer aus Dunkelheit, das in dem Keller hauste wie etwas Lebendiges. Ein dunkles Cordsofa wurde sichtbar, irgendetwas Gläsernes stand davor, gleich links an der Rückwand befand sich offenbar ein Regal, mehr erkannte er nicht.

Er schaltete die Lampe wieder aus, blickte noch einmal auf die Uhr. Noch sieben Minuten – wenn Dollerschell pünktlich kam. Am besten, ich warte vor dem Haus, dachte er. Er hatte hier unten keinen Handy-Empfang, wie sollte Dollar ihn finden? Er blickte auf, der schwarze Schatten des Hauses lag über dem Garten, auch hier hinten waren alle Rollos heruntergelassen. Der Geruch von Katzenpisse lag in der Luft. Es ist ohnehin keiner zu Hause, sagte er sich. Die Nazis sind am See oder brüllen irgendwo mit bloßem verbrannten Oberkörper „Sieg heil“ bei einer Demo. Wahrscheinlich im Osten.

Er blickte auf die Tür. Ohne weiter nachzudenken, rammte er die Schulter dagegen. Es gab einen dumpfen Laut, irgendetwas quiekte leise auf der anderen Seite.

Der Spalt war nicht größer als zuvor.

Ratlos sah er sich um, fuhr sich mit einer Hand durch das leicht fettige Haar. Dann trat er zurück, bis an die Bierkästen, nahm Anlauf. Wieder donnerte er mit der Schulter gegen das morsche Holz. Rumpeln, Quieken. Ein stechender Schmerz durchzog sein rechtes Schultergelenk.

Scheiße, dachte Plossila und krümmte sich nach vorne. Ein verrosteter Abfluss grüßte vom Boden. Er begann, den Schmerz mit der linken Hand zu verreiben. Es würde einen blauen Fleck geben, er bekam immer schnell blaue Flecken.

Er inspizierte den Spalt. Zwei Zentimeter hatte er gewonnen. Wenn er sich noch zwanzig Mal dagegen warf, wäre er groß genug, um hindurch zu schlüpfen. Und seine Schulter wäre mit Sicherheit verrenkt, ausgekugelt oder gebrochen. Oder alles gleichzeitig.

Ich warte auf Dollerschell, zu zweit wird es gehen.

Plossila fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, drehte sich einmal im Kreis, trat dann mit der Pike gegen die Bierkästen. Es klirrte.

Dollerschell, dachte er. Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals mit einem gewissenhafteren Polizisten zusammengearbeitet zu haben. Und er hatte sich weiterentwickelt in den letzten Jahren. Früher war er oft unkonzentriert gewesen, ein bisschen fahrig, jetzt entging ihm immer weniger. Er konnte ein guter Ermittler werden, das Einzige, was ihm fehlte, war manchmal die zündende Idee. Die Phantasie, die auch irgendwie dazugehörte.

Dollerschell war eher ein Mann der Vorschriften und der Dienstanweisungen, wusste Plossila. Würde er wirklich mit ihm hier unten diese Tür aufbrechen und ohne Hausdurchsuchungsbefehl in dieses Gebäude eindringen?

Plossila musste sich keine Antwort auf diese Frage geben, stattdessen kickte er erneut gegen die Bierkästen. Er betrachtete die Kästen. Dann die Tür.

Ja, dachte er, so könnte es gehen.

Er machte einen Schritt auf die Tür zu, lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Die Füße stemmte er gegen die Bierkästen, bis er zwischen Tür und Kästen in der Luft hing. Dann presste er sich mit Wucht gegen das morsche Holz, stemmte die Bierkästen gegen die Wand. Er stieß einen unterdrückten Schrei aus, hörte hinter sich das Jammern der Tür. Er hielt die Luft an, presste mit voller Wucht, bis sich ein erneuter Schrei aus seinem Inneren löste und wie aus einem unter Druck stehenden Ventil aus ihm entwich. Endlich, die Tür gab nach, erst einen kleinen Spalt, dann gab es einen Ruck und Plossila sackte auf den Boden.

Aus dem Abfluss roch es nach Verwesung, eine Spinne streckte ihre langen Beinchen über das rostige Gitter. Plossila rappelte sich auf die Knie, drehte sich um.

