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Das hatte Plossila noch gefehlt, am frühen Morgen und vor dem zweiten Kaffee in Mäuser hineinzulaufen. Der Kollege stand lässig im Türrahmen des Kopierraums und gab irgendeinem Praktikanten Anweisungen. Plossila mochte Mäuser, nur war er heute einfach nicht in der Verfassung zu einem Schlagabtausch, auch wenn er lustig gemeint war. Und damit musste man bei Mäuser immer rechnen. Also drückte er kurz entschlossen die Toilettentür auf und tauchte in die kühle, noch unverbrauchte und unangetastete Luft des Dienstklos ein. Er schloss die Tür hinter sich, lehnte sich daran, blieb für einige Atemzüge in der Dunkelheit stehen. Grabesatmosphäre, dachte Plossila. Wie in einer dunklen Gruft kam er sich vor, nur der leichte Geruch des Klosteins durchbrach die eigenartige Stimmung und das verdruckste Gurgeln, das offenbar von einer defekten Spülung herrührte.

Er tastete seitlich nach dem Schalter, das Licht sprang an. Die kühle, funktionale Welt einer Bürotoilette erschien. Plossila legte eine Hand ans Waschbecken, drückte sich von der Tür ab und schritt auf die Kabinen zu. Dann öffnete er eine der Klotüren, schloss ab und pinkelte im Stehen. Nur ein kleiner, dünner Strahl ergoss sich auf die weiße von Rost und Kalk beschmierte Keramik. Ein Rinnsal, das eine eigenartige Symptomatik für sein Leben abgab, wie Plossila bitter dachte.

Er betätigte die Spülung, öffnete die Tür und trat vor den Spiegel. Das Bild, das er sah, war wenig schmeichelhaft. Seine dunkelblonden Haare wirkten fettig, unter seinen Achseln hatten sich Schweißflecken gebildet, obwohl es noch gar nicht so heiß war an diesem Morgen. Seine Haut wirkte weiß und wie aufgedunsen, die Tränensäcke schwarz, die Augen glasig. Das grelle Licht der Neonröhre schmerzte ihn.

Vielleicht sollte ich die Therapie abbrechen? Oder ich probiere ein anderes Mittel aus? Wenn ich so weiter mache, wird es nicht lange dauern, bis die Kollegen etwas merken. Und das wollte Plossila auf keinen Fall. Er hatte ein Problem, das war klar, soweit war er jetzt, sich dies einzugestehen. Aber er würde es für sich behalten. Schwäche zu zeigen, wurde nie belohnt, bei der Polizei schon gar nicht, so viel hatte er gelernt.

Er hielt die Hände unter das kalte Wasser aus dem Hahn und rieb sie lange und intensiv mit Seife ein. Die Kälte tat gut. Er schlug sich mit beiden Händen Wasser ins Gesicht, was ihn noch klarer machte. Ohne den Wasserhahn abzudrehen, zog er mehrere Papierhandtücher aus dem Spender. Einige fielen zu Boden, er ließ sie dort liegen und trocknete sich mit den anderen das Gesicht. Anschließend zog er weitere Tücher heraus, knöpfte sich das Hemd auf und fuhr sich damit unter die Achseln. Er stopfte das benutzte Papier in den überfüllten Abfalleimer, schloss das Hemd.

Er drehte den Wasserhahn zu. Ein Kaffee noch und es würde gehen, sagte er sich. Auch wenn die Welt hinter dickem Panzerglas lag.

Er stieß die Tür zum Flur auf, Mäuser war verschwunden. Ein kleiner Umweg zur Kaffeemaschine, dann konnte der Tag beginnen.

„Hast du schon gelesen?“, rief einer, als er in die kleine Küche trat. Mäuser. Er saß mit einer halb vollen Tasse am Tisch, die Beine übereinandergeschlagen.

Verdammt, dachte Plossila und blickte auf die Zeitung, die sein Kollege hochhielt.

„Nein, was?“

Mäuser stutzte, blickte ihn kritisch an. „Schlechten Traum gehabt, Plossila? Oder immer noch sauer, dass du deinen Urlaub unterbrechen musstest?“

„Dachte nur, du bist Land unter. Freut mich, dass du dennoch Zeit für ein wenig Lektüre hast.“

Mäuser knallte die Zeitung auf den Tisch, die Stuhlbeine quiekten über den Plastikboden.

Mäuser stand auf. „Zu wissen, was über einen in der Zeitung steht, sollte Teil der Arbeit eines Polizisten sein, findest du nicht?“ Er schob sich an Plossila vorbei und verließ grußlos die Küche.

„Jetzt sei doch nicht so ein Sensibelchen!“, rief ihm Plossila hinterher, aber der Kollege war schon verschwunden.

Plossila schenkte sich Kaffee ein. Das hast du ja ganz hervorragend gemacht, dachte er bitter. Er legte seine trockenen, aufgeplatzten Lippen an die Tasse, nippte an der bitteren Flüssigkeit. Er versuchte, sich dabei einzubilden, wie das Koffein seinen Kreislauf in Schwung brachte, wie es durch die Adern pulsierte, wie es die Herzkammern öffnete, wie es durch die Schlagadern strömte und weiter hinauf in das von Feinden umstellte Gehirn. Wie es dort schließlich die meterdicke, gallertartige Masse zu durchbrechen half, die ihn von der Welt trennte, ihn verschloss in diesem eigenartigen Kokon, in dem er sich befand.

Optimismus ist auch eine Einstellung, eine Willensfrage, hörte er Dr. Eberharty sagen. Sie müssen lernen, wieder an ihr Glück zu glauben.

