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Der „Aegidienhof“ befand sich am äußersten Ende einer Stichstraße am nördlichen Stadtrand Kauferings. Das Haupthaus war von zwei Backsteingebäuden umrahmt, von der Straße aus war nicht ersichtlich, ob sie zu der Anlage gehörten oder ob es sich um Nachbargebäude handelte. Jenny schritt auf das Haupthaus zu, das man betont modern angelegt hatte. Die gesamte Konstruktion bestand aus Glas und Beton, beim Dach schien der Architekt seine künstlerische Freiheit besonders kompromisslos ausgelebt zu haben: Es wirkte wie verkehrt herum aufgesetzt und glich so einem offenen Buch, das auf dem Haus lag. Nicht jedermanns Geschmack, dachte Jenny, aber ihr musste es ja auch nicht gefallen. Sie senkte den Blick, stieß die Eingangstür auf und betrat ein helles Vestibül, belebt von einer großzügigen Couchlandschaft. „Ich hole Sie um vier Uhr in der Wartezone ab“, hatte er am Telefon gesagt.

„Wie erkenne ich Sie?“

„Keine Sorge, ich werde Sie erkennen, so viel ist dort unten nicht los.“

„Wie ist Ihr Name?“, hatte Jenny gefragt.

„Lennert. Nennen Sie mich einfach Lennert.“

Er hatte sich sympathisch angehört, irgendwie offen. Sie wusste nicht, warum, aber als sie die Nummer gewählt hatte, die ihr die brünette Kellnerin gegeben hatte, war sie von mehr Widerstand ausgegangen. Die Polizei war nicht überall willkommen. Vielleicht hatte es aber auch an dem schwierigen Gespräch im „Alten Hasen“ gelegen, dass sie nichts Gutes erwartet hatte. Auf jeden Fall war sie überrascht gewesen, dass sie sofort kommen konnte und nicht abgeblockt wurde. „Seien Sie jederzeit unser Gast“, hatte Lennert gesagt, „die Herrschaften freuen sich über jedes Gespräch. Die meisten zumindest.“

Sie sah auf die Uhr: Fünf Minuten vor Vier. Sie konnte nicht behaupten, dass sie sich wohlfühlte. Trotz der warmen Farben, mit denen man die Inneneinrichtung gestaltet hatte, kam sie sich vor wie in einem Krankenhaus. Vielleicht lag es an diesem eigentümlichen Geruch, den die Wände verströmten: Desinfektionsmittel und die Dämpfe warmen Gummis, die man sonst nur von Turnhallen kannte. Sie schritt um die braunen Ledersessel herum, die auf einem hellgrünen Teppich lagen wie große, schlafende Tiere auf einer Weide. Wie beim Arzt stapelten sich überall zerfledderte „Lesezirkel“-Ausgaben. Sie überlegte, ob sie sich bei dem Automaten, der neben der Anmeldung stand, einen Kaffee ziehen sollte, doch verwarf sie den Gedanken. Lennart musste ja jeden Augenblick eintreffen. Sie sendete der Frau hinter dem Schalter ein Lächeln, doch die interessierte sich nicht für sie, sondern hielt den Kopf gesenkt und schrieb irgendetwas in ein Heftchen.

Jenny betrachtete die großen gerahmten Fotografien an der Wand. Sie zeigten jeweils eine alte, pflegebedürftige Person und eine jüngere. Darüber war der Schriftzug des Altersheims eingelassen. Es wurde viel gelacht auf den Bildern, alt zu werden schien eine lustige Angelegenheit zu sein im „Aegidienhof“. Eine ältere Dame saß im Rollstuhl, wurde von hinten von einer jungen Frau umarmt. Beide hoben die Daumen und lächelten freudestrahlend in die Kamera. Eine Frau mit roten, kurzen Haaren und einem weißen Kittel schob einer Alten mit Lätzchen einen Löffel in den Mund, beide grinsten den Betrachter an. Eine Pflegerin reichte einem Herrn, dessen Beine in Arthrosestrümpfen steckten, eine blaue Tasse – beide lachten sich fast tot. Jenny wusste nicht, was sich in der Tasse befand, aber wenn es so gute Laune machte, wollte sie unbedingt auch so einen Drink.

Jenny grinste und verbot es sich im selben Moment wieder. Über Alter und Tod machte man keine Scherze. Immerhin war sie noch nicht so weit, dass sie Witze riss, wenn sie eine Leiche am Tatort inspizierte, so wie Plossila und Isenbarth. Sie wusste gar nicht, was sie darüber denken sollte ...

„Frau Biber?“

„Ja“, sagte sie mechanisch und ließ sich aus ihrem Gedankengang reißen. Sie drehte sich auf den Fußballen um und blickte in das milchige Gesicht eines Hünen mit strubbeligem blondem Haar.

„Lennart, wir hatten telefoniert.“

„Natürlich, danke. Ja!“, sie gab ihm die Hand und blickte automatisch auf das kleine Schildchen an seiner Brust, um seinen Nachnamen zu erfahren. Doch da stand auch nur „Lennart“.

„Die Herren freuen sich schon auf sie. Wollen wir?“

Sie gingen über einen blitzblanken Linoleumfußboden, bis der Gang sich zu einer viereckigen Fläche öffnete, und stiegen dort zu zwei Schwestern in einen Aufzug. Die beiden Frauen trugen Pferdeschwänze und unterhielten sich in einer osteuropäischen Sprache, Jenny tippte auf Polnisch. Im ersten Stock hielt der Aufzug und eine weitere Dame mit Pferdeschwanz schob ein leeres Stationsbett hinein. Sie mussten sich alle an die Wände pressen, damit sie gemeinsam Platz hatten. Schließlich sprang die rote Digital-Anzeige auf „3“ und die bezopften Damen, Lennart und Jenny stiegen aus.