Der Türspalt war jetzt knapp unterarmgroß, er würde hindurchpassen, wenn er den Bauch einzog. Er stand auf, schaute erneut ins schwarze Nichts. Immerhin sah er das Leuchten einer roten Diode am anderen Ende des Raums. Ein Lichtschalter!

Plossila atmete tief ein und schob sich durch den Türspalt, er hätte keinen Zentimeter kleiner sein dürfen.

Eine plötzliche Kühle umfasste ihn, Staub kitzelte in der Nase und es roch unangenehm nach Bier und Schweiß und einem Hauch von Cannabis. Auf dem Boden lag ein schmaler Lichtkegel, wie ein langes gelbes Kuchenstück sah es aus. Es fiel durch den Türspalt in den Raum und beleuchtete die versiffte Cord-Couch und einen Teetisch, in den sich Staub, Schmutz und Asche gefressen hatten.

Eine komplette Schrankwand hatte die Tür versperrt, sie reichte fast bis zur anderen Seite des Raumes. Offenbar hatte man sie von der Wand gelöst und vor die Tür gewuchtet. Plossila hielt sich mit einer Hand daran fest und tastete sich durch die Dunkelheit in Richtung des Lichtschalters. Unter seinen Sohlen knirschte es. Zerbrochenes Glas, wusste er.

Bevor er den Lichtschalter drückte, blickte er hinaus in den angrenzenden Flur, doch sah er nicht die Hand vor Augen. Er drehte sich wieder dem Zimmer zu, schaltete die Lampe ein.

Die Birne flackerte, schoss zuckende Lichtblitze durch den Raum. Erhellte die Sofalandschaft, an der Wand eine riesige Fahne mit Totenkopfschädel. Combat 18, las Plossila gerade noch, dann war das Licht schon wieder aus.

Verfluchtes Ding!

Erneutes Flackern. Plossila sah einen Vitrinenschrank mit Pokalen, wie er sie von Fußballturnieren kannte. Er blähte die Backen. Dollerschell würde jeden Augenblick da sein. Und dann? Er konnte sich auf eine Rechtsbelehrung seines Kollegen einstellen. Aber es half nichts, er musste an dieser Stelle abbrechen und die Strategie gemeinsam mit seinem Kollegen besprechen.

Doch als er sich der Ausgangstür zuwendete, stieg ein eigenartiges Gefühl in ihm auf. Er konnte es zuerst nicht zuordnen, doch dann wusste er es plötzlich.

Es war das Gefühl, beobachtet zu werden.

Instinktiv drehte er sich um, blickte in Richtung Flurtür, die nur schemenhaft zu erkennen war.

Ein kalter Schauer kroch ihm über den Rücken, seine Handflächen wurden feucht und er spürte, wie er immer schneller zu atmen begann.

Ganz ruhig, sagte er zu sich selbst. Er wusste, dass man sich in solchen Situationen schnell von Gespenstern umstellt fühlte. Ich darf mir jetzt nichts einbilden! Der größte Feind in der Dunkelheit war die eigene Phantasie.

Das Licht flackerte. Auf einmal Tageshelle.

Ein Gesicht.

Ein Mann mit dichtem Backenbart stand in der Tür. Reglos, mit kalten Blick, die Arme verschränkt.

Flackern, Dunkelheit.

Plossilas Herz stand still, für die Ewigkeit einer Sekunde konnte er sich nicht rühren. Vorne eine reglose Silhouette, im fahlen Türspaltlicht. Dann, mit einem Mal Zugluft, sie umgriff Plossilas Nacken, durchfuhr sein Haar, kroch in sein Hemd. Es donnerte, die Wände vibrierten. Die Kellertür hinter ihm, sie war zugefallen.

Vollkommene Dunkelheit. Schwarze Nacht.

Eine Sekunde, zwei Sekunden, drei Sekunden. Plossila stand still, doch er hatte das Gefühl, er beginne zu taumeln. Plötzlich drehte sich alles. Er versuchte, die Hand auszustrecken, um sich an der Schrankwand festzuhalten. Doch er konnte nicht. Er war wie versteinert.

Das Deckenlicht zitterte.

Der Türrahmen. Er war wieder leer. Der Mann wie vom Erdboden verschluckt.

Hatte er sich das alles eingebildet?