Er trottete über den braunen Teppich in die Richtung seines Büros. Sobald er die Schwelle übertrat, würde er wieder funktionieren, wenn auch nur nach außen, nahm er sich vor. Er glaubte an das Positive, das in diesem Tag lag, und das Koffein würde diese Einstellung allen verfluchten Atomen und Molekülen, aus denen er bestand, einimpfen.

Soweit der Plan.

Im Büro warteten Dollerschell und Jenny bereits auf ihn. Jenny saß auf seinem Platz und sprang auf, als sie ihn eintreten sah. Er stellte seine schwarze, abgewetzte Arbeitstasche unter den Schreibtisch, schaltete wie automatisch den dort stehenden PC ein. Dann platzierte er die Kaffeetasse seitlich neben dem Telefon und ließ sich erschöpft in den Bürostuhl fallen.

Statt eines Grußes hob er die Hand, das musste einfach reichen, mehr Formalitäten waren aus ihm nicht herauszukriegen.

Dann fiel ihm auf, dass Dollar nicht wie üblich in Sakko und Hemd angetreten war. Er trug einen Kapuzenpulli, an dessen linker Seite in etwa auf Brusthöhe eine grüne Schnullerkette baumelte. Im Arm hielt er ein Baby, das in einem rosaroten Schlafanzug steckte, den Kopf hatte das Kleine auf seine Schulter gelegt. Eine Sabberstelle zeigte an, dass es ein Revier vom Hals bis zum Oberarm beanspruchte.

Dollerschell sendete seinem Chef einen entschuldigenden Blick. „Tut mir Leid, Doris musste dringend zum ... zum Yoga, sie sagt, es geht nicht anders, sie holt die Kleine mittags wieder ab. Ich habe ihr gesagt, das funktioniert so nicht, aber sie macht in letzter Zeit einen etwas gestressten Eindruck, sie ist wohl auch ein wenig kaputt. Die Kleine schläft schlecht und sie muss sie mehrmals füttern nachts, da ...“

„Da kannst du nichts machen“, sagte Plossila und ließ eine Pranke auf dem Tisch fallen, „wenn die Mamis das sagen, ist es Gesetz, nicht wahr?“ Er presste sich aus seinem Stuhl, schritt um die zusammengeschobenen Schreibtische herum. „Ich kenne die Kleine ja noch gar nicht. Wie alt ist sie jetzt? Acht Monate?“

„Siebeneinhalb, ja“, sagte Dollerschell und nahm das Köpfchen des Mädchens von der Schulter, um sie Plossila zu zeigen. Dieser hielt ihr seinen kleinen, speckigen Finger hin, den die Kleine sofort dankbar annahm, um darauf herumzukauen.

„Na, ganz der Papa, würde ich sagen.“ Plossila blickte in das leicht übermüdete Gesicht seines Kollegen und dann wieder auf das Kleinkind. „Katja, oder?“

„Katharina“, verbesserte Dollerschell.

Er musste für einen Moment an seine eigene Tochter denken. Carla war jetzt sechs Jahre alt. Kaum zu glauben, dass auch sie einmal so ein hilfloses, kleines Bündel gewesen war. Vor sechs Jahren hatte er noch gedacht, er würde einmal ein typisches, zufriedenes, ja, fast spießiges Familienleben führen. Rebecca und er waren einmal glücklich gewesen. Carla war ihr Wunschkind und trotz der ganzen Anstrengungen, welche die Kleine mit sich brachte, erlebten sie damals doch ihre beste Zeit. So hatte er zumindest gedacht. Doch irgendwann hatte Rebecca vor ihm gestanden, und gesagt, dass sie es einfach nicht mehr aushalte. Das sei kein Leben mit ihm, einfach kein Leben.

Plossila streichelte der Kleinen über den Kopf, sie hatte bereits einen offenen Blick und schaute ihn angestrengt an. Plötzlich wand sie sich, hob das Becken an, ihre kleine Oberlippe zitterte ein wenig, dann gab es ein Blubbergeräusch. Katharina schaute erst überrascht, dann hellte sich ihre Miene auf. Plossila hielt seine Nase an den Schoß des Babys, das die Nase sofort mit seinen kleinen Fingern umgriff. „Ich glaube, deine Tochter hat ein Geschenk für dich, Dollar“, sagte er und ersetzte seine Specknase wieder durch seinen Speckfinger.

„Du meinst doch nicht ...“ Jetzt hob Dollar ihren Schoß vor seine Nase. „Auch das noch, sorry, tut mir leid.“ Wie mechanisch stand er auf, die Lehne des Stuhls krachte mit Krawumm gegen die Rückwand. Dollar schob sich an Plossila vorbei, strebte hektisch Richtung Ausgang.

„Wo willst du hin? Einen Wickelraum gibt’s nicht im Präsidium, so modern sind wir hier noch nicht.“

„Ach ja, natürlich, ich ...“ Dollar blickte sich hilflos im Raum um. Fragend schaute er zu Jenny, als habe sie als Frau eine natürliche Kompetenz bei dem Thema. Doch Jenny hatte sich hinter der verdorrten Yuccapalme versteckt und sah genauso ratlos aus wie diese. „Sorry, Dollar, hab leider nie mit Püppchen gespielt, damals. Ich bin schon froh, wenn ich weiß, wo bei Babys oben und unten ist.“

Plossila gab einen Brummlaut von sich, legte seinen Unterarm auf den Schreibtisch und ließ ihn einmal von links nach rechts über die Platte sausen. Ein kegelförmiger Stiftehalter kippte zur Seite um, spuckte Kugelschreiber, Bleistifte und mehrere dicke Eddings auf den Boden. Dann donnerte ein schwerer Locher metallisch auf den Industrieteppich. Aus dem Augenwinkel sah Plossila noch, wie sich der Plastikdeckel löste und es einen wahren Konfettiregen zu seinen Füßen gab. Die Tastatur von Dollars PC schnitt besser ab: Sie tauchte unter einem leichten Klackern in einen Stapel mit Akten und Papieren ein, während Tacker, Heftklammern und Computermaus einfach nach oben auf Plossilas Schreibtischseite gedrückt wurden.