Er führte sie in einen Seitenflügel und stieß an dessen Ende eine Schwingtür mit zwei Bullaugen auf. Ein eigenartiger Kaffeegeruch empfing sie, den sie sonst nur von den Jugendherbergen ihrer Schulzeit kannte. Besteck klapperte, Teller und Tassen tickten aneinander. In unregelmäßigen Abständen vernahm sie den kurzen, kehligen Schrei einer Frau, gefolgt von tiefem Gurgeln, das aus einer verschleimten Kehle stammen musste. Ansonsten war es relativ still in dem Saal, der gleichwohl gut gefüllt war. Die Alten saßen an großen, runden Tischen bei Kaffee und Kuchen. Alle hatten ein gelbes oder blaues Platzdeckchen vor sich und entweder ein Stück Aprikosenschnitte oder Zwetschgendatschi. Das Alter schien sich ganz unterschiedlich auszuwirken: Die einen mussten gefüttert werden, andere machten sich vollkommen selbstständig über ihren Kuchen her.

Lennart führte sie an einen Tisch mit drei Herren (zweimal Aprikose, einmal Zwetschge), die weder eine Pflegerin zum Essen benötigten noch ein Lätzchen umgelegt hatten. Jenny wunderte sich, dass in der Mitte des Tisches ein Weihnachtsstern auf einer mit grünen Teddybären versehenen Papierservierte stand. Das machte zu dieser Jahreszeit nicht wirklich Sinn, außerdem hatte sie immer gedacht, Weihnachtssterne gediehen nur im Winter, aber das war sicherlich Nonsens oder Marketing.

Lennart stellte die drei Herren reihum vor, während Jenny ihre Gesprächspartner musterte: Heribert Weidinger hatte volles graues Haar, ein sonnengebräuntes Gesicht und die vollen, weißen Augenbrauen eines Weltumseglers. Obwohl es angenehm warm im Saal war, trug er eine dunkelblaue Bourbon-Daunenweste; mit langen, knochigen Fingern spielte er an ihrem Reißverschluss herum. Dietrich Schwitters war mit einer braunen Cordmütze bekleidet, die eine eigenartige Plüschbommel schmückte, und zwinkerte nervös hinter dicken, leicht getönten Brillengläsern. In seinem linken Nasenloch verschwand ein Schlauch, der seinen Anfang irgendwo hinter seinem Rollstuhl zu nehmen schien. Er trug eine hellbraune Strickjacke, darunter ein dunkelblaues Polohemd. Der Dritte im Bunde war Karl Donhauser, dessen ovaler Kopf von einem grauen, aber gut frisierten Haarkranz umgeben war. Eine Narbe über der Nasenwurzel ging direkt in eine lange Denkerfalte über, die sich erst in der Mitte der Stirn in einem Delta weiterer Falten und gesprenkelter Altersflecken auflöste. Er stützte sich auf einen schwarzen Stock und war mit hundert Jahren der zweitälteste Bewohner der Anlage. Nur eine Dame, die es vorzog, ihren Kaffee alleine einzunehmen, war mit Einhundertundfünf noch weiter in der Zeit fortgeschritten, erfuhr Jenny. „Darf ich Ihnen noch etwas bringen? Einen Kaffee? Tee?“, fragte Lennart abschließend.

„Kaffee wäre gut, danke“, sagte Jenny und setzte sich. Sie blickte in die erwartungsfrohen Gesichter der Alten und wusste nicht so recht, wie sie beginnen sollte, denn sie hatte keine Erfahrung mit Menschen, die älter waren als ihre Oma. Und die war Dreiundsiebzig und backte nach wie vor den besten Apfelkuchen Oberbayerns.

„Sie sind also Polizistin, habe ich gehört“, eröffnete der Älteste in der Runde die Konversation. Er legte den Kopf leicht in die Schräge und sprach sie so von unten nach oben an: „Da ist es für Sie vielleicht interessant zu wissen, dass ich selbst bei der Kriminalpolizei tätig war, zuletzt als Hauptkommissar im Morddezernat.“

Jenny machte unwillkürlich einen Freudenhopser auf dem Sitzkissen ihres Stuhls. „Ach, tatsächlich, das ist ja interessant!“ Sie hatte sofort das Gefühl, sie müsse Donhauser Tausende von Fragen stellen, sicherlich hatte er diesen Beruf noch ganz anders erlebt als sie. Doch sie besann sich: Es ging um die Aufklärung eines Mordfalls und sie war nicht aus persönlichen Motiven hier.

Der Cordmützenträger ließ seine Gabel hochschnellen, die von zwei zittrigen, bläulichen Fingern gehalten wurde. „Und das interessiert Sie noch mehr, vielleicht. Oder wahrscheinlich, das weiß ich nicht: Ich war Richter, vierzig Jahre, am Oberlandesgericht. Den Donhauser kenne ich seit ... seit vierzig, fünfzig ..., seit einem halben Jahrhundert kenne ich ihn. Aus dem Zeugenstand, nicht wahr? Nichts Persönliches damals, kaum ein persönliches Wort. Das ging nicht, natürlich nicht. Das wäre nicht, wie sagt man? Nicht angemessen gewesen, nicht wahr? Aber man kannte sich. Man schätzte sich. Also ich schätzte ihn und er auch mich, wie er später sagte. Zähneknirschend, aber ja, das sagte er. Jetzt arbeiten wir die Fälle von damals noch mal auf, nicht wahr? Nur für uns. An was wir uns noch erinnern jedenfalls, es verblasst ja so viel mit den Jahren. Vergangenes ist vergangen, das ist nun mal der Lauf der Dinge, errrrrrr.“ Während des gesamten Monologs hatte er die Gabel zitternd in der Luft gehalten und durch seine Brille starr und geradeaus an Jenny vorbeigeschaut. Die Worte kamen wie die Salven eines automatischen Gewehres aus ihm herausgeschossen. Erst als er verstummte, legte er Hand und Gabel wieder auf seinen Teller.