Doch wenn dort einer war, dann musste er ihn stellen. Es konnte der Mörder gewesen sein. Er gab sich einen Ruck, um wieder zu funktionieren. „Halt!“, stieß Plossila hervor, „stehen bleiben, Polizei!“

Er wollte rennen, doch stieß er mit dem Knie gegen irgendetwas am Boden. Ein Tisch. Er ignorierte den Schmerz, warf den Tisch zur Seite, rannte in Richtung Tür, rannte auf den Flur. „Verflucht, bleiben Sie stehen!“

Wieder stand er im Dunkeln. Hinten schlug erneut die Kellertür in der Zugluft gegen den Rahmen. Schemenhaft sah er drei Türen: Eine links, eine geradeaus und eine am Ende einer Treppe, die nach oben ins Erdgeschoss zu führen schien.

Na warte, dich kriegen wir schon, Bürschchen, dachte er im Anflug eines neuen, plötzlichen Selbstbewusstseins. Im Selbstbewusstsein des Jägers.

Er legte die Hand an den Türrahmen links neben sich, schritt vorsichtig über die Schwelle. Das Einzige, was er sah, waren zwei leuchtende Punkte, ein grüner und und ein oranger. Sie waren zwei Körperlängen von ihm entfernt, schienen in der Mitte des Raumes zu schweben. Er trat einen Schritt in den Raum hinein, es roch unangenehm nach Öl und Gummi.

Er strich über den rauen Putz der Wände, dann tickten seine Fingerspitzen gegen das glatte Plastik eines Schalters, etwa auf Schulterhöhe. Es war ein Drehschalter, wie er ihn nur aus dem Haus seines Opas im finnischen Savonlinna kannte. Er legte Daumen und Zeigefinger daran, wollte umdrehen. Doch hielt er im letzten Moment inne.

Der Bärtige. Es lief ihm kalt über den Rücken, als er sich den Mann im Türrahmen vergegenwärtigte. Er hatte im zuckenden Licht gestanden und war plötzlich wieder weg gewesen. Ein weißes, blutleeres Gesicht. Ein Bart wie ein mittelalterlicher Henker. Eine Aura wie ein Geist.

Er drehte den Schalter.

Es gab ein leises Zzzzt, eine eisengefasste Baulampe sprang an. Das Licht war kalt und weiß und unerbittlich. Plossilas Muskeln zogen sich zusammen. Er war bereit zu kämpfen. Wenn er es musste. Wenn es nicht anders ging.

Doch nichts geschah, keine Bestie sprang ihn an.

Der Heizungsraum, wurde ihm klar, zwei Mal drei Meter groß, höchstens. Rechts eine Heizungsanlage aus orange lackiertem Metall, mit bunten Leuchten, kleinen Zeigern überall, Schläuchen, Metallrädchen, Ventilen und großen goldenen Muttern. Geradeaus eine Waschmaschine, darüber ein Trockner. Zwei große Bullaugen, schweißbenetzt. Keine Menschenseele.

Plossila schob sich in den Raum, presste sich mit dem Rücken an die Wand, spürte den Drehschalter genau zwischen den Schulterblättern.

Es wollte sich keine Beruhigung einstellen.

Wer immer er war, er weiß jetzt ganz genau, wo ich bin. Des Lichtes wegen.

Er war nicht mehr Jäger. Er war Beute.

Erst jetzt merkte er, dass er schweißgebadet war. Dabei war es angenehm kühl im Keller. Doch sein Hemd klebte auf seinem Körper und sein nasser, runder Bauch schimmerte durch den glitschigen Stoff.

Er zog sein Handy aus der Hosentasche. Kein Empfang. Es war Fünfzehn Uhr, Dollerschell musste jeden Moment kommen. Vielleicht stand er schon oben auf dem vertrockneten Rasen und hielt Ausschau nach Plossilas BMW. Doch den würde er nicht entdecken, der stand ja vor dem Oberbräu.

Warum hatte Plossila nicht gewartet? Warum hatte er sich in dieses unkalkulierbare Abenteuer gestürzt?

Er atmete ein, atmete aus. Das Adrenalin, er spürte, wie es durch seine Venen zog. Er spürte, dass er leben wollte. Der Nebel, der sein Gemüt verdunkelt hatte wie der Dunst die Alpen, hatte sich verflüchtigt. Seine Halsschlagader pulsierte. Das Leben hatte ihn an den Eiern. Trotz seiner Angst: Irgendetwas in ihm durchlebte die Situation mit Lust.