„So“, sagte der Hauptkommissar, „Wickelunterlage!“

Nachdem die beiden Männer das Baby gewickelt und die Windel im Büroabfalleimer entsorgt hatten, fühlte sich Plossila wie ausgewechselt. Er hatte keine Ahnung, warum, und auch nicht die Zeit, darüber nachzudenken, schließlich hatten sie noch einen Job zu erledigen. Er lief im Zimmer auf und ab, wippte dabei das Baby seines Kollegen im Arm. „Also“, stieß er hervor, „was haben wir?“

„Ich fasse noch einmal zusammen“, sagte Dollerschell: „Kenneth Antony Middleman, 53 Jahre, wurde am Montag, 11. August, gegen 21 Uhr erdolcht. Die Tatwaffe haben wir ...“ Er machte eine kurze Pause, suchte etwas auf seinem Schreibtisch. Schließlich zog er eine Plastiktüte hervor, in welcher der Nazidolch steckte. „Die Tatwaffe. Ein SS-Dolch, der Middleman mitten ins Herz gerammt wurde. Auf dem Dolch befanden sich einige Fingerabdrücke, wir haben sie gesichert, aber keine Übereinstimmungen in der Datenbank gefunden. Zu dem Dolch gibt es zahlreiche offene Fragen: Woher stammt er? Lässt der Dolch auf einen rechtsradikalen Hintergrund der Tat schließen? Wollte uns der Täter damit ein Zeichen geben? Oder wollte er sogar anderen ein Zeichen geben, eine Warnung senden? Außerdem: Die Klinge ist zweiundzwanzig Zentimeter lang. Sie wurde mit voller Kraft in den Leib des Briten gestoßen, die Spitze trat, das hat Isenbarth erst im Labor festgestellt, sogar wieder aus dem Rücken aus. Wie lässt das auf Tat und Täter schließen?“

Plossila lief nach wie vor mit der kleinen Katharina auf dem Arm durch das Zimmer. Das Baby wirkte zufrieden mit seiner frischen Windel und dem Finger des Hauptkommissars im Mund und gab keinen Mucks von sich. Plossila sagte: „Der Täter muss kräftig sein, wenn er den Dolch bis zur anderen Körperseite des Opfers durchgestoßen hat, immerhin sind da ja Knochen, Organe und so weiter. Hat Isenbarth noch etwas gefunden, was auf einen Kampf hindeutet ...?“

„Nein, bisher nichts dazu aus dem Labor.“

„Angenommen, ich will so einen Dolch haben – wo bekomme ich so was?“, fragte Jenny.

„Im Internet?“, fragte Dollerschell rhetorisch. „Der Handel mit Nazidevotionalien ist ja nicht strafbar, solange man die Hakenkreuze abklebt und die SS-Runen.“

„Da gibt’s doch diesen Laden hier in Fürstenfeldbruck, ihr wisst schon, über diesem Freizeitbad, wie heißt das?“, fragte Plossila.

„Amper Oase“, warf Jenny ein.

„Genau, oberhalb der Amper Oase die Landsberger rein, da ist so ein Laden, der hat auf jeden Fall Waffen und auch so alten Krempel, ob Nazidolche dabei sind, weiß ich nicht, aber wir sollten dem mal einen Besuch abstatten.“

„Guter Punkt“, sagte Dollar und legte das Messer wieder auf den Schreibtisch. Er platzierte es genau auf einem noch mit Babykacke beschmierten Wattepad, das er offenbar übersehen hatte, als er eben das Reinigungsmaterial entsorgt hatte. „Verflucht!“, stieß er aus und begann fieberhaft nach den Feuchttüchern in seiner Wickeltasche zu suchen. Sie stand genau auf dem Platz, wo er sonst seine Arbeitsmappe positionierte. Während er schließlich die Plastiktüte abwischte, sagte er: „Über den Hintergrund Middlemans muss ich ja nichts mehr sagen, ihr habt ja sicherlich alle den Zeitungsartikel gelesen ... Plossila?“

„Ja, ja klar, habe ich gelesen. Aber falls ihr noch irgendwo eine Ausgabe findet, ich glaube, die Kleine hier kennt noch nicht alle Details.“

Dollar blickte seinen Chef irritiert an und wenn Plossila das richtig sah, tauschte er mit Jenny einen abfälligen Blick aus. Jenny hatte mittlerweile ihren sicheren Platz hinter der Yuccapalme verlassen und sich auf den gelben Plastikball gesetzt, den irgendjemand einmal beim Materialservice geordert hatte, um seine Rückenschmerzen in den Griff zu bekommen. Dollerschell sagte: „Laut diesem Journalisten deutet alles in die Richtung von Neonazis.“

„Nicht auszuschließen, dass hier einer eine falsche Spur legt, es wäre nicht das erste Mal“, gab Plossila zu bedenken.

Jenny meldete sich zu Wort: „Die Zeugenbefragung im Altersheim brachte aber ein ähnliches Bild. Karl Donhofer, kennt den jemand?“

Die beiden Männer schüttelten den Kopf, das Baby gluckste, weil Plossila ihm immer wieder den Finger wegzog und hinhielt.