Donhauser raunte von unten: „Wir sind beide Akademiker und das Denken hält jung, auch im Alter noch, gerade dann. Nur Weidinger hier hat keine Hochschule von innen gesehen, der hat lieber seine Geschäfte gemacht, stimmt es nicht, Heribert?“

Der Weißhaarige hatte sich gerade ein Stück Aprikosenschnitte in den Mund geschoben und schien das Gebäck wie ein Bonbon mit der Zunge hin und her zu schieben. Jetzt spitzte er die Lippen, zog die buschigen Brauen hoch und machte: „Mmmm“.

Im Hintergrund schrie die Frau von vorhin wieder auf und Jenny zuckte leicht zusammen. Das anschließende Gurgeln beruhigte sie. Jenny lächelte und zeigte sich interessiert. „Ja? Was hatten Sie denn für ein Geschäft, Herr Weidinger?“

Weidinger lehnte sich zurück, blickte sich über die Schulter, zeigte das Profil seines Gesichts. Die Augenbrauen ragten spitz wie kleine Hörner in das fahle Gegenlicht, das durch die Fenster in den Raum drang. Dann wandte er sich Jenny wieder zu und legte mit zwei sonnengebräunten Händen schwerfällig eine unsichtbare Melone auf den Tisch. „Ho – Ho... Ho – Ho...“

„Weidinger war Hotelier“, raunte Donhauser. „Später hatte er auch noch mehrere Cafés in der Gegend. Man kannte ihn und er kannte jeden. Für einen Kommissar ein wichtiger Kontakt, wenn es darum geht, Informationen zu gewinnen. Sie wissen, was ich meine.“

Jenny nickte, wollte etwas sagen, doch die Gabel schoss wieder in die Luft.

„Das ist es ja, warum wir immer da sind, im Alten Hasen. Das sag ich ja. Da ist der Schuld, der Weidinger. Da besteht der drauf. Der Alte Hase, das ist ja das, was ihm noch geblieben ist, nicht wahr? Und jetzt will er nur dahin, also nirgendwo anders, als ob ihm das noch etwas einbrächte. Hat doch sein Geld gemacht, der Weidinger. Wenn einer von uns, dann der. Seine Familie zumal, damals schon, als noch jedes Jahr Tausende kamen. Die Weidingers haben sie nicht gestört, die Braunen, im Gegenteil. Den Donhauser ja, das ist ein Linker. Sozialdemokrat. Aber der Weidinger nicht, nicht der. Der hat das Geschäft seines Lebens gemacht, errrrrrrr.“

Die Gabel senkte sich. Doch diesmal wollte Jenny mehr wissen: Welche Braunen meinte Schwitters? War der „Alte Hase“ ein Nazitreffpunkt? War das der Hintergrund, vor dem Middleman ermordet wurde?

„Das heißt, dass regelmäßig Menschen mit ... rechtem Gedankengut im Alten Hasen verkehren?“

Die Gabel zuckte nach oben, zeichnete eine S-Kurve in die Luft und blieb dann auf Augenhöhe stehen, zitternd. „Heute? Nein, der Weidinger hat das ja verpachtet. Damals ja: Das Land, das Haus, das Hotel, die Gastwirtschaft, gehörte alles ihm und der Familie. Und damals waren wir ja Zentrum hier, nicht wahr? Landsberg am Lech – das kannte jeder, alle wollten hierher zu uns. Geschichte schnuppern. Once in a lifetime, so sagt er doch, der Amerikaner, nicht wahr? Heute sind wir ja nur noch ein Vorort Münchens.“

Etwas berührte Jennys Schulter und sie zuckte leicht zusammen. „Tschuldigung“, sagte Lennart und stellte ihr eine Tasse Jugendherbergskaffee vor die Nase. Sie war ganz verwirrt durch die plötzlichen Bilder, die der Duft provozierte, wie flackernde Irrlichter leuchteten sie durch den Keller ihrer Seele.

Sie blickte wieder in die Gesichter der Greise und fragte: „Damals?“

Die Gabel schien schwerer und schwerer zu werden, doch Schwitters gab nicht klein bei. Zwar wanderte sie jetzt auf und ab, doch blieb sie im Wesentlichen dort, wo sie war: In Augenhöhe über dem mit Krümeln übersäten Teller schwebend. „Na, das wissen Sie doch wohl, nicht wahr, errrrrrr, dass der Führer hier damals in Festungshaft gesessen hat. Zweihundertvierundsechzig Tage immerhin und die nutzte er. Die nutzte er, um sein Buch zu schreiben, Mein Kampf, errrrr, nicht wahr? Die Dritte Stadt wurden wir hier. Nach der Machtergreifung, Sie wissen ja, nach München und Nürnberg, Nummer Drei. München Eins, Nürnberg Zwei, Landsberg Drei, weltweit versteht sich, darum ging es ja. Und wir waren Drei. Das ist wie Bronze bei einer Olympiade. Deshalb kamen sie ja auch, Hundertschaften und mehr. Hundert Hundertschaften, nicht wahr? Kamen hierher, wollten sehen, wo ER gelebt hatte und gewirkt hatte, bei uns hier, die Festung. JVA, damals Festung. Heute fragt einer: Woher kommst du? Landsberg sagt man. Schulterzucken. Damals sagte man Landsberg und wurde umarmt. Landsberg und man wurde innig in den Arm genommen. Das ist doch schön, oder? In den Arm genommen werden? Was versteht Ihr denn daran nicht? So schlecht war das nicht, so schlecht nicht, nicht wahr?“

Im Hintergrund fiel irgendwo ein Teller auf den Boden, die Frau schrie, das Gurgeln blieb aus.