Mit einem Satz sprang er aus dem Heizungskeller. Das Licht war stark genug, um auch den Flur zu erhellen. Deutlich sah er die Treppen, ein kleiner Absatz führte zur Kellertür. Die Wände waren grau und nackt, Spinnweben nisteten in den Ecken. Eine Reichskriegsflagge hing als einziger Wandschmuck über dem bröselnden Putz.

Plossila drehte seinen schwerfälligen Körper um neunzig Grad, sah in den Raum zu seiner Linken. Die Tür war nach innen geöffnet, ein leuchtendes Viereck aus Licht lag auf dem grauen Boden. Irgendetwas Platingrünes schimmerte im Raum, etwas Flächiges, Langes. Plossila baute sich unter dem Türsturz auf. „Los, rauskommen, Polizei!“

Nichts rührte sich.

„Mein Team ist unterwegs, ihr Versteckspiel macht keinen Sinn!“

Stille.

Aus dem Raum gegenüber flackerte es. Die Tür am oberen Ende der Treppe klackerte, die Türfalle stieß immer wieder leicht gegen den Metallrahmen.

Er konzentrierte sich wieder auf den Raum, der vor ihm lag. Diesmal fand er den Schalter schneller.

Er drehte den Knopf.

Das Gesicht eines Mannes. Ein Bart, ein offener Mund. Die Hand nach oben gereckt, das Haar gescheitelt. Eine Zornesfalte auf der Stirn. Teufelsfratze.

Plossila hob die Hände über den Kopf, duckte sich, wollte sich vor Schlägen schützen, die jede Sekunde auf ihn niederprasseln konnten. Erst dann wurde ihm klar: Er kannte den Mann. Jeder kannte ihn.

Hitler.

Der Führer starrte ihn an, von einem Poster an der Stirnseite des Raums. Hinter Glas und eingefasst in einen Eichenrahmen oder eine Eichenimitation. Er würde ihn nicht attackieren. Niemand würde ihn angreifen, denn auch hier war kein Mensch. Der platingrüne Widerschein stammte von einer Tischtennisplatte. Mehrere Schläger und Bälle lagen in Regalen, auch ein Volleyballnetz sah er, silberne Bocciakugeln und im obersten Fach thronte ein Eisstockset. Wenn Wehrsport so aussah, würde er mit sich reden lassen, dachte Plossila.

Mit pulsierendem Herzen verließ er den Raum, ging in den Flur, schritt die Treppen hinauf. Offenbar war der Mann von oben gekommen, hatte die Tür nicht geschlossen und so die Zugluft ausgelöst. Nachdem er Plossila gesehen hatte, war er im Schutz der Dunkelheit nach oben geflüchtet.

Plossila stieß die Tür auf.

Er stand in einem Raum, der an eine Gastwirtschaft erinnerte. Holztische mit hellroten Tischdecken, sechs Stühle an jedem Tisch. Die Wände mit Holzpaneelen vertäfelt, Lautsprecher an der Wand und gerahmte Bilder von irgendwelchen Leuten, die er nicht kannte. Anders als im Keller sah alles ordentlich aus, auf den hellen Fliesen kein Dreck, auf den Tischen Bierdeckel, ein Set mit Salz und Pfeffer in Reih und Glied. Alles gutbürgerlich. Keine Reichskriegsflaggen, kein Adolf. Die perfekte Kulisse.

Er ging durch den Raum, öffnete eine weitere Tür. Ein Flur mit Vitrinen, die Schiffsmodelle enthielten, wie Plossila sie nur von Piratenfilmen kannte. Er trat an eine heran, ein maschinengeschriebenes Schild verkündete: „Holländischer Zweidecker von 1660.“

Er blieb vor der ersten Flurtür stehen, die ein blickdichter Glaseinsatz schmückte. Er konnte nur schemenhaft einige farbige Flächen auf der anderen Seite erkennen. Langsam drückte er die Klinke herab, ließ die Tür aufschwingen. Vorne sah er die Einbuchtung des Erkers, den er schon von außen bemerkt hatte. Ein massiver Tisch stand darin, dahinter ein Lesesessel. Die kleinen Schießscharten waren durch lichtdurchlässige Vorhänge geschützt, die beiden Fenster mit Rollläden verschlossen.