„Der war mal Kommissar bei uns, muss aber schon länger her sein. Nachkriegszeit oder so. Jedenfalls hat dieser Donhofer Middleman mit Skinheads im Alten Hasen gesehen. Einer hatte eine Totenkopftätowierung. Bei dem Opfer haben wir ein T-Shirt der Gruppe Combat 18 gefunden, die auch in dem Artikel erwähnt wird. Ihr Logo besteht ebenfalls aus einem Totenkopf. Nicht auszuschließen, dass das der Grund war, warum Middleman hier war: eine Besprechung einer bestimmten Nazigruppierung, um eine internationale Geschichte zu vereinbaren.“

Frage Nummer Eins: Was machte Middleman hier in Deutschland, ging es Plossila durch den Kopf. Er wusste nicht, was Combat 18 war, aber wenn er Gesinnungsgenossen getroffen hatte, konnte diese Besprechung der Grund für seine Reise nach Landsberg sein. Verdammt, er musste wissen, was in dem Artikel stand. Er sagte: „Gut, die Nazis treffen sich im Alten Hasen. Doch warum sollte einer den anderen umbringen? Kam es zu einem Streit?“

„Darüber haben die Zeugen leider nichts gesagt.“

„Was ist mit Esch – er muss die Gruppe auch bemerkt haben. ‚Ich will keinen Ärger haben‘, hat er gesagt. Jetzt wissen wir warum: Diese Jungs sind in der Lage, eine Menge Ärger zu machen. Wir müssen ihn noch mal ins Gebet nehmen. Dollar, kannst du das erledigen? Jenny und ich hatten wenig Glück. Und: Was wissen wir über Nazis in der Region, Dollar?“

Das Kind jauchzte vor Freude und Plossila hatte das Gefühl, Dollerschell schaue ein wenig eifersüchtig zu ihm und seiner Katharina herüber. „War ruhig in letzter Zeit, glaube ich ...“, sagte er.

„War da nicht was mit einem Grünen-Politiker neulich?“, fragte Jenny.

„Ach ja, stimmt, die Kollegen haben da ermittelt. Ich glaube, es gab eine Nazidemonstration auf dem Hauptplatz von Landsberg, ein Grünen-Politiker hatte ein Schild hochgehalten mit Nazis raus, was die da halt immer so haben. Und dann hat er einen Schlag ins Gesicht bekommen, musste ins Krankenhaus.“

„Und die Polizei? Die muss doch da gewesen sein, wenn es eine Demo gab“, sagte Jenny.

„Ja, ja, waren da.“

„Und?“

„Die haben dem Grünen-Politiker das Plakat abgenommen.“

„Und der Schläger?“

Dollerschell atmete laut und vernehmbar aus. „Der war dann weg.“

„Meisterleistung“, sagte Jenny.

Dollar zuckte mit den Schultern. „Ich recherchiere mal, was es in letzter Zeit an rechtsradikalen Aktivitäten gab und wo die Hauptnester sind. Wir sollten das Thema nicht unterschätzen, diesen Fehler haben andere vor uns gemacht. Stichwort NSU-Skandal.“

Plossila nickte. „Dollar, noch mal zurück zum Tatort, was gab‘s da noch an Zeugenaussagen, als wir weg waren?“

„Ach ja, das ist interessant: Der Büroangestellte einer Computerfirma, die sich gleich gegenüber dem ehemaligen Autohaus befindet, gibt an, dass er beinahe von einem Wagen mit Anhänger umgefahren worden ist, als er nach Hause ging.“

„Wann war das?“

„Kurz nach neun, würde also passen. Der Wagen soll aus einer Parkbucht vor dem Autohaus gefahren sein. Allerdings kann er sich nicht an das Modell des Autos erinnern. Etwas Kleineres, meint er, vielleicht Golf oder Skoda, er wusste es nicht genau.“

„Wir sollten dieser Autovermietung einmal einen Besuch abstatten“, sagte Jenny und wippte ungeduldig auf ihrem Ball umher.

„Könnte ich heute Nachmittag übernehmen“, sagte Dollerschell.

„Was ist eigentlich mit dem Namen auf der Rechnung dieses Autohauses. Der, die wir im Alten Hasen gefunden haben? Hattest du nicht gesagt, dass dir der Name etwas sagt, der hinten drauf gekritzelt war?“

Plossila hatte gestern nicht mehr erklärt, woher er Adrian von Dost kannte. Er wollte auf Nummer sicher gehen und den Namen abends zunächst bei Google eingeben. Aber er hatte sich nicht getäuscht, die Suchergebnisse ließen keinen Zweifel zu. Er blickte zu Jenny. „Adrian von Dost ist einer dieser rechten Strippenzieher. Er saß ein paarmal im Knast wegen kleinerer Gewaltdelikte, hält sich aber in letzter Zeit vornehm im Hintergrund, sieht sich als Kopf der Bewegung, wenn du so willst. Wir sollten ihn so bald wie möglich in die Mangel nehmen, aber vorher will ich noch etwas mehr über die Hintergründe wissen, vor allem über diesen Dolch.“

„Wenn er der Kopf dieser Bande ist, passt er vielleicht zu der Beschreibung, die mir der alte Kommissar aus dem Altenheim gegeben hat. Hat Dost so eine Föhntolle?“

„Wo du es sagst – könnte tatsächlich sein.“

„Dann wissen wir schon mal, mit wem Middleman noch kurz vor seinem Tod gesprochen hat.“

„Wir sollten dennoch ein kleines Memo zusammenstellen, über die aktuellen Aktivitäten der Rechtsradikalen in den angrenzenden Landkreisen. Dollar, kannst du das ebenfalls übernehmen?“

„Muss es wirklich ein Memo sein? Reicht es nicht, wenn wir unseren Experten in Sachen Extremismus befragen oder ihn kurz referieren lassen?“, fragte Dollerschell.

„Auch gut, wer sitzt derzeit auf dem Thema?“

„Mäuser.“

Plossila zuckte leicht zusammen, als er den Namen seines Kollegen hörte. Er war heute Morgen nicht gerade freundlich mit ihm umgegangen, nicht auszuschließen, dass Mäuser eine Entschuldigung erwartete oder zumindest eine Erklärung. Das Baby in seinem Arm schien seine Nervosität zu spüren, wurde ebenfalls unruhig und begann, unregelmäßige Quieklaute auszustoßen.