Donhauser rieb sich mit seinem Daumen über die Narbe, sein Gesicht verschwand hinter einer großen Hand, über die sich weiße Härchen gelegt hatten. Er blickte Schwitters ernst an. „Dietrich, ich dachte, das Thema wollten wir ruhen lassen, wir haben hier doch eine Verabredung. Und das interessiert doch auch die Kommissarin nicht.“

Schwitters schunkelte noch im Takt seiner Wortgewehrsalven, die Bommel seiner Mütze wankte leicht. Er schaute nach wie vor starr, fast hypnotisch an Jenny vorbei in Richtung Tür, sagte aber nichts mehr.

„Un – hun – Un – hunsere Ver – Ver – abred-hng-hng“, warf Weidinger ein und stibitzte dann wieder die unsichtbare Melone vom Tisch.

Donhauser blickte zwischen den Fingern seiner Hand in Jennys Richtung, Schwitters Ausführungen schienen ihm körperliche Schmerzen zu bereiten. „Sie sind doch ganz sicher gekommen, weil Sie von uns Hilfe bei der Aufklärung eines Falls erhoffen. Wollen Sie uns sagen, um was es geht?“

„Jaja ... ich – es geht tatsächlich um ihren Skatabend im Alten Hasen. Sie waren gestern dort, wenn ich richtig informiert bin ...“

„Jedenmontagimmervonfünfbisneun“, platzte es aus Weidinger heraus.

Jenny schluckte. „Ja, ich weiß, das sagte der Wirt. Ich müsste wissen, ob Ihnen irgendetwas aufgefallen ist. Also, waren zum Beispiel andere Leute dort als sonst?“

„Es ist montags eigentlich immer sehr leer im Alten Hasen, sehr zum Missfallen Heriberts. Denn auch wenn er Hotel und Gaststätte nicht mehr betreibt, er ist sehr wohl daran interessiert, dass sein Pächter auf einen guten Umsatz kommt. Aber ... Vielleicht geben Sie uns noch einen weiteren Anhaltspunkt, auf was Sie konkret hinaus wollen?“

„Es gibt derzeit einen englischen Gast, Kenneth Middleman, haben Sie ihn einmal kennengelernt?“

Donhauser massierte erneut seine Narbe. „Kenneth Middleman sagen Sie, der Name kommt mir irgendwie ...“

Die Gabel sprang in die Luft, ein Stück Zwetschgendatschi flog im hohen Bogen über den Tisch und klatschte auf ein Blatt des Weihnachtssterns, auf dem es trotz seines Gewichts einfach liegen blieb. Plastik, der Weihnachtsstern ist aus Plastik, wurde Jenny klar. Schwitters sagte: „Der Dunkelhaarige, nicht wahr? Jawohl, sprach Englisch, kann ich bestätigen. Letzten Montag, also gestern? Nein. Nein, da war er nicht in der Stube, war nicht unten, nichts von ihm. Aber vor einer Woche, ja, da saß er da, mit zwei Glatzen, nicht wahr, so sagen Sie doch heute, Glatzen, wenn sie Neonazis meinen? Zwei Glatzen und ein Anzugträger. Errrrrrr.“

„Ja“, fiel Donhauser ein, „ich erinnere mich auch an die kleine Gruppe. Früher hätte ich Gestalten wie diese namentlich gekannt, aber heute bin ich zu weit weg, bedauerlich in diesem Fall. Was hat er vor, Ihr Herr Middleman?“

Das wüsste ich gerne, dachte Jenny. Sie strich sich eine Haarsträhne über das Ohr und betrachtete noch einmal das Datschistück auf der künstlichen Pflanze. Sie wollte keinesfalls zu viele Informationen preisgeben. Nicht, dass sie glaubte, die alten Herren könnten ihr bei der Aufklärung im Wege stehen. Doch galt der Grundsatz: Nur so viele Ermittlungsdetails wie möglich gegenüber Zeugen. Daran würde sie sich halten.

„Könnten Sie die Gesprächspartner beschreiben?“

Donhauser strich mit seiner Hand einmal über Gesicht und Glatze, als sei sie ein Handtuch, mit dem er sich abwische, dann legte er den Daumen unter das Kinn, den Zeigefinger an die Wange. „Sehen diese Nazis nicht immer gleich aus? Es geht doch immer um Uniformität. Das war schon damals so, in der Masse aufgehen ... Nun gut, Militärstiefel trugen sie und grüne Bomberjacken, wenn ich mich recht erinnere. Der eine war deutlich übergewichtig, der andere war eher drahtig und muskulös und er trug einen zotteligen Backenbart. Beide waren nicht größer als eins siebzig würde ich sagen. Ihr Middleman hat sie deutlich überragt, der dürfte über eins achtzig groß sein, aber korrigieren Sie mich, wenn ich falsch liege. Den Anzugträger kann ich nur schwer beschreiben, er saß mit dem Rücken zu mir, aber er schien die zentrale Person zu sein, Middleman sprach im Grunde nur mit ihm. Er hatte eine eigenartige Frisur, eine Föhntolle, früher hätte man vielleicht eine Elvistolle gesagt. Aber keine Pomade, die Haare einfach stark zurückgekämmt und irgendwie wirkten sie leicht ... verfilzt.“

Es gab einen Rums. Jenny wandte den Kopf nach rechts, blickte auf Weidingers zuckenden Hände auf dem Tisch. Der drehte den Kopf, spitzte die Lippen, als ob er ein Liedchen pfeifen wollte. Dann, plötzlich, schoss der Kopf nach vorn. Er riss die rot unterlaufenen Augen auf, blickte sie an. „To – To – Kpf! Kpf!“

„Totenkopf!“, platzte es aus Jenny heraus.

„Totenkopf am Ha – Ha – ...“

„Hals!“

„Mmmm“.

„Einer hatte eine Totenkopftätowierung am Hals! Der Dicke!“

Weidinger schüttelte den Kopf.

„Der Drahtige!“

„Mmmm“.