Plossila trat ein, offenbar war es eine Bibliothek, es roch nach altem Papier und Leim. So viel Kultur hatte er gar nicht erwartet. Er trat auf einen Teppich, wieder knirschte es unter seinen Füßen. Das Geräusch kannte er schon von unten: Glas.

Er sah auf, erblickte zwei Vitrinen mit eingeschlagenem Deckel. Es lagen lediglich zwei Samtkissen darin, auf die die Scherben gebröselt waren. Er schritt darauf zu, doch kam er nicht weit. Ein plötzlicher Schmerz stoppte ihn. Ein stechender Schmerz in der rechten Niere. Wie aus dem nichts sprang er ihn an. Wie der wütende Biss eines wilden Tieres, das ihn aus dem Hinterhalt überfiel.

Plossila klappte zusammen wie ein Taschenmesser, fiel auf den Boden.

Dann griff ihm jemand ins Haar, riss ihn nach oben. Er konnte nicht sehen, wer es war, denn der nächste Schlag traf ihn mitten im Gesicht. Er schleuderte nach links, neben die Tür, neben den Teppich auf das Parkett. Er versuchte noch, die Hände hochzureißen, doch zu spät. Es gab ein dumpfes Klock, als sein Schädel auf dem Holz auftraf, nichts Spektakuläres, ein kurzes, hohles Knirschen, vielleicht ausgelöst durch einen brechenden Knochen oder Zähne, die nach innen wegbrachen. Dann drehte sich alles und Plossila wurde ein bisschen schlecht, aber nicht zu sehr. Im Magen wurde es leicht flau, doch vielleicht nur, weil er sich plötzlich so schwerelos fühlte. Sein massiger Körper war mit einem mal ganz leicht, als treibe er auf einer weißen Wolke dahin.

Das Gefühl war nur von kurzer Dauer. Der Schwindel blieb, doch dann kam der Schmerz. Es fühlte sich an, als hätte man ihm etwas durch den Kiefer gerammt, etwas durch das Auge gebohrt.

Schemenhaft sah er jemanden über sich. Er konnte nicht sagen, ob es der Backenbart war, doch war da etwas Schmutziges, Unruhiges in seinem Gesicht. Der Mann hielt irgendetwas in seiner Hand, blickte sich dann über die Schulter, sein Mund bewegte sich. Er sprach nicht mit Plossila, so viel war klar. Dann nickte der Mann und Plossila nahm ein Geräusch war, das er kannte.

Ein Pistolenabzug, der gespannt wurde.

Jetzt erkannte er auch, was der Mann in der Hand hielt. Die Pistole war auf ihn gerichtet.

Es war vorbei. Gleich war es ganz einfach vorbei. Plossila stellte fest, dass er diesen letzten Gedanken ganz ohne Trauer dachte. Er war nicht einmal wütend. Er nahm es hin, das Ende.

Dann ein anderes Geräusch. Plossila wusste nicht genau, was. Konnte es eine Polizeisirene sein?

Auf jeden Fall wurde der Backenbart unruhig. Er verschwand, dann packte er ihn bei den Füßen, zog ihn um eine Ecke, sodass er auf ein Hirschgeweih blickte, das an der Wand hing. Seine Füße wurden wieder abgelegt, fast sanft, als wolle man ihm nicht wehtun. Dann ging der Mann wieder weg. Er hörte, wie sich die Tür schloss, anschließend sagte einer: „Wir warten.“

Wieder die Sirene. Er hörte es laut und deutlich. Musik in seinen Ohren. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. Es war keineswegs vorbei. Seine Leute kamen, sie würden ihn holen. Ha, so einfach beseitigte man keinen Polizeibeamten, so nicht! Bilder blitzten in Plossilas lädiertem Schädel auf, maskierte SEK-Beamte, die hier alles kurz und klein schlagen und dem Backenbart zeigen würden, wie weit der Arm des Rechtsstaates reichte. Mores werden sie dich lehren, Backenbart, Mores!

Wieder die Sirene, sie kam näher ... aber ...

… aber es war keine Sirene. Erst jetzt wurde es Plossila klar.

Es war das Schreien eines Babys.

Das Eisenzimmer

Подняться наверх