„Gut, dann soll er das tun. Hier ist deine Kleine ...“ Plossila schob das Baby auf den Arm seines Vaters, wo es von alleine den Schnuller fand, der nach wie vor an einem grünen Band von Dollars Pullover baumelte. Es war augenblicklich still. „Jenny und ich werden zu diesem Waffenhändler in der Landsberger fahren und schauen, was sich da ergibt.“ Er blickte auf das Kind: „Wenn ich das richtig verstanden habe, kannst du ja bis mittags ohnehin schlecht weg.“

Die Antik- und Waffenloge lag etwas von der Straße zurückgesetzt, ein weißer Stuhl stand seitlich vor der Tür, die dennoch geschlossen war. Das Schaufenster wurde von einer schellackpolierten Kommode mit bauchigen Schubladen und verzierten Beschlägen eingenommen, daneben befand sich eine Vitrine, die aus Plossilas Sicht allerlei Nippes enthielt: geblümte Vasen, grün angelaufene Münzen, ein Marmor-Pferd, das auf den Hinterbeinen stand, goldgerahmte Eierbecher, kleine Tässchen und schwarze Figuren mit roten Mützen, die offenbar Mohren darstellen sollten. Waffen sah Plossila fürs Erste nicht.

Er rüttelte an der Tür, doch schien sie abgeschlossen. „Komisch, lässt seinen Stuhl hier draußen stehen und macht die Biege“, sagte er.

Jenny legte eine Hand an die Scheibe und blickte hinein. „Da hinten tut sich was.“

Plossila sah, wie im Inneren ein Licht eingeschaltet wurde, ein dunkler Schatten fiel auf die Auslage hinter der Glasscheibe, dann zog jemand einen grünen Samtvorhang zur Seite, Glöckchen bimmelten. Die Tür öffnete sich.

„Entschuldigen Sie, ich musste nur kurz etwas erledigen. Warten Sie schon lang?“

Vor ihnen stand ein kleiner weißhaariger Mann, dessen Haare nach rechts abstanden, als herrsche Wind von links. Er trug einen marineblauen Pullover, über dessen Ausschnitt sich der Kragen eines olivgrünen, verwaschenen Polohemds krümmte. Plossila konnte sich nicht helfen, doch der Mann wirkte auf ihn wie eine vertrocknete Pflanze.

Plossila hielt ihm seine Marke unter die Nase. „Kriminalpolizei Fürstenfeldbruck, wir müssten kurz mit Ihnen sprechen.“

Der Mann betrachtete die Marke. „Und ich dachte schon, Sie wären ein Kunde. Sie wären der erste gewesen heute. Aber bitte, kommen Sie rein!“

Sie folgten dem Mann in den Laden. In Plossilas Blick fiel ein gedrungener Schrank mit eigenartigen Schnörkeln, auf dem ein kleines Schild angebracht war. „Louis Philippe, 1.300 Euro“, murmelte er vor sich hin. „Alle Achtung.“ Plossila hatte keine Ahnung von Antiquitäten, aber dass ein so kleiner Schrank, der mit Sicherheit schon den Holzwurm zu Gast hatte, so teuer war – damit hätte er nicht gerechnet. Er schritt weiter in den röhrenartigen Raum hinein, in dessen Flucht eine geöffnete Tür zu sehen war, die in eine Werkstatt zu führen schien, jedenfalls glaubte Plossila, eine Werkbank zu erkennen. Linker Hand befanden sich ausschließlich Weichholzmöbel, die meisten von ihnen lieblos mit weißem Lack überpinselt. Auch von diesen Möbeln war keines unter eintausend Euro zu haben.

„Dann ist das hier wohl Shabby-Chic“, sagte Jenny und strich mit ihrer Hand über das Aufsatzstück eines Büfettschranks mit gedrechselten Säulen.

Der alte Mann drehte sich um, seine wässrigen Augen weiteten sich leicht. „Sie scheinen sich offenbar ein wenig auszukennen, Frau Kommissarin.“

„Oberwachtmeisterin“, sagte Jenny und hob die linke Augenbraue.

Plossila war überrascht, er hätte nicht gedacht, dass seine Kollegin ein Faible für Antiquitäten hatte, doch erinnerte er sich an ihren letzten Fall. Seinerzeit hatte sie sich schon als Kennerin klassischer Musik erwiesen. Sie war wirklich immer wieder für eine Überraschung gut. Er wendete sich dem Mann zu. „Wir kommen nicht wegen der Antiquitäten, sondern hatten gehofft, Sie handelten auch mit alten Waffen“, sagte er.

Der Mann drehte sich kurz zu Plossila um, setzte dann den Weg zur Kasse fort. Es war eine alte Kasse mit rotem Holzfurnier, zahlreichen undefinierbaren Knöpfen und einer Kurbel an der Seite. Sie stand auf einem Holztisch mit Intarsien und geschnitzten Löwenköpfen am oberen Ende der Tischbeine. Er ging um den Tisch herum, stellte sich neben einen Stuhl mit geflochtener Sitzfläche, blieb aber stehen.