Nach dem Gespräch brachte Lennart sie wieder zum Ausgang zurück. Er war erstaunlich schnell wieder da gewesen. Sie hatte vermutet, er hätte anderes zu tun, als darauf zu warten, sie wieder hinauszubegleiten. Doch ein strenger Blick Donhausers über ihren Kopf hinweg hatte genügt, und schon hatte er neben ihr gestanden. Dennoch sagte sie, als die beiden den Aufzug wieder im Erdgeschoss verlassen hatten: „Ganz schön stressig Ihre Arbeit, kann ich mir vorstellen.“

Er lächelte milchgesichtig. „Ach, man bekommt auch viel zurück von den Alten. Und die drei machen wirklich Spaß, eben weil sie auch noch eine Menge machen können und sich nicht nur in der Anlage vergraben.“

Die Sonne stand jetzt tief und schickte ihre Strahlen unerbittlich durch die Glasfassade, auf die sie zumarschierten. Es war stickig und roch nach erhitzten Autoreifen. Immer wieder blitzte der kleine Glastisch im Vestibül auf, die Lesezirkelausgaben, die dort gelegen hatten, waren verschwunden.

„Aber dass die drei noch ein, naja, anspruchsvolles Spiel wie Skat spielen können. Ich meine, ich will nicht herabwürdigend sein, aber sie sind … Greise.“

Lennart lächelte und pustete sich eine lange Locke aus der Stirn. „Das denken Sie wegen Heribert Weidinger. Er macht auf viele einen senilen Eindruck, aber das stimmt nicht. Er hat immer gestottert, schon in jungen Jahren, die anderen kennen ihn nicht anders. Nur wurde es mit dem Alter immer schlimmer. Hinter der Fassade steckt aber ein kluger Kopf, ich spiele sogar manchmal Schach mit ihm.“

„Und hat er schon mal gewonnen?“

„Er gewinnt immer.“

Das Erste, was sie morgens wahrnahm, war dieser neue Geruch, er erinnerte sie an den Wald nach dem Regen, nasses Holz, leicht harzig vielleicht. Es roch nicht unangenehm, doch mischte sich der Geruch frischer Farbe darunter, auch Lack konnte es sein, sie wusste es nicht genau. Sie erinnerte sich, dass ihr der Duft bereits gestern Abend aufgefallen war, doch war sie zu müde gewesen, um zu ergründen, woher er kam.

Jenny rappelte sich hoch, sie war schon vor dem Klingeln des Weckers aufgewacht, was eigentlich gar nicht ihre Art war. Normalerweise drückte sie mindestens dreimal auf „Schlummern“ und zog sich im Kampf gegen das Licht das Kopfkissen über den Kopf. Wahrscheinlich lag es an ihrem neuen Fall, machte sie sich klar. Sie hatte sogar davon geträumt: Middleman war nicht erdolcht, sondern mit einer überdimensionierten Gabel umgebracht worden, an der noch die Überreste von Zwetschgen und Mürbeteig klebten. Gut, es war wahrscheinlich keiner dieser Träume, die irgendein geheimes Zeichen erhielten, keine mysteriöse Macht wollte ihr mitteilen, dass der Datschiebäcker der Mörder war. Aber der Traum zeigte, dass der neue Fall sie elektrisierte: ihr erster Mord als Oberwachtmeisterin!

Mit zwei Fingern strich sie sich den Schlaf aus den Augen und setzte sich an die Bettkante. Das aprikosenfarbene Licht des Morgens sickerte durch die grauen Plastiklamellen des Rollos ins Zimmer, erhellte die blaue IKEA-Kommode, den Schminktisch, den Raumteiler, den sie jetzt als Regal nutzte und das alte Holzbett, das sie schon hier vorgefunden hatte, als sie vor einem Monat eingezogen war. Es war eine ganz schöne Umstellung gewesen, immerhin hatte sie mit ihrem Ex-Freund Tobias auf hundertzwanzig Quadratmetern gewohnt. Jetzt lebte sie in einer Dreier-Wohngemeinschaft und hatte das kleinste – weil billigste – Zimmer bezogen. Silvani bewohnte, obwohl Studentin, den größten Raum. Das Zimmer des Neuen, den sie immer noch nicht kannte, musste auch rund dreißig Quadratmeter messen.

„Du kannst auch das größere Zimmer haben“, hatte Silvani ihr angeboten, die schon seit zwei Jahren in der Wohnung lebte, immer mit anderen Mitbewohnern. Doch Jenny hatte abgelehnt. Ihr Gehalt war nicht gerade fürstlich und sie wollte davon möglichst wenig für ihre Unterkunft opfern, schließlich war sie ohnehin kaum zu Hause.

Sie stand auf und trottete im Nachthemd ins Bad. Dort warf sie sich zwei Hände Wasser ins Gesicht, tastete nach ihrem Handtuch und trocknete sich ab. Erst als sie es wieder über den Handtuchhalter hängte, bemerkte sie, dass es gar nicht ihres war. Ihr Handtuch war im schönsten Mädchenrosa gehalten, sie hatte es noch aus ihrer Kindheit. Das Handtuch, das sie gerade zurückgehängt hatte, war beige und am rechten unteren Rand waren rote Initialen eingestickt: A.C. Sie drehte sich um, erblickte ihr Handtuch an einem der Haken hinter der Tür.

Das ist jetzt nicht dein Ernst, A.C, das ist doch jetzt wohl nicht dein Ernst?! Sie riss das beige Handtuch vom Handtuchhalter und marschierte mit wummernden Schritten zur Tür. Dort nahm sie ihr Handtuch vom Haken und hängte stattdessen das beige darauf. Zurück am Waschbecken platzierte sie ihr Handtuch über ihrem angestammten Handtuchhalter.