„Waffen, ja ... Ich habe damit angefangen, damals. Mit alten, unbrauchbaren Dekorationswaffen und Möbeln. Wegen der Waffen habe ich aber Ärger bekommen, da ist ein Kindergarten die Straße hoch, Eltern haben sich immer wieder beschwert. Also habe ich Waffen und Militaria ausgelagert. Zuerst in meine Wohnung ... das komplette Haus gehört mir, die Wohnung liegt also direkt über dem Ladengeschäft, was praktisch war ...“ Er blickte andächtig zur Decke hinauf. „Danach habe ich aber einen Großteil in ein externes Lager verbracht, ich wollte nicht mit den Büsten der Diktatoren im Wohnzimmer leben, wenn Sie verstehen, was ich meine. Wer Interesse daran hat oder etwas Bestimmtes sucht, kann mich im Laden kontaktieren, und wenn ich es im Lager habe, bringe ich es hierher.“ Er sah Plossila erwartungsfroh an. „Suchen Sie etwas Bestimmtes?“

Plossila zog die Tüte mit dem SS-Dolch hervor. „Wir wollten Sie eher um Ihre Einschätzung als Experte bitten.“ Er nahm den Dolch aus der Tüte. „Haben Sie so etwas schon einmal gesehen?“

Der Mann nahm den Dolch, spitzte leicht die Lippen, als schmecke er eine Soße ab, dann legte er die Waffe auf den Tisch. Er schob eine Hand unter den Pullover, begann, sich die Brust abzutasten, und zog dann eine eingeklappte Lesebrille heraus. Mit der Brille auf der Nase nahm der den Dolch erneut auf, spitzte wieder die Lippen. Nach einer Weile des Guckens und Spitzens sah er auf: „Es ist ein SS-Ehrendolch, mit ziemlicher Sicherheit ein Original.“

„Kommt er Ihnen bekannt vor?“

„Hm, ein Dolch wie dieser ...“ Er drehte ihn vorsichtig um, besah ihn von der Seite, besah ihn von oben, von unten. „Es sind viele SS-Dolche im Umlauf, auch eine Menge Fälschungen. Sie müssen bedenken, dass allein für die SA rund drei Millionen Dolche gefertigt wurden, für die SS kamen noch einmal rund 250.000 Dolche hinzu. Den Ehrendolch gibt es seit 1933, spätestens seit 1936 sogar für alle Dienstgrade. Er wurde immer am 9. November verliehen, das ist der Jahrestag des missglückten Hitlerputsches. Sie wissen ja, dass Hitler aufgrund dieses Putsches hier bei uns ganz in der Nähe in Festungshaft saß, in Landsberg. Vielleicht ist der Dolch deshalb auch bei den Ewiggestrigen gerade in unserer Region recht beliebt. Aber, auch das muss man sagen: So etwas kaufen nicht nur Nazis, auch viele Sammler, die alles Mögliche sammeln. Manche Männer haben eine dunkle Freude daran, etwas so Dämonisches wie einen SS-Dolch zu besitzen, eine Waffe, mit welcher der Teufel höchstpersönlich ausgestattet war, wenn Sie verstehen. Es ist ja auch nicht illegal, damit zu handeln.“ Er blickte vorsichtig zu den Polizisten auf.

„Herr, äh ...“, sagte Plossila.

„Rheser“

„Herr Rheser, wir wissen, dass der Handel mit Stücken dieser Art legal ist. Es geht uns auch nicht darum, etwaige illegale Handelspraktiken aufzudecken. Bitte sagen Sie uns ganz einfach, was es mit diesem Dolch auf sich hat.“

Er nickte, eine gewisse Spannung schien aus seinem Körper zu weichen. „Dieser spezielle Dolch?“ Er legte den Dolch vor sich auf den Tisch, drehte ihn erneut um, starrte ihn eine Weile an. „Nun, er hat den üblichen schwarzen Schaft aus Ebenholz, in den eine emaillierte SS-Rune und der silberne Reichsadler eingelassen sind. Parierstangen, Schrauben et cetera sind aus Nickel. Dass der Träger einen hohen Rang hatte, sieht man an der Inschrift des Blatts: In herzlicher Kameradschaft, H. Himmler ist dort eingelassen, das ist bei Weitem kein Normalfall. Aller Wahrscheinlichkeit nach wurde die Waffe von Himmler persönlich überreicht.“

Er blickte wieder auf, presste dann die Lippen zusammen, als halte er noch eine wichtige Tatsache zurück. Dann sah er erneut auf die Waffe, strich mit einem Finger darüber, auf dem ganz leichte Sägespäne lagen, wie Plossila erst jetzt auffiel. Er hob den Dolch an, blickte auf den Schaft. „Oberhalb des Griffknebels finden sich römische Nummern, die von Hand eingeschlagen wurden und die den Dolch seinem persönlichen Besitzer zuweisen.“ Er strich fast zärtlich über die Nummer auf dem Knebel. „Vielleicht ...“

„Das heißt, Sie können uns sagen, wem der Dolch gehört hat?“, platzte es aus Jenny heraus. Mit offenem Mund blickte sie auf den Mann.

Er holte tief Luft. „Normalerweise gelingt das nicht immer, weil nicht alle Register den Krieg überdauert haben und ich auch keinen Zugriff auf diejenigen habe, die es noch gibt. Außerdem werden die Dolche in den meisten Fällen den ursprünglichen Besitzer gewechselt haben. Das ... das ist auch bei diesem Dolch der Fall.“

„Wie können Sie sich da so sicher sein“, fragte Jenny.

„Weil ich ihn ... aller Wahrscheinlichkeit nach selbst verkauft habe. Wenn Sie einen Augenblick Geduld haben?“ Er setzte sich jetzt doch auf das Stuhlgeflecht und zog eine Schublade unter der Tischplatte heraus. Dann offenbarte er eine Liste, legte diese auf den Tisch. Er fuhr mit seinem Finger verschiedene Spalten der Liste ab, warf immer wieder einen Blick auf die Nummer des Dolchs und sah zurück auf die Liste. Dann sagte er: „Ja. Ja, das ist er.“

Jenny hatte ihre Hände auf den Intarsientisch gelegt und beugte sich über die Kasse hinweg, um mit auf die Liste schauen zu können. Mit ernster Miene fixierte sie abwechselnd den Mann, dann die Liste. Auf ihrer Stirn hatte sich eine bedrohliche Falte gebildet. „Was ist er?“

„Es ist ein spezieller Dolch. Er gehörte Oswald Pohl.“

Er sagte lange nichts, blickte aber die beiden Polizisten stumm an, wollte offenbar seine Worte wirken lassen.

Jenny brachte ihren Oberkörper wieder in die Vertikale, ließ ihre Finger aber nach wie vor auf dem Tisch liegen. „Wer ... Wer ist Oswald Pohl?“

„Sie kennen Pohl nicht?“ Rheser schob die Schublade unter einem Rumms zu und blickte zuerst zu Jenny, dann fragend zu Plossila.

Plosslia schüttelte den Kopf.

Rheser stand auf, trat hinter den Stuhl, den er wie zum Schutz zwischen sich, den Tisch und die Beamten schob. Er strich sich über sein nach rechts wehendes Haar, doch es war störrisch und blieb dort, wo es war. „Angeblich soll man sich ja an nichts erinnern können, was vor dem vierten Geburtstag liegt“, sagte er in einem anderen fast melancholischen Ton, „und deshalb bilde ich es mir vielleicht nur ein. Vielleicht liegt es an dem Foto, das ich davon habe: Ich auf den Schultern meines Vaters, der vor dem Alten Rathaus mit der Rokokofassade in Landsberg am Lech steht, zusammen mit viertausend anderen Landsbergern, also fast einem Drittel der damaligen Bevölkerung.“ Er machte eine kurze Pause, seine faltigen Hände kneteten die Stuhllehne. „Vielleicht erinnere ich mich daran, weil es die einzige Demonstration war, an der ich jemals teilgenommen habe, ich weiß es nicht. Aber ich glaube, dass mein Vater mich mit der linken Hand festgehalten hat, am linken Bein, das bis zur Brust seines grauen Mantels baumelte. Auf dem Foto ist klar zu erkennen, dass mein Vater als einziger keinen Hut trug, ich aber eine Mütze. Es war kalt damals im Januar 1951, der Wind zog eisig in mein Hosenbein, in den Straßenecken und auf den Dachschindeln lungerte noch der Schnee. Die andere Hand hielt mein Vater, und das sieht man jetzt nicht auf dem Foto, aber daran erinnere mich einfach, auch wenn ich erst drei Jahre alt war damals ... Die andere Hand hielt er in Richtung des Podiums und schrie Juden raus!“.

Er verstummte, blickte kurz zu Boden, wie aus Scham. Plossila hatte das Gefühl, er sollte etwas sagen, wusste aber nicht, was. Wie immer, wenn es entfernt um das Thema des menschlichen Zerfalls ging, wurde ihm ganz schwummrig. Er versuchte, sich Rheser als dreijährigen Jungen vorzustellen, und fragte sich, ob es aus seiner Sicht die sechzig Jahre wert gewesen waren, die zwischen dem Jungen und dem älteren Mann lagen, der jetzt hier mit wässerigen blauen Augen vor ihm stand. Er wusste, dass er gedanklich abdriftete, doch hatte er ohnehin nicht das Gefühl, dass ihn die Erinnerungen Rhesers in diesem Fall weiterbringen konnten. Er blickte zu Jenny, die seitlich vor ihm in Front des Tisches stand. Sie sah die Sache offenbar vollkommen anders, denn sie blickte ihn gebannt an, fast wie hypnotisiert hing sie an seinen Lippen.

Rheser fuhr fort: „Ich wusste nicht, warum er das schrie, ich hatte auch keine Ahnung davon, was es zu bedeuten hatte damals. Später habe ich nachgelesen, dass es während der Kundgebung zu einer Art Gegendemonstration gekommen war, von sogenannten Displaced Persons, die es nach Kriegsende überall in der Gegend gegeben hatte. Ehemalige Zwangsarbeiter, die hier in den Bunkeranlagen für den Bau der ersten Überschallflugzeuge geschuftet hatten, natürlich waren viele Juden darunter. Die eigentliche Demonstration aber hatte das Ziel einer Amnestierung von sieben Kriegsverbrechern, die hier im Todestrakt der Festung Landsberg auf ihre Hinrichtung warteten. Einer von ihnen war Oswald Pohl.“

Rheser legte eine erneute Pause ein, musterte seine Zuhörer. Dann fiel sein Blick auf seine Hände und er begann damit, sich die Sägespäne von den Fingern zu streichen. „Oswald Pohl hatte eine Bilderbuchkarriere im NS-Staat hingelegt. Als ehemaliger SA-Mann hatte ihn Himmler höchstpersönlich zur SS geholt. Er hatte es bis zum SS-Obergruppenführer und General der Waffen-SS gebracht und war später Leiter des SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamtes gewesen. Damit war er einer der maßgeblichen Schreibtischtäter, welche die Vernichtung der Juden organisiert hatten. Er war es, dem die Konzentrationslager unterstellt waren, und nach allem, was man weiß, hat er dafür gesorgt, dass die dort Internierten verstärkt und ohne Gnade für die Rüstungsproduktion arbeiten mussten. Trotz dieser unbestreitbaren Tatsachen hat man sich Anfang der Fünfzigerjahre in großen Bevölkerungsteilen für Pohl eingesetzt. Über 600.000 Unterschriften für eine Gnadenpetition wurden in Deutschland gesammelt und ins Weiße Haus geschickt, die Deutschen sprachen plötzlich von Siegerjustiz und fanden sich als Opfer wieder. Dennoch kam weder von dort noch vom damaligen Landsberger Hochkommissar McCloy ein entsprechender Gnadenakt. Pohl wurde im Juni 1951 in Landsberg gehängt und anschließend auf dem Friedhof der Namenslosen beerdigt, da seine Heimatgemeinde die Überstellung des Leichnams ablehnte. Auch fünfzig Jahre später war die Geschichte nicht zu Ende, denn die bayerische Justiz stattete das Grabkreuz des Generals der Waffen-SS zu seinem Angedenken mit einem neuen Kupferdach aus, das Grab selbst wurde feierlich mit Blumen geschmückt ... Tja.“ Er zuckte mit den Schultern. „Warum ich Ihnen das alles erzähle? Weil jemand, der sich für den Ehrendolch dieses Mannes interessiert, nicht irgendwer sein kann. Die 9.000 Euro, die ich für die Waffe veranschlagt hatte, zahlt nur jemand, der sich in der geistigen Nachfolge dieses Verbrechers sieht.“