Sie blickte kopfschüttelnd auf den Spiegelschrank, noch immer lag eine senkrechte Zornesfalte auf ihrer Stirn. Ihre Haare sahen fettig aus und standen ihr an einer Seite des Kopfes ab wie indianischer Federschmuck. Ein feiner Streifen eingetrockneter Wimperntusche hatte sich auf ihre linke Wange gelegt, direkt über das große Muttermal, welches manche Männer immerhin dazu veranlasst hatte, sie mit Cindy Crawford zu vergleichen. Sie feuchtete ihr Handtuch an und rieb sich damit über den Fleck im Gesicht. Unzufrieden blickte sie danach auf die leicht aufgerubbelte Stelle. Mit Zeige- und Ringfinger presste sie gegen ihre leicht speckige Backe.

Cindy Crawford sollte vielleicht etwas weniger Süßigkeiten essen, dachte sie deprimiert und riss die rechte Tür des Spiegelschränkchens auf. Sie wollte nach ihrer Zahnbürste greifen, doch stand dort, wo sich bisher ihr Zahnputzbecher befunden hatte, jetzt ein Fläschchen Aftershave. Und dort, wo sich normalerweise ihre Handcreme befand, ragte ein milchiger Deo-Stick, „sensitive for men“ in die Höhe. Ihre Tageskontaktlinsen waren ebenfalls aus dem Seitenfach verschwunden. Stattdessen fand sie dort eine ganze Batterie von „Interdentalbürstchen“, daneben schlängelte sich ein Zahnseidefaden aus einem runden Plastikdöschen.

Eine Welle des Zorns ergriff sie. Was bildete sich dieser Zahnseidenschnösel ein, einfach ihre Ablageflächen zu belegen? Wütend griff sie in den Schrank, riss die Tuben und Fläschchen, die sich im untersten Fach befanden, aus diesem heraus und ließ sie unter lautem Klirren ins Waschbecken fallen. Das Gleiche würde sie mit dem zweiten Fach machen, durchfuhr es sie. Jenny griff nach dem erstbesten Gegenstand, um ihn zu den anderen ins Waschbecken zu werfen. Erst als die Pappschachtel auf dem anderen Zeug ihres neuen Mitbewohners landete, stutzte sie: Es war ein Päckchen Kondome.

Sie wandte sich angewidert ab, musste dann aber doch erneut hinschauen. Sie nahm die Packung in die Hand. „Mit Waldfruchtaroma und Reiznoppen“, las sie laut vor. Dann stockte sie für einen Atemzug, bevor sie fortfuhr: „Kondome XXL“.

Das konnte doch wohl nicht wahr sein! Kondome X... Was für ein Macho war bitte sehr bei ihnen eingezogen? Kondome XXL. So was legt man vielleicht in die Schublade ins Nachtischschränkchen, aber bestimmt nicht in das Badezimmerfach seiner neuen Mitbewohnerinnen. Sie schüttelte den Kopf. Kondome XXL.

Sie ließ die Schachtel auf die anderen Utensilien im Waschbecken fallen und entschied, dass sie erst einmal einen Kaffee brauchte. Kopfschüttelnd trat sie in den Flur, zog dort die Zeitung aus dem Briefkastenschlitz und trottete damit in die Küche, noch immer ganz benebelt von den Ereignissen im Bad. Sie legte die Zeitung auf den Küchentisch und nahm plötzlich wieder den Geruch von vorhin wahr. Es duftete ganz leicht nach verregnetem Wald. An irgendetwas erinnerte sie dieser Gedanke jetzt, irgendeine Assoziation hielt er für sie bereit, sie wusste nur noch nicht, welche. Sie trottete hinüber zum Wandschrank, der seitlich über der Spüle hing, zog dort einen Filter aus einer Pappschachtel und griff nach der Dose mit dem Kaffee. Anschließend ging sie in Richtung des IKEA-Sideboards, auf dem die Kaffeemaschine stand. Sie streckte schon die Hand danach aus, als sie bemerkte, dass das Sideboard gar nicht mehr da war. Stattdessen stand dort jetzt eine zwei Meter hohe, weiß lackierte Weichholzanrichte. Sie drehte sich auf dem Ballen ihres nackten Fußes einmal um die eigene Achse. Doch das Sideboard war nirgends zu sehen.

Weg, mein IKEA-Regal ist weg! Und statt ihrer Filterkaffeemaschine stand da jetzt ein verfluchter Nespresso-Automat.

Das war zu viel. Ganz einfach zu viel. Sie schmetterte die Kaffeedose auf die Anrichte und den Filter direkt daneben. Jenny war entschlossen. Sie würde jetzt die Tür ihres neuen Mitbewohners aufreißen und ihm ordentlich die Meinung geigen. Wenn man zu einer neuen Gruppe von Menschen hinzustieß, musste man erst einmal nach ihren Regeln leben! Keinesfalls änderte man alles an einem Tag! Und schon gar nicht ohne Rücksprache mit den anderen. Zudem legte man seine verdammten Kondome den anderen nicht vor die Nase. Und sein XXL-Ding konnte er sich sonst wo hinstecken!

Das Wummern ihrer Fersen donnerte durch die Küche. Sie ergriff die Klinke, wollte aus der Küche hinaus in den Flur stürmen. In diesem Moment fiel ihr Blick auf die Zeitung, die sich nach wie vor auf dem Tisch befand. Sie drückte die Klinke herunter, riss die Tür auf. Erst dann erreichte die Bedeutung der Schlagzeile ihr Bewusstsein. Sie blickte sich erneut um. „Brutaler Nazimord in Landsberg am Lech“ – die reißerische Headline des Aufmachers brannte sich auf ihre Netzhaut.

Sie ließ die Klinke wieder los, warf die Tür ins Schloss. Mit einem Mal war die ganze Wut wie verpufft. Wie betäubt sackte sie auf den Küchenstuhl. Sie schlug die Zeitung auf und las:

Brutaler Nazimord in Landsberg am Lech

Landsberg am Lech. Es ist ein Bild des Grauens: Mit starrem Blick zur Decke liegt der leblose Körper auf dem Boden eines Landsberger Autohauses. In seiner Brust: der Ehrendolch eines SS-Offiziers. Das zumindest behaupten Augenzeugen. „Die Identität des Mordopfers ist noch nicht geklärt“, sagte Hauptkommissar Heiko Plossila gestern am Tatort. Aus sicheren Quellen erfuhr der Landsberger Bote allerdings, dass es sich um den Briten Kenneth Middleman handelt.