„Was ist denn der übliche Preis für eine Waffe wie diese?“, warf Jenny ein, die den alten Mann nach wie vor gebannt ansah.

„Ich würde sagen, maximal 2.000 Euro. Der Restwert geht allein auf den Geist des Trägers zurück. Es ist wie mit einer Jacke von Elvis, die vielleicht einen Materialwert von 200 Euro hat. Dadurch, dass Elvis sie getragen hat, ist sie auf einmal 20.000 Euro wert.“

„Was?“, warf Jenny ein und blickte wie versteinert auf Rheser. „Nur weil der Dolch diesem Typen gehört hat, den heute keiner mehr kennt, kostet der gleich fünfmal soviel? Was würde der denn kosten, wenn er Hitler gehört hätte?“

Ein eigenartiges Lächeln schwappte über Rhesers Gesicht, das Plossila nicht zuordnen konnte. War es abschätzig? Triumphierend? Oder einfach nur irgendwie wissend?

„Wenn ein Dolch wie dieser Hitler gehört hätte?“, wiederholte Rheser Jennys Frage, „dann würde ihn erst einmal die bayerische Landesregierung einfordern und wahrscheinlich in irgendeiner Asservatenkammer verstecken, die für die Bevölkerung nicht zugänglich ist. Aber angenommen, das Land Bayern hätte kein Interesse daran. Dann würde ich den Dolch sicherlich entweder an einen Sammler in die USA oder nach China verkaufen. Und weniger als 80.000 bis 90.000 Euro würde ich als Preis nicht akzeptieren.“

„Aber wieso sollte irgendjemand so viel Geld für ein bisschen Ebenholz und Nickel ausgeben, das ist doch absolut unlogisch.“

„Mit Logik hat es wenig zu tun, da gebe ich Ihnen recht. Dennoch ist das Geschäft mit denjenigen Dingen, die einer hochrangigen oder berühmten Person gehörten, eines der Ältesten überhaupt. Schon im Mittelalter wurden Vermögen für die Reliquien von Heiligen gezahlt. Ganze Dome hat man errichtet, um diese Schätze angemessen zu präsentieren. Eine persönliche Waffe Hitlers kann eine Menge wert sein. Hitler hat viele Fans und er wird mehr und mehr zu einer historischen Figur, der etwas Magisches anhaftet.“

„Das ist doch nicht zu ...“

Plossila wurde unruhig und fiel Jenny ins Wort: „Lassen Sie uns auf den Dolch zurückkommen. An wen haben Sie ihn denn nun verkauft?“

Augenblicklich nahm sein Gesicht den Ausdruck feierlichen Ernstes an. Er nahm seine Brille ab und fingerte sie wieder in die Tasche seines Polohemdes. Er legte eine Hand zurück auf die Stuhllehne, trat einen Schritt vor und platzierte die andere Hand auf einem schwarzen Buch, das neben der Kasse lag. „Ich könnte jetzt hier hineinschauen und Ihnen die Überweisungsquittungen zeigen, doch dies wird nicht nötig sein, dazu ist mein Gedächtnis einfach zu gut.“

Er blickte auf, ließ seine Hand aber auf dem schwarzen Buch liegen, wie zum Schwur auf einer Bibel. „Die Rechnung wurde von einer Organisation bezahlt, die sich Wehrsportgruppe Deutschland nennt.“

„Wehrsportgruppe Deutschland“, wieder holte Plossila nachdenklich. „Wann haben Sie den Dolch verkauft?“

„Ich denke, es wird letztes Jahr um diese Zeit gewesen sein.“

Plossila nickte. „Können Sie sich an den Käufer erinnern? Er war doch in ihrem Laden?“

„Ja, mehrmals, ein unangenehmer Mann. Kam in einem neuen, schwarzen Anzug, in dem er wie verkleidet aussah. Dunkle Haare, eine komische Föhntolle. Mitte Vierzig. Draußen vor dem Laden wartete immer ein kleiner Drahtiger mit einer dieser grünen Jacken und Militärstiefeln.“

Jenny wandte sich Plossila zu. „Das müssen die gleichen Männer gewesen sein, die auch Middleman getroffen haben!“

Plossila nickte und verabschiedete sich. Alles schien derzeit auf Adrian von Dost und seine Leute zuzulaufen. Sie würden ihn und diese Wehrsportgruppe ins Zentrum der Ermittlungen rücken, wer weiß, vielleicht hatten sie den Täter früher als gedacht.

„Ach, Frau Oberwachtmeisterin“, rief Rheser ihnen hinterher, „wenn Sie an den Shabby-Chic-Möbeln interessiert sind – die Preise sind natürlich nur Richtwerte und Verhandlungssache.“

Jenny drehte sich auf dem Fußballen um, ging zwei Schritte rückwärts weiter. „Danke Ihnen, aber ich habe davon schon mehr zu Hause, als mir lieb ist.“

Das Eisenzimmer

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