Der Londoner ist kein Unbekannter für Scotland Yard: Er galt lange Zeit als einer der Köpfe der rechtsextremen British National Party. Die BNP ist für ihre rigide Politik gegenüber Ausländern bekannt, will Mischehen verbieten und den Anteil weißer Bevölkerungsschichten steigern. Als Hardliner trat Middleman in der Partei für ein Verbot von Homosexualität ein sowie für eine harte Gangart gegenüber Einwanderern. Die Strategie, Ausländern die Rückkehr in ihre Heimat durch finanzielle Anreize schmackhaft zu machen, lehnte er ab. Stattdessen sollten Ausländer schlichtweg abgeschoben werden, unabhängig von ihrem Rechtsstatus in Großbritannien.

Middleman werden zudem Kontakte zur radikalen Splittergruppe Combat 18 nachgesagt. Die Ziffer 18 im Namen steht für die Buchstaben „A“ und „H“ im Alphabet – die Initialen Adolf Hitlers. Combat 18 wurde 1992 gegründet, schon im gleichen Jahr wurde sie als Saalschutz für eine Veranstaltung der BNP eingesetzt. Redner an diesem Abend war der bekannte Holocaust-Leugner David Irving. Auf das Konto von Combat 18 gehen weltweit Morde an Ausländern, Schwarzen und Homosexuellen. Die Gruppe arbeitet ohne eindeutige Führungsstrukturen, jeder, der sich berufen fühlt, kann in ihrem Namen morden.

Als es 1999 in London zu einer Reihe von Anschlägen in einer Gegend kam, die überwiegend von Asiaten und Schwarzen bewohnt wird, nahm die Polizei auch Middleman vorübergehend fest. Ein Zusammenhang mit den Anschlägen, bei denen mehrere Menschen starben, konnte Middleman aber nicht nachgewiesen werden.

In den vergangenen Jahren ist es ruhig um den 53-Jährigen geworden. Das letzte Mal fiel er medienwirksam vor drei Jahren auf: Er versuchte, einen Perserteppich, der angeblich aus Hitlers Münchner Privatwohnung stammte, aus Deutschland zu schmuggeln. Doch wurde Middleman vom Zoll gestoppt, der Teppich wurde beschlagnahmt. Da sich Zeitzeugen allerdings nicht erinnern konnten, den Teppich jemals in Hitlers ehemaliger Wohnung am Münchner Prinzregentenplatz 16 gesehen zu haben, durfte Middleman den Teppich schließlich behalten.

Was Middleman nach Landsberg am Lech geführt hat, ist noch ungeklärt. Da er allerdings durch einen SS-Dolch getötet wurde, ist ein rechtsradikaler Hintergrund der Tat mehr als wahrscheinlich. Sebastian Lutz

Der Text war nicht schlecht recherchiert, das musste Jenny zugeben. Der Reporter hatte innerhalb eines Tages mehr über Middleman herausgefunden als sie. Und sie wusste somit schon einmal, was es mit diesem ominösen C18 auf sich hatte. Diese Vereinigung machte Angst, nicht auszudenken, wenn Anhänger dieser Gruppierung Oberbayern unsicher machen würden. Ein kalter Schauder jagte ihr den Rücken herunter, als sie an die Opfer der NSU-Attentate denken musste. Auch in Bayern hatten diese Irren zahlreiche Unschuldige umgebracht. Da war es ihr in der Tat lieber, die Rechten metzelten sich gegenseitig nieder.

Ein dunkles „Guten Morgen“ riss sie aus den Gedanken.

Sie zuckte zusammen, blickte auf. In der Tür stand ein drahtiger Typ, etwa Mitte Dreißig mit braunem, seitlich in die Stirn gelegtem Haar und einem gestutzten Vollbart. Er trug einen azurblauen Bademantel, auf dessen linke Brustseite die Initialen „A.C.“ gestickt waren. Er hielt ihr seine Hand entgegen, seine Augen funkelten wie geschliffener Bernstein. „Arno. Du musst Jenny sein! Schön, dich kennenzulernen.“

„Ich ja, das bin ich ... danke ...“, stotterte sie und stand auf. Sie spürte, wie sich seine langen, festen Finger um ihre Hand schlossen, entzog sie ihm aber direkt wieder, um sich den Gürtel des Bademantels fester zuzuziehen.

„Entschuldigung, aber wir haben dein IKEA-Regal in den Keller geräumt, um Platz für die Anrichte zu schaffen. Ich hoffe, es ist dir recht. Wenn nicht, können wir das natürlich wieder ändern. Aber ich wäre dir schon sehr dankbar, wenn du einverstanden wärst. Ganz ehrlich, ich weiß nicht, ob ich diese Fabrikware schon morgens ertragen kann.“

Jenny blickte auf das Möbelstück. Es bestand im Grunde aus einer Kommode, auf der ein Aufsatz stand. Offenbar war der Schrank nachträglich weiß lackiert worden, deutlich sah man das hellbraune Holz hindurch schimmern. Überall standen kleine Splitter ab, Macken übersäten das Furnier und die beiden Türknöpfe waren abgebrochen. Immerhin verbreitete die bauchige Emaille an den oberen Fächern des Möbels eine warme Atmosphäre und auf dem Oberteil der Anrichte prangte ein schöner geschwungener Aufsatz in der Form einer Muschel.

Sie trat einen Schritt näher und ließ ihren Blick über die kleinen, schwarzen Löcher gleiten, die der Holzwurm hinterlassen hatte. Wenn sie ehrlich war: Das Ding war für sie eher ein Kandidat für den Sperrmüll als ein gleichwertiger Ersatz ihres mehr oder weniger neuen IKEA-Sideboards.

Sie blickte zu Arno, der sich eine Hand unter das Kinn gelegt hatte und versonnen auf sein Möbelstück blickte. Offenbar sah er das vollkommen anders.

„Das ist Shabby Chic“, rief plötzlich eine Stimme aus dem Hintergrund.

Sie gehörte Silvani, die auf ihren halbhohen Knöchelspangensandaletten aus ihren Zimmer gestöckelt kam. Es war überraschend genug, dass die Studentin bereits vor acht Uhr morgens ihr Zimmer verließ. Dass sie dies aber bereits komplett geschminkt und frisiert tat, war kaum zu glauben.

„Guten Morgen, Arno, ich hoffe, du hast gut geschlafen. Es war ja deine erste Nacht hier bei uns, die ist ja immer von Bedeutung. So wie man die erste Nacht in der neuen Wohnung schläft, so schläft man auch während der kommenden Zeit, nicht wahr?“, sagte sie tussig und schob sich in die Küche. „Ihr habt euch schon bekannt gemacht?“

Jenny nickte, setzte sich wieder zu ihrer Zeitung und begann, den Artikel herauszureißen.

Silvani drehte sich wieder zur Anrichte. „Wunderschön, nicht wahr? Gründerzeit, wenn ich das richtig verstanden habe, Arno?“

„Ja, ich schätze um 1890 etwa. Ich habe das gute Stück bei einem Umzug in Köln auf einem Dachboden gefunden. Die Besitzer wollten es schon wegwerfen und haben es mir dankenswerterweise umsonst überlassen. Kaum zu glauben, oder? Ein Freund hat es dann leicht restauriert, da die Substanz nicht mehr so gut war, habe ich es dann selbst im Shabby-Look lackiert. Ist gelungen, denke ich.“

Silvani nickte und zog sich dabei einige Haarsträhnen ihrer roten, kurzen Mähne zurecht. Sie trug einen champagnerfarbenen Seidenbademantel, aus dem ein schwarzes Spitzenoberteil lugte. Ihre Fußnägel waren perfekt manikürt, ein neues Fußkettchen schmiegte sich um ihre enthaarten Fesseln. Jenny kannte sie vor dem Mittagessen eigentlich nur in Jogginghose, Wollsocken und Kapuzenpullover. Offenbar hatte Arnos Bernsteinblick seinen Einfluss hinterlassen. Silvani sagte: „Arno hat das ganze Zimmer voller Antiquitäten. Du musst dir das einfach einmal ansehen! Und kannst du das riechen? Arno sagt, die alten Hölzer reinigen die Luft.“ Sie fächelte sich mit frischlackierten Fingernägeln Luft zu. „Ein bisschen wie im Wald, findest du nicht?“

In diesem Moment fiel ihr ein, was sie schon eben mit dem Duft assoziierte hatte. Es war das Waldfruchtaroma von Arnos Kondomen XXL. Sie konnte in diesem Moment nichts dagegen tun, doch ihr Blick fiel wie automatisch in Arnos Schoß. Ein eigenartiger Faltenwurf ließ sie Grandioses erahnen. Der lange Gürtel, der bis hinunter zu den Kniescheiben schlackerte, trieb ihr einen kurzen Schauer über den Rücken. Sie wusste nicht – aus Wonne oder Schrecken.

Arno grinste und warf ihr einen funkelnden Blick zu.

Er hat doch nicht bemerkt, dass ich ihm zwischen die ... nein, nein, das kann nicht sein, das darf auf gar keinen Fall sein. Sie stand hektisch auf, sah für einen Wimpernschlag ihr zerwuscheltes Haar in der Emaille der Anrichte gespiegelt. Silvani steckte derweil eine Patrone in das Nespresso-Gerät, schob eine Tasse unter das Ventil. Sie drückte den Startknopf, ein Geräusch, das an eine Bohrmaschine erinnerte, erfüllte die Luft; die Emaille klapperte im Takt gegen den Holzrahmen. „Arno kommt aus Köln, wusstest du das? Schade, dass du beim Umzug nicht dabei sein konntest.“

„Das macht rein gar nichts“, fiel ihr Arno ins Wort. „War ja meine Schuld, dass es nicht vorgestern Abend schon geklappt hat. Aber ich habe plötzlich einen ersten Auftrag bekommen und der Kunde wollte schon am Vorabend mit mir sprechen. Damit habe ich gar nicht gerechnet, ich öffne ja erst nächste Woche.“

„Und jetzt rate, was Arno von Beruf ist, Schätzchen!“, rief Silvani und reichte ihm die Tasse Kaffee. „Schwarz, oder?“

Arno nickte und bedankte sich mit einem innigen Blick.

„Detektiv!“, platzte es aus Silvani heraus.

„Na so was“, war das Einzige, was Jenny sagen konnte. Sie war verwirrt durch diese zwei fremden Personen in ihrer Küche. Eigentlich hatte sie gedacht, Silvani zu kennen, aber so tussig hatte sie sie noch nie erlebt. Hatte sie sie tatsächlich eben „Schätzchen“ genannt? Nein, das konnte nicht sein, sie musste sich verhört haben. Aber vielleicht war es doch keine gute Idee gewesen, in eine Wohngemeinschaft zu ziehen. Fürs Erste beschloss Jenny, sich später mit Arno auseinanderzusetzen. Sie hatten noch ein Hühnchen zu rupfen, aber das musste warten. Sie schob sich an Arno und Silvani vorbei und wunderte sich, wie Silvani den neuen Duft des Waldes in ihrer Wohnung überhaupt wahrnehmen konnte, schließlich steckte sie selbst in einer undurchdringlichen Parfümwolke.

„Ihr entschuldigt mich, ich muss dringend auf‘s Revier. Ihr kommt sicher auch ohne mich zurecht.“

Das Eisenzimmer